Finanzen

Die stabilisierende Wirkung der Inflation

Viele Staaten kämpfen mit steigenden Inflationsraten. Eine Inflation hat jedoch nicht nur negative Auswirkungen. Sie kann auch stabilisierend wirken.
Autor
avtor
16.10.2022 11:00
Lesezeit: 4 min
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Die Notenbanken sind geschäftig dabei, ihre Geldpolitik so schnell sie können zu straffen. Selbst die normalerweise vorsichtige Europäische Zentralbank hat ihren Leitzins gerade um beispiellose 75 Basispunkte angehoben und damit einen früheren Schritt der US Federal Reserve nachvollzogen. Die Finanzmärkte haben auf diese Maßnahmen auf erwartbare Weise reagiert; die Aktienmärkte und die Kurse langfristiger Anleihen brechen ein. Doch bedeutet nichts davon, dass eine Finanzkrise unmittelbar bevorsteht.

Staatsverschuldung durch Covid-19 Rezession gestiegen

Man könnte angesichts des Cocktails aus Ukraine-Krieg, explodierenden Energiepreisen und steil steigender Inflation das Gegenteil folgern, insbesondere da die Schuldenstände heute viel höher sind als im Vorfeld der letzten Finanzkrise. In den USA hat sich die Gesamtverschuldung der Kapitalgesellschaften außerhalb des Finanzsektors im Laufe des letzten Jahrzehnts auf 12 Billionen Dollar verdoppelt, und die Brutto-Staatsverschuldung hat gerade erstmals die Marke von 31 Billionen Dollar überschritten.

Damit stehen die USA durchaus nicht allein da. Aufgrund der COVID-19-Rezession hat die Staatsverschuldung fast überall zugenommen. In den hochentwickelten Volkswirtschaften ist sie um durchschnittlich 20 Prozentpunkte auf über 120 % vom BIP gestiegen. Die Voraussetzungen für eine Finanzkrise sind daher erfüllt. Bisher jedoch war die Marktvolatilität begrenzt. Warum verläuft die Entwicklung diesmal anders?

Im Jahr 2007 erlitten die Kreditnehmer gleich zwei harte Schläge: einen Anstieg der Risikoaufschläge (der es sehr schwierig machte, Schulden zu refinanzieren) und die niedrige Inflation (die die Einnahmen der Schuldner verringerte, was den Schuldendienst behinderte und die Risikoaversion der Kreditgeber bekräftigte). Heute dagegen ist die Inflation stark gestiegen, was den realen Wert der Schulden verringert.

Inflation bleibt viel höher als die Zinsen

Wenn sich das Preisniveau um 15 % erhöht, fällt der reale Wert der von einem Land mit einer Schuldenquote von 120 % begebenen Schuldtitel um rund 18 Prozentpunkte vom BIP, was die von der Pandemie hervorgerufene Erhöhung um 20 Punkte fast völlig ausgleichen würde. Dies ist ein völlig plausibles Szenario: Die Inflation beläuft sich in den USA und im Euroraum schon jetzt auf 10 %, und für das kommende Jahr wird ein Preisanstieg um weitere 5 % erwartet. Während der Gewinn für die Regierungen mit Verlusten für die Sparer einhergeht, die im Laufe des vergangenen Jahrzehnts langfristige Staatsanleihen zu ultraniedrigen Zinsen gekauft haben, lässt sich wenig tun, um dies auszugleichen.

Es hilft zudem, dass die Inflation trotz der jüngsten Maßnahmen der Notenbanken viel höher bleibt als die Zinsen. Selbst nach der von den Märkten bereits eingepreisten Straffung der Geldpolitik können Regierungen und Unternehmen neue Schulden zu negativen Realzinsen aufnehmen. Dies macht eine neue Schuldenkrise wie die, die den Euroraum 2009 in ihrem Griff hielt, unwahrscheinlich.

Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ist erheblich vom „Schneeballeffekt“ abhängig: Übersteigen die Zinskosten das nominale BIP-Wachstum, steigt die Schuldenquote (und umgekehrt). Für Italien überstiegen die Zinskosten während der Eurokrise 2012 das nominale BIP-Wachstum um sieben Prozentpunkte vom BIP, und 2013 um 5,7 Punkte. Dies machte es dem Land nahezu unmöglich, seine Schuldenquote zu senken.

Heute wird erwartet, dass das nominale Wachstum dank der Inflation um 4,5 Prozentpunkte über den Zinskosten verharren wird. Dies wird dazu beitragen, die Schuldenquote zu senken. Tatsächlich ist die Differenz zwischen nominalem Wachstum und Zinskosten derzeit günstiger als zu jedem anderen Zeitpunkt der jüngsten Vergangenheit. Dies erklärt zu einem großen Teil, warum die Finanzmärkte sich derzeit nicht im Krisenmodus befinden. Doch heißt es nicht, dass sie nicht nervös sind. Die jüngsten Marktturbulenzen im Vereinigten Königreich zeigen dies beispielhaft.

Britische Pensionskassen haben in Derivate investiert

Auf den ersten Blick könnten die vom britischen Regierungsvorschlag nicht gegenfinanzierter Steuersenkungen ausgelösten Turbulenzen an den Finanzmärkten überraschen. Schließlich handelt es sich hier um ein Land mit AA-Rating mit hoher, aber tragfähiger Staatsverschuldung, die nicht durch ein paar Jahre mit hohen Haushaltsdefiziten untragbar würde. Doch waren Zweifel über die Tragbarkeit der Schulden nicht das Problem.

Viele britische Pensionskassen hatten in Derivate investiert, um den Risiken wilder Kursschwankungen bei Staatsanleihen zu entgehen. Aber derartige Kontrakte erfordern Sicherheiten. Als die Vermögenspreise fielen, stieg die Höhe der Sicherheiten, die die Pensionskassen brauchten, um ihre Verpflichtungen abzudecken, und sie waren daher gezwungen, Vermögenswerte (britische Staatsanleihen) zu veräußern und ihre Barbestände zu erhöhen. Dies trieb die Kurse weiter nach unten und erhöhte so den Bedarf an Sicherheiten zusätzlich.

Doch spiegelten die britischen Finanzturbulenzen ein vorübergehendes Liquiditätsproblem wider, das die Bank von England durch ein neues Programm zum Ankauf von Anleihen unter Kontrolle brachte. Sie waren kein Vorbote einer umfassenderen Krise. Ihr Auslöser waren Besonderheiten des britischen Finanzmarktes – insbesondere die Sicherungsstrategien der Pensionskassen.

Hochverschuldete Ländern sollten Schulden reduzieren

Trotzdem bergen diese Turbulenzen wichtige Lehren. Erstens sind Finanzmärkte komplexe Systeme, die zu unvorhersehbaren Krisen neigen. Zweitens haben die Notenbanken, indem sie sich zum größten Käufer von Staatsanleihen entwickelt und Anleger, die zur Stabilisierung des Systems beitragen könnten, verdrängt haben, die Resilienz des Marktes für derartige Anleihen beschädigt. Trotzdem scheint eine Instabilität der Finanzmärkte im Moment kein ernsthafter Anlass zur Besorgnis zu sein.

Doch garantiert dies nicht, dass wir in ruhigen Fahrwassern bleiben werden. Während hochverschuldete Länder wie Italien und die USA stark von der überraschenden Inflation profitiert haben, sind die Schuldenrisiken dadurch nicht verschwunden. Diese Länder sollten die unerwarteten inflationsbedingten Gewinne als Gelegenheit ansehen, ihre Schulden weiter zu reduzieren. Allerdings: Hätten diese Länder politische Systeme, die jene Art vorausschauenden Handelns hervorbrächten, hätten ihre Schulden gar nicht erst ein derart hohes Niveau erreicht. Der einzige Weg, langfristig für Stabilität zu sorgen, besteht darin, sicherzustellen, dass die Entwicklung diesmal auch in der Politik anders abläuft.

Zur Person: Daniel Gros ist Vorstandsmitglied und Distinguished Fellow des Centre for European Policy Studies.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

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Daniel Gros

                                                                            ***

Daniel Gros ist Direktor des europapolitischen Instituts der Università Commerciale Luigi Bocconi.

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