Technologie

Der Europäische Erdgasmarkt bleibt volatil – auch wegen neuer Abhängigkeiten

Europa hat sich von Russlands Energiemonopol gelöst und Versorgungsalternativen gefunden. Auch deshalb bleibt die heimische Gasversorgung fragil und anfällig für Preisspitzen.
23.06.2024 11:05
Aktualisiert: 23.06.2024 11:55
Lesezeit: 4 min

Nachdem die europäischen Erdgaspreise in Folge des Kriegsbeginns zwischen der Ukraine und Russland vor nun etwas mehr als zwei Jahren geradezu explodierten und damit die zukünftig unsichere Versorgungslage des europäischen Kontinents, dessen Hauptlieferant Russland zu diesem Zeitpunkt noch war, widerspiegelten, hatte sich die Situation schnell wieder beruhigt. Vor allem die günstige Witterung, eine deutlich reduzierte Industrietätigkeit sowie neue Lieferanten sorgten dafür, dass der europäische Erdgas-Benchmarkkontrakt an der niederländischen Title Transfer Facility (TTF) bereits seit Anfang 2023 bei durchschnittlich sehr erträglichen rund 35 Euro pro MWh notiert, weit entfernt der Rekordpreise von knapp 340 Euro/MWh aus August 2022 und nur wenig oberhalb des langjährigen Mittels.

Kleines Problem mit großer Wirkung

Während Europa früher etwa ein Drittel seines Gasbedarfs aus Russland bezog, ist die Region heute, neben Flüssiggaslieferungen aus den USA und Katar, zunehmend auf Pipelinegas aus Norwegen angewiesen. Das Land gilt als verlässlicher Handelspartner mit einer langen und beständigen Geschichte der Energielieferung nach Europa, angesichts der verstärkten Abhängigkeit wirkt sich nun jedoch jede Störung im norwegischen Exportsystem überproportional auf die Preise aus. Jüngstes Beispiel ist ein Vorfall vom 03. Juni dieses Jahres, als ein lediglich golfballgroßer Riss in einer Pipeline der 250 Kilometer vor der norwegischen Küste befindlichen Sleipner-Plattform Panik am Gasmarkt auslöste. Jenes Leck sorgte für einen Ausfall der Lieferungen sowohl zur großen norwegischen Gasverarbeitungsanlage Nyhamna als auch zum in der Nähe von Hull gelegenen britischen Easington-Terminal. Vor allem die spärlichen Informationen über das Ausmaß des Problems und seiner Dauer trieben die Erdgaspreise schlagartig in die Höhe, bestand doch die Gefahr, dass Europa 20 % seiner norwegischen Gasimporte verlieren könnte.

Unmittelbar nach bekanntwerden des Problems stiegen die europäischen Erdgaspreise auf den höchsten Stand in diesem Jahr. So schoss der niederländische Benchmark-Gasfuture um 13 Prozent in die Höhe, was den größten Anstieg innerhalb eines Tages seit Dezember darstellte. Angesichts der Lieferunterbrechung zum britischen Easington-Terminal, über welches ein Drittel der gesamten Gasversorgung der Insel läuft, verteuerten sich die britischen Gasfutures um bis zu 15 Prozent, einen vergleichbaren Anstieg gab es zuletzt im Oktober letzten Jahres. Daran zeigt sich, welche zentrale Rolle Norwegen mittlerweile für die Versorgung Europas spielt, nachdem Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs die meisten Pipeline-Lieferungen eingestellt hat. So scheint die kriegsbedingte Energiekrise zwar überwunden, jedoch reagiert der Markt noch immer sehr empfindlich auf Versorgungsprobleme.

Verstärkt wird diese Situation durch einen zunehmenden Wettbewerb um Flüssiggaslieferungen. So sind die europäischen LNG-Importe in den letzten Wochen aufgrund der höheren Nachfrage aus Asien, wo derzeit eine Hitzewelle den Verbrauch zur Kühlung erhöht, bereits spürbar zurückgegangen. Im Zuge dessen legten die niederländischen Gasfutures bereits drei Monate in Folge zu, allein im Mai betrug der Anstieg 16,5 %. Dies bildete den Boden für die jüngste Rallye, die stattfand, obwohl die europäischen Speicher mit insgesamt mehr als 72 % für diese Zeit im Jahr ungewöhnlich gut gefüllt sind und sich darüber hinaus die industrielle Nachfrage in Europa nur langsam erholt. Die Art der Preisschwankungen demonstriert deutlich, wie angespannt die Versorgungslage in Europa trotz augenscheinlicher Ruhe tatsächlich ist. Dies ist ein großer Unterschied zu früheren Zeiten, als Nord Stream und einige andere Pipelines aus Russland noch gut gefüllt waren.

Alter der Infrastruktur ist Risikofaktor

Das Alter der norwegischen Öl- und Gasinfrastruktur ist unterschiedlich. Zwar gingen die meisten Anlagen erst in diesem Jahrtausend in Produktion, einige Felder, die bereits in den späten 1960er Jahren entdeckt wurden, fördern jedoch noch immer. Die Anfang Mai beschädigte Sleipner-Pipeline wurde vor 31 Jahren in Betrieb genommen und hat noch eine geplante Lebensdauer bis 2043. Diese relativ alten Anlagen werden zunehmend wartungsintensiv und auch zukünftig von unerwarteten Ausfällen betroffen sein. Neben dem Umstand, dass die Nordsee für Öl- und Gasförderanlagen aus ganz natürlichen Gründen ein hartes Pflaster ist, welches für hohen Verschleiß sorgt, spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass die norwegischen Plattformen während der Energiekrise mit einer extrem hohen Rate gearbeitet haben, um Europa so viel Gas wie möglich anzubieten. Auch dies dürfte zu einer zusätzlichen Belastung der Infrastruktur geführt haben.

Im vergangenen Sommer wurde die Nyhamna-Verarbeitungsanlage schon einmal für längere Zeit geschlossen, auch die zugehörigen Felder Ormen Lange und Aasta Hansteen kamen während der verlängerten Wartungszeit zum Stillstand. Laut einer dahingehenden Untersuchung der Investmentbank Goldman Sachs wurde ein Teil der Probleme durch große Wartungsarbeiten im letzten Jahr gemildert oder behoben, aber jene ungeplanten Ausfälle deuten darauf hin, dass die Infrastruktur weiterhin anfällig ist und auch zukünftig Turbulenzen an den europäischen Gasmärkten zu erwarten sind.

Equinor ASA ist neuer Monopolist

War es in der Zeit vor den Spannungen zwischen Europa und Moskau noch die russische Gazprom, welche den hiesigen Erdgasmarkt dominierte, ging diese Krone in den vergangenen zwei Jahren ohne großes Aufsehen auf den norwegischen Öl- und Gasriesen Equinor über. Womit Europas Gasversorgung erneut mehr oder weniger von einem einzigen Unternehmen abhängt. Das ist zwar politisch unkritisch, wirtschaftlich jedoch ebenfalls nicht ohne.

So stammt derzeit gut 30 % des Erdgases, welches die EU importiert, aus norwegischer Produktion. Zwei Drittel an diesen rund 109 Milliarden Kubikmetern entfallen dabei auf Equinor. Seitens der Politik wird bereits die Frage diskutiert, ob die europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Länder wieder einmal in Gefahr bringen, indem sie sich zu sehr auf einen einzigen Lieferanten verlassen. Längere Ausfälle und der Umgang des Unternehmens mit Wartungsproblemen, die sich beide auf die Energiepreise auswirken, haben auf dem gesamten Kontinent Wellen geschlagen. Auch, da die jüngst betroffene Sleipner-Plattform von Equinor betrieben wird.

Im vergangenen Sommer stiegen die Gaspreise schon einmal innerhalb weniger Minuten um fast 20 % an, als das Unternehmen ankündigte, dass die Wartungsarbeiten an einigen seiner größten Gasanlagen verlängert würden. Die ungeplanten Ausfälle führten dazu, dass die norwegischen Exporte einige Wochen lang stark zurückgingen, und veranlassten Energiehandelsunternehmen auf dem ganzen Kontinent dazu, den "Equinor-Wartungseffekt" in ihren Modellen stärker zu berücksichtigen. Angesicht der Erwartung eines neuen Rekords hinsichtlich norwegischer Erdgaslieferungen nach Europa in diesem Jahr und dem damit verbundenen Equinor-Anteil, bemüht sich das Unternehmen darum seine Kapazitäten zu erhöhen und Engpässe durch eine Straffung der Wartungsarbeiten zu verringern. Immerhin, aber die Konzentration auf einen dominierenden Akteur bleibt riskant. Sollte in den kommenden Jahren die geplante neue Welle von LNG aus den USA und Katar vollumfänglich auf den europäischen Markt schwappen, wird die Bedeutung von Equinor und Norwegens Gas schließlich jedoch auf natürliche Weise abnehmen.

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Markus Grüne

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Markus Grüne (49) ist langjähriger professioneller Börsenhändler in den Bereichen Aktien, Derivate und Rohstoffe. Seit 2019 arbeitet er als freier Finanzmarkt-Journalist, wobei er unter anderem eigene Börsenbriefe und Marktanalysen mit Fokus auf Rohstoffe publiziert. 

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