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Ob man krisenfest ist, entscheidet sich vor dem 10. Lebensjahr

Der bevorstehende Schulstart rückt die Kinder in den Mittelpunkt des Interesses. Unweigerlich werden wieder die vielen, einander widersprechenden Theorien über das ideale Bildungswesen aufeinanderprallen. Fernab von diesen Auseinandersetzungen liefert die Gehirnforschung Erkenntnisse, die von allen Konzepten zu berücksichtigen wären.
27.08.2022 09:11
Lesezeit: 5 min
Ob man krisenfest ist, entscheidet sich vor dem 10. Lebensjahr
Ein Kind tanzt in einem bunt beleuchteten Brunnen. Kinder sind Genies - ein Umstand, der früh erkannt werden sollte. (Foto: dpa)

Der bevorstehende Schulstart rückt die Kinder in den Mittelpunkt des Interesses. Unweigerlich werden wieder die vielen, einander widersprechenden Theorien über das ideale Bildungswesen aufeinanderprallen. Fernab von diesen Auseinandersetzungen liefert die Gehirnforschung Erkenntnisse, die von allen Konzepten zu berücksichtigen wären: Die Kinder verfügen in den ersten zehn Lebensjahren über enorme Fähigkeiten. Werden diese genützt, ergeben sich für alle Bildungswege neue Perspektiven.

Kinder sind Genies und können besser denken als Erwachsene

Die Begeisterung von Eltern über erstaunliche Leistungen ihrer Kleinkinder ist erfrischend. Die glücklichen Erzeuger sind prompt überzeugt, dass sie ein Genie zur Welt gebracht haben. Das stimmt tatsächlich. Nur ist das Phänomen kein einzelnes Ereignis, kein spezielles Verdienst des betreffenden Paares, sondern die Regel. Kinder sind Genies. Mit zwei Jahren ist die Menge der Synapsen, also die Zahl der Kontakte der Zellen im Hirn, so groß wie die eines Erwachsenen, mit drei Jahren hat ein Kind bereits doppelt so viele. Allerdings: Mit zehn, elf Jahren geht die Zahl der Synapsen zurück und erreicht im Leben nie wieder den Umfang des Kindesalters. In den ersten zehn Lebensjahren besteht folglich die einmalige Chance, Fähigkeiten zu erwerben, mit denen die Herausforderungen des weiteren Lebens besser gemeistert werden können. Die Kinder müssen sich dabei nicht anstrengen, die Billionen verfügbaren Synapsen lassen sie Dinge, Zusammenhänge, Gedanken spielerisch erfassen. Statt diese Möglichkeiten zu nützen, werden die Kinder in ein Schema gepresst: Sie seien eben klein, sollen also die Spiele spielen, die die Erwachsenen für kindgerecht halten, auch würden sie den Ernst des Lebens noch früh genug kennen lernen.

Der „Ernst des Lebens“ muss nicht so ernst ausfallen, wie man glaubt

Der so genannte Ernst des Lebens, der generell negativ besetzt wird, wäre allerdings weit weniger ernst und weit weniger beschwerlich, würde man die erstaunlichen Fähigkeiten in den ersten Lebensjahren nützen. Konnte das Kind in den ersten Lebensjahren erfahren, wie spannend und aufregend die Welt ist, dann werden auch die weiteren Herausforderungen nach dem zehnten Lebensjahr positiv erlebt. Der Geistesblitz eines Sprösslings sollte nicht als Wunder gefeiert werden, sondern den Eltern zeigen, dass bereits eine hohe Aufnahmefähigkeit gegeben ist, die zu fördern und zu fordern ist. Die reichhaltig verfügbaren Synapsen machen die Kinder neugierig und so ergeben sich zahllose Ansätze, um das Interesse des Kindes anzusprechen. Weit verbreitet ist schon die Beobachtung, dass kleine Kinder sehr leicht und sehr schnell eine Fremdsprache erlernen. Dieses Phänomen sei stellvertretend für die Vielzahl von Themen genannt, die sich als Angebote an die Kinder eignen.

Computerspiele sind kein Ersatz für Lesefähigkeit

Der Zugang zur Vielfalt des Wissens führt über das Lesen und so ist die frühzeitig erworbene Lesefähigkeit eine entscheidende Voraussetzung, um den Synapsen-Reichtum bis zum zehnten Lebensjahr nützen zu können. Dass Viele im Alter von zehn Jahren nicht sinnerfassend lesen können, macht die Versäumnisse überdeutlich. Dass auch Kleinkinder schon Computerspiele beherrschen, lässt die Illusion entstehen, dass der Geist auf diese Weise ausreichend entwickelt werde. Tatsächlich handelt es sich um eine zwar unterhaltsame, aber einseitige Tätigkeit, die zudem von anderen Themen ablenkt. Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen und dem nötigen Rüstzeug wie der Lesefähigkeit steht der Weg zu einem reichhaltigen Erfahrungsschatz offen.

Die „Rationalisierung“ der Synapsen hat fatale Folgen

Die Verringerung der Synapsen-Zahl ab dem 10. Lebensjahr wird durch den so genannten Ernst des Lebens verursacht, der ab diesem Zeitpunkt beginnt. Die Konzentration auf vorgegebene Themen bewirkt, dass man vorrangig bestimmte Synapsen einsetzt, die zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben benötigt werden. Dieses Phänomen beginnt bei den Schulaufgaben, setzt sich in der weiteren Ausbildung und anschließend über die lange Berufszeit fort. Die nicht verwendeten Synapsen sterben ab und stehen folglich nicht mehr zur Verfügung, es erfolgt eine Art „Rationalisierung“. Wurde nicht schon im Kindesalter dafür gesorgt, dass diese Entwicklung gebremst wird, dann erweist sich die Rationalisierung als fatale Behinderung. In der Folge ist man nur schwer in der Lage, flexibel auf Herausforderungen zu reagieren, Krisen im Beruf und im Privatleben zu meistern und beim Übertritt in die Rente neue Perspektiven zu erkennen.

Der problematische Inhalt der Begriffe Karriere und Laufbahn

Nicht zufällig wird für den Begriff Berufslaufbahn auch das Wort „Karriere“ verwendet, das aus dem Reitsport entlehnt ist. Verschiedene Stangen sorgen dafür, dass die Pferde in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Scheuklappen verhindern, dass die Tiere wegen äußerer Ereignisse scheuen. Nicht anders die „Laufbahn“, die die Strecke des Läufers vorzeichnet. In dieser Situation befinden sich die meisten Menschen im beruflichen und im privaten Alltag. Wird der gewohnte Trott unterbrochen, ist man erschüttert. Dabei muss nicht eine existenzbedrohende Veränderung erfolgen, schon die Notwendigkeit, ein neues Computer-Programm zu erlernen, kann als Krise erlebt werden. Aktuell entwickelt sich das berufliche und private Leben im Zeichen ständiger, umfassender Veränderungen und somit ist der Mangel an Anpassungsfähigkeit und Flexibilität besonders belastend.

Mütter, Väter, Opas und Omas mit neuen Perspektiven

Diese Feststellungen lassen sich aus den Erkenntnissen der Gehirnforschung über die Entwicklung der Synapsen ableiten. Die sich daraus ergebenden notwendigen Konsequenzen sind vielfältig. Naheliegend wäre nun ein Appell an die Kitas sowie an die Grund-und Volksschulen, ihr Programm entsprechend umzustellen. Womit allerdings wieder einmal die Gesellschaft eine zentrale Herausforderung nicht annehmen, sondern delegieren würde. Sicher muss auch das Bildungswesen auf die Erkenntnisse der Gehirnforschung reagieren, vor allem gefordert sind aber die unmittelbaren Bezugspersonen der Kinder, die Mütter, Väter, Opas, Omas und andere, die Zeit mit den Sprösslingen verbringen.

In diesem Kreis sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Kleinen nicht beschränkte Wesen sind, sondern im Gegenteil über enorme geistige Fähigkeiten verfügen. Geht man im Bewusstsein dieses Phänomens auf ein Kind zu, entsteht ein grundlegend anderes Verhalten. Die Betreuungsperson wird von sich aus bestrebt sein, dem Kind Anregungen zu vermitteln, und zudem spontan entstehendes Interesse nicht als störend abtun, sondern annehmen und verstärken. Die Beschäftigung mit den Kindern wird zu einem aufregenden und bereichernden Erlebnis. Man wird nicht mehr das Heil im Abschieben der lästigen Fratzen je nach Alter in die vergitterte Krabbelzone, vor den Fernseher, den Computerschirm oder den Fußballplatz suchen. Keine Sorge: Dort landet der Nachwuchs ohnehin in ausreichendem Zeitumfang, auch wenn vorher Stunden mit der geduldigen Hilfe beim Erlernen von Buchstaben oder der Unterstützung beim Zusammenbau eines Feuerwehrwagens verbracht wurden.

Die neue Welt der Kikas, Grund- und Volksschulen

Solange die Gesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt, dass Kinder hochintelligente Wesen mit außerordentlichen Fähigkeiten sind, bringt es wenig, die Kitas, Grund- und Volksschulen in die Pflicht zu nehmen. Zu viele Eltern betrachten diese Einrichtungen als Unterbringungsorte, in denen die Kinder spielen sollen und jenes Leben verbringen mögen, das die Erwachsenen für kindgerecht halten. Der Schutz vor vermeintlichen Überforderungen geht so weit, dass Eltern mit dem Schlachtruf „sie sind ja noch klein“ intervenieren, wenn im Gymnasium oder in der Realschule mühsam versucht wird, die Lesedefizite der Zehnjährigen zu beseitigen.

Diese wichtigen Einrichtungen können sich nur ändern, wenn die Gesellschaft zur Kenntnis nimmt, dass die Kitas und die Grund- und Volksschulen jene Orte sind, wo die Kinder viele Anregungen erhalten und lernen, wie sie ihren Wissensdurst stillen und ihre Abenteuerlust ausleben können. Dann werden die Lehrkräfte und die Eltern zu Partnern, die gemeinsam dafür sorgen, dass die Kinder die nötige Flexibilität entfalten, die sie in den kommenden Jahrzehnten krisenfest machen wird.

Die Klischees der Soziologie auf dem Prüfstand

Die gesellschaftspolitische Umsetzung der sich aus der Gehirnforschung ergebenden Konsequenzen würde die Soziologie zwingen, sich von liebgewordenen Klischees zu verabschieden. Als Kernproblem des Schulwesens wird die Kluft zwischen den Kindern aus „bildungsaffinen“ und „bildungsfernen“ Haushalten strapaziert. Die einen würden es leicht in der Schule und im Beruf haben, die anderen könnten sich aus dem sozialen Korsett nicht befreien. Dass in beiden Bereichen die Kinder in den ersten zehn Lebensjahren vernachlässigt werden, wird übersehen. Die so genannten Bildungsaffinen überhäufen ihre Sprösslinge mit Handys, Computern und anderen Spielzeugen, die sie daran hindern sollen die Eltern zu belästigen, und dafür sorgen, dass die Kinder ihre Umgebung nicht erforschen. Die Bildungsfernen erreichen mit weniger Geld, dass sie von den vermeintlichen Quälgeistern nicht gestört werden.

In einer Gesellschaft, in der die Kleinkinder als das verstanden werden, was sie tatsächlich sind, die Abenteurer, die Querdenker von morgen, kurzum die Zukunft, ist es nebensächlich, ob die Eltern reich oder arm sind, Abitur haben oder nicht, Doktoren sind oder Hilfsarbeiter. In den Kitas, in den Grund- und Volksschulen treffen alle aufeinander, da funktioniert das Konzept der Gesamtschule. Ist es in diesen Einrichtungen selbstverständlich, dass man neugierig ist, die Welt erkunden möchte, lesen kann und auch aufmüpfig nicht immer gehorsam bleibt, dann werden diese Kinder später mit jeder Herausforderung besser umgehen können.

Einen ausgezeichneten Artikel von Martin R. Textor über Synapsen der Kleinkinder findet man unter: [www.kindergartenpaedagogik.de]

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Ronald Barazon

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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