Politik

Wie der Rechtsruck in Europa unsere Demokratie bedroht

Lesezeit: 7 min
01.10.2022 07:57  Aktualisiert: 01.10.2022 07:57
Europas Staaten rücken nach rechts – aus unterschiedlichen Gründen. Es eint der Gedanke, dass ein starker Mann oder eine starke Frau endlich wieder für Ordnung sorgen sollte. Wie wirkt sich das auf Gesellschaft und Demokratie aus?
Wie der Rechtsruck in Europa unsere Demokratie bedroht
In Italien nützt die Sehnsucht nach einem frischen Wind in der Politik nicht nur den Rechten. (Foto: dpa)

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Mit dem Wahlsieg von Giorgia Meloni in Italien ist Europa einen weiteren Schritt nach rechts gerückt. Meloni wird mit Hilfe der schon länger aktiven Rechten, Matteo Salvini von der Partei „Lega“ und Silvio Berlusconi von der „Forza Italia“, regieren. Die Partei der neuen Aufsteigerin, Fratelli d’Italia, hat zwar nur 25,8 Prozent der Wähler überzeugt, die beiden anderen, einst strahlende und nun bescheidene Mit-Sieger, bringen jeweils über 8 Prozent in das Regierungsbündnis ein, womit die Mehrheit im Parlament gesichert ist. In Paris muss Marine Le Pen vor Neid erblassen: Trotz eines sensationellen Wahlerfolgs ist die berühmteste Rechte Europas nicht Präsidentin geworden und hat trotz vieler Mandate im Parlament nur die Möglichkeit, die Regierung unter Emmanuel Macron zu ärgern. Ganz anders steht Viktor Orban in Ungarn da, der mit einer echten Zweidrittelmehrheit uneingeschränkt regiert, Meloni wohlwollend gratuliert und die EU-Spitzen in Brüssel mit Häme übergießt. Ähnlich wie Meloni hatte Jaroslaw Kaczynski in Polen mit seiner PiS lange nur etwa ein Drittel des Wahlvolks hinter sich, konnte aber durch das Wahlrecht, das Sieger belohnt, mit absoluter Mehrheit regieren. Bei der letzten Wahl kam die PiS auf 43,50 Prozent der Stimmen. Im traditionell linksliberalen Schweden haben vor Kurzem die rechtspopulistischen Schwedendemokraten 20,5 Prozent erzielt und werden voraussichtlich als Juniorpartner der Moderaten in der Regierung sitzen.

Die Erinnerung an Franco in Spanien, Hitler in Deutschland und Mussolini in Italien

Welche Schlüsse kann man nun aus diesem Sammelsurium an Gewinnen von Rechtspopulisten ziehen? Und worin bestehen die Beweggründe der Wähler für den Ruck nach rechts? Was sind überhaupt rechte Parteien? Sie erinnern alle in ihrer Wortwahl an die Diktatoren des 20. Jahrhunderts, Franco in Spanien, Hitler in Deutschland und Mussolini in Italien, also sollte man meinen, dass doch niemand eine Wiederholung der Schreckensherrschaft dieser drei Machthaber wollen kann. Die Protagonisten der Rechten distanzieren sich auch eifrig von den Gräueln des 20. Jahrhunderts und beteuern ständig, dass sie missverstanden werden. Also, was wollen die Rechten? Alle sind national, kritisieren die EU, stellen die Demokratie und den-liberalen Verfassungsstaat in Frage, sind ausländerfeindlich, bekämpfen die Zuwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen. Da im Übrigen kaum greifbare Konzepte formuliert werden, muss man sich in der Analyse an diese dürftigen Botschaften halten.

„We make Italien, Frankreich, Schweden usw. great again!“

Und da zeigt sich eines sehr deutlich. Sie wollen den Zustand herstellen wie er einmal war und grenzen sich auf diese Weise von den dominierenden, unsicheren Verhältnissen der Gegenwart ab. Sie meinen nicht die Zeit unter den drei faschistischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts, sie meinen die „gute, alte“ Zeit des Wiederaufbaus in den Vierziger- und Fünfzigerjahren, sie meinen die Zeit, in der in Europa aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ein blühender Kontinent entstanden ist, in dem es ständig aufwärts ging. Mit dieser Botschaft sprechen sie eine weit verbreitete Sehnsucht an, die durch den Umstand verstärkt wird, dass die Periode nach 1945 vielfach verklärt wird.

Zur Illustration sei eine Formulierung herangezogen, die nicht von einem europäischen Rechten stammt. Donald Trump hat viele Wähler mit dem Slogan angezogen „We make America great again!“ Diese Botschaft ist unsinnig, wenn man bedenkt, dass die USA wirtschaftlich und politisch die Weltmacht Nummer eins sind. Aber für die vielen, die die aktuellen Änderungen, Herausforderungen, Verschiebungen nicht meistern, ist das Versprechen, ein vermeintliches, vergangenes goldenes Zeitalter wieder herzustellen, attraktiv. Und nichts Anderes tun die vielen, europäischen Rechtsparteien. „We make Italien, Frankreich, Schweden usw. great again!“

Es ist leichter ein Haus zu bauen als ein Haus in Ordnung zu halten

Die Verklärung des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders nach 1945 ergibt sich allerdings aus einer sehr banalen Tatsache: Es ist viel spannender und daher aufregender und letztlich auch leichter, ein Haus zu bauen als ein Haus in Ordnung zu halten. Das aktuelle Chaos, das den Rechten Siege verschafft, entsteht aus dem Unvermögen der demokratischen Regierungen, das blühende Haus Europa in Ordnung zu halten. Dieses Unvermögen treibt die Wähler zu den laut protestierenden Oppositionellen, also zu den Rechten. Dass die Rechten beim Wiederaufbau nach dem Krieg nicht präsent waren und auch jetzt keine praktikablen Wege aus den vielen Krisen anbieten, spielt da keine Rolle.

Als Bumerang für die aktuellen Regierungen erweist sich der Eifer, alle Probleme durch die Verteilung von Milliarden lösen zu wollen. Dieses Bemühen bestimmt die Politik seit vielen Jahrzehnten und hat in der Corona-Pandemie einen neuen, ungeahnten Höhepunkt erreicht. Und gerade jetzt wird wieder versucht, mit weiteren Milliarden den Bürgern und Bürgerinnen die Bewältigung der Inflation zu erleichtern. Allerdings funktioniert die alle und alles umfassende Fürsorge nur unvollständig, löst also die Probleme der Menschen nicht wirklich und das wird den Regierenden vorgeworfen.

  • Der Sozialstaat ist nur mit einer tatsächlichen Wirtschaftsleistung und nicht mit gedrucktem Geld zu finanzieren.
  • Die in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft erfolgende Digitalisierung schafft neue Strukturen, die Viele überfordern.
  • Im privaten Bereich funktionieren die Beziehungen nicht wie früher.
  • Das Bildungswesen ist in einer permanenten Krise.
  • Da entsteht die Hoffnung, dass ein starker Mann oder eine starke Frau endlich wieder für Ordnung sorgen sollte.

Die Regierungen sind Gefangene ihrer Versorgungspolitik, ihrer Versprechen, sie würden den Bürgern alle Sorgen abnehmen. Diese Politik hat eine weit verbreitete Mentalität entstehen lassen, wonach jeder und jede immer und überall Anspruch auf Unterstützung durch den Staat haben. Die Folge war und ist unweigerlich, dass die Eigenverantwortung nicht als selbstverständliche Pflicht aller verstanden wird. Dass die staatliche Hilfe nur bei tatsächlicher Not eingreifen soll und kann, rückte für zu viele in den Hintergrund. Somit ist der Ruf nach dem fürsorglichen „Vater“ Staat allgegenwärtig. Nur, Vater Staat ist überfordert und bereits im Burn-Out.

Die falsch verstandene Lehre aus den Fehlern der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts

Tief sitzt die Lehre aus den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als man die Wirtschaftskrise mit einem falsch verstandenen, rigorosen Spareifer bekämpfte und mit dieser Methode kläglich Schiffbruch erlitten hat. Zu deutlich ist die Erinnerung an US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der mit umfangreichen Investitionen im Rahmen des „New Deal“ der amerikanischen Wirtschaft lebensrettende Impulse brachte. Auch der große Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes ist präsent, der für Deficit Spending plädiert hat, dafür, dass der Staat, auch mit Schulden, eine allgemein schwache Nachfrage durch öffentliche Investitionen korrigieren soll.

All das klingt nur so ähnlich wie die heute praktizierte, über Schulden finanzierte Geldschwemme, die die Staaten über die Bürger ergießen. Es geht aber schon seit Jahren nicht um Investitionen, die langfristig wirkende Werte schaffen, die man getrost über Schulden finanzieren könnte. Es geht vielmehr um die Finanzierung der staatlichen Wohltaten, die die Wähler glücklich machen sollen, also um den Konsum. Konsum bedeutet Verbrauch von heute, wird dieser mit Schulden bezahlt, dann muss irgendwann in der Zukunft irgendjemand das heute verzehrte Mittagessen bezahlen. Diese oder dieser irgendjemand sind wir selbst oder unsere Kinder. Da Staatsschulden nie zurückgezahlt werden, erfolgt die Korrektur über die Inflation, die die Forderungen gegen die Staaten entwertet. Nichts anderes geschieht gerade derzeit mit Preissteigerungen um zehn Prozent, wobei der Ukraine-Krieg, der Streit um Gaslieferungen aus Russland und die gestörten Lieferketten sämtlichen Anbietern zusätzlich prächtige Ausreden für jede noch so phantasievolle Preiserhöhung liefern.

In Italien nützt die Sehnsucht nach einem frischen Wind in der Politik nicht nur den Rechten

Der stark verbreitete Zug nach rechts hat allerdings viele Erscheinungsformen. In Italien hat Giorgia Meloni ohne Zweifel als deklarierte Rechte gewonnen, die sich auch positiv über den faschistischen Diktator Mussolini äußert. Das italienische Wahlvolk demonstriert aber schon seit Jahren eine starke Sehnsucht nach frischem Wind in der Politik. So wurde 2014 der sozialliberale Politiker Matteo Renzi als Zukunftshoffnung gefeiert und in der Folge abgewählt, dann wurde 2018 der Schauspieler Beppe Grillo mit seiner Bürgerbewegung „Fünf Sterne“ hochgejubelt und nun ist die 45-jährige Journalistin Giorgia Meloni an der Reihe. Italien leidet aber unter einer strukturell extrem schwachen Wirtschaft, die nur mit umfassenden Strukturreformen erfolgreich werden kann. Der frühere EZB-Präsident, Mario Draghi, hat zuletzt eine Allparteienregierung geführt und wollte den Reformprozess in Gang bringen, ist aber nach siebzehn Monaten gescheitert und muss nun den Platz des Regierungschefs für Giorgia Meloni räumen.

Ungarn und Polen befinden sich immer noch in der Phase des Wiederaufbaus nach der kommunistischen Pleite

Die Lage in Ungarn stellt sich anders dar. Viktor Orban hat mehrere Änderungen der Verfassung im Widerspruch zu den demokratischen Grundsätzen der EU durchgesetzt. Der autokratische Politiker bezeichnet die Demokratie rundweg als eine überholte Staatsform. Die Medien werden geknebelt, die Theater und Universitäten unter Druck gesetzt, Minderheiten bedrängt, Ausländer verfolgt, Flüchtlinge abgewiesen. Allerdings betreibt Orban eine Wirtschaftspolitik, die Ungarn nützt, wogegen die Vorgänger-Regierungen der demokratischen Parteien in endlosen Streitigkeiten das Vertrauen der Wähler verspielt haben. Mit einer Mischung aus staatlichen Interventionen und freier Marktwirtschaft sorgt Orban für einen respektablen Wohlstand, der ihm die Zustimmung der Wähler sichert. Mit einer Wirtschaftsleistung pro Kopf von knapp 16.000 Euro im Jahr spürt Ungarn bis heute die Nachwehen der kommunistischen Staatswirtschaft und da erscheint eine halb dirigistische, halb liberale Wirtschaftspolitik vertretbar. Ähnlich ist die Lage in Polen, wo pro Kopf ebenfalls etwa 16.000 Euro erwirtschaftet werden, die autoritäre Politik von Jaroslaw Kaczynski allerdings wirtschaftlich weniger erfolgreich ist als der ungarische Weg. Die Vergleichswerte betragen in Italien 31.700 und in Deutschland 46.000 Euro.

Die Franzosen kokettieren mit dem rechten Lager, entscheiden sich aber letztlich für eine Politik der Mitte

Frankreich ist anders, aber mit Italien vergleichbar. Auch dieses Land braucht dringend Strukturreformen, die vom linksliberalen Präsidenten Emmanuel Macron angestrebt werden. Doch stößt er, wie schon sein Vorgänger, Nicolas Sarkozy aus dem konservativ-liberalen Lager, auf breiten Widerstand in der Bevölkerung, die die üppigen Sozialleistungen vehement verteidigt, auch wenn diese den Staat in eine permanente Schuldenkalamität treiben. Außerdem meinen viele, die EU würde die „Grande Nation“ in ein unerträgliches Korsett zwingen. In diesem Umfeld punktet Marine Le Pen mit einer rechtsnationalen Politik. In letzter Konsequenz ziehen die Franzosen einen eher liberalen, europafreundlichen Weg vor, der aber nicht zu liberal und zu europafreundlich sein möge. Kein Umfeld für einen tatsächlichen Sieg der Rechten, aber auch kein Umfeld für eine konstruktive Politik.

Ein Viktor Orban oder Jaroslaw Kaczynski für Europa zeichnet sich nicht ab. Wie lange noch?

Eine Rundschau zeigt die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich, die Vox in Spanien oder die Schwedendemokraten in Schweden und andere, die die geschilderte Unzufriedenheit mit den aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausdruck bringen. In den meisten Fällen wirken sie als oppositionelle Kräfte, die die Regierenden attackieren. Dass nach Polen und Ungarn nun auch in Italien die Rechten die Regierung dominieren und in Schweden an einer Koalition teilnehmen, ist ein klares Zeichen, dass die Rechten heute mehr sind als die Würze in der politischen Suppe, sondern vielmehr eine deutliche Gefahr für die Demokratie und die Freiheit in Europa. Profiliert sich ein auf gesamteuropäischer Ebene akzeptierter Politiker, der wie Viktor Orban oder Jaroslaw Kaczynski agiert, dann ist auf dem gesamten Kontinent die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen, der Medien, der Universitäten und der Kunst bedroht.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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