Issa Al H., der mutmaßliche Täter der Messerattacke in Solingen, sollte bereits im letzten Jahr von Deutschland nach Bulgarien überstellt werden. Doch durch Behördenversäumnisse und fehlende Flugmöglichkeiten blieb er im Land. Am vergangenen Freitagabend soll der 26-jährige Syrer auf dem Stadtfest in Solingen drei Menschen tödlich verletzt und acht weitere durch einen Messerangriff schwer verwundet haben. Wie konnte die Abschiebung scheitern? Eine Chronik:
Die Ankunft in Deutschland
Issa Al H. stellte laut dem nordrhein-westfälischen Flüchtlingsministerium Ende Januar 2023 einen Asylantrag in der Bielefelder Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Eine Überprüfung ergab, dass er zuvor in Bulgarien Asyl beantragt hatte.
Am 7. Februar stellte das Bamf ein Übernahmeersuchen an Bulgarien gemäß den Dublin-Regeln der EU. Das Land stimmte am 20. Februar zu, wodurch eine Frist von sechs Monaten für die Rückführung begann. Al H. wurde in einer Notunterkunft in Paderborn untergebracht.
Am 16. März 2023 ordnete das Bamf die Überstellung nach Bulgarien an. Die Durchführung lag in der Verantwortung der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld. In Nordrhein-Westfalen gibt es fünf dieser Behörden, die zwar vom Land NRW arbeiten, aber im Auftrag des Bamf handeln.
Die fehlgeschlagene Abschiebung
Am 21. März 2023 meldete die ZAB den Flug nach Bulgarien bei der Zentralstelle für Flugabschiebungen NRW an. Der Zugriff in der Notunterkunft war für den 5. Juni 2023 um 2.30 Uhr geplant, um Al H. nach Düsseldorf zu bringen, von wo der Abflug um 7.20 Uhr stattfinden sollte. Doch Al H. war nicht auffindbar – obwohl er am 4. Juni noch dort war und am 5. Juni tagsüber wieder auftauchte.
Ob er vorgewarnt wurde, ist unklar. Laut Ministerium kündigen die Zentralen Ausländerbehörden Überstellungen nicht an. Sicher ist, dass Al H. nicht untergetaucht war, wie auch NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne) bestätigte. Wäre er untergetaucht, hätte das Bamf die Frist für die Abschiebung auf 18 Monate verlängern können.
Beschränkungen beim Zugriff und behördliche Versäumnisse
Im Jahr 2023 durften die Behörden aufgrund der damaligen Gesetzeslage nicht andere Räume der Flüchtlingsunterkunft durchsuchen. Erst seit Anfang dieses Jahres gibt es ein Gesetz, das den Vollzug von Abschiebungen erleichtern soll. Behörden dürfen nun auch andere Räume in Gemeinschaftsunterkünften betreten.
Dass Issa Al H. zurückkehrte, wurde von der Notunterkunft Paderborn nicht an die ZAB Bielefeld gemeldet. Dies war laut Ministerin Paul zwar ein Versäumnis, es gab aber keine entsprechende Vorschrift.
Die ZAB versuchte keinen weiteren Flug für Al H. nach Bulgarien zu organisieren. Vermutlich nahm die ZAB an, dass bis zum 20. August, dem Ende der Rückführungsfrist, ohnehin kein Flug mehr verfügbar gewesen wäre.
Mangel an Flugtickets für Abschiebungen
Zusätzlich erschwerten die strengen Vorschriften für Rückführungsflüge die Abschiebung. Die betreffenden EU-Länder stellen diese Regeln selbst auf.
Für Bulgarien beispielsweise dürfen Abschiebeflüge nur zwischen Montag und Donnerstag von 9 bis 14 Uhr in der Hauptstadt Sofia landen. Eine Überstellung per Landweg oder Charterflug ist verboten. Pro Flug dürfen maximal zwei Personen abgeschoben werden. Damit sind theoretisch nur etwa zehn Abschiebungen pro Woche nach Bulgarien für alle 16 Bundesländer möglich.
Der Verbleib in Deutschland
Nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist übernahm das Bamf das nationale Verfahren für Al H., und der Asylantrag wurde geprüft. Ende August 2023 wurde Al H. nach Solingen überstellt. Am 13. Dezember erhielt er subsidiären Schutz, womit die Zuständigkeit auf die örtliche Ausländerbehörde überging.
Am 23. August 2024 ereignete sich die tödliche Messerattacke im Zentrum von Solingen.
Herausforderungen bei EU-Überstellungen
Statistiken zeigen, wie schwierig Abschiebungen nach Bulgarien und in andere EU-Länder sind. Im ersten Halbjahr 2024 gab es deutschlandweit 164 Abschiebungen nach Dublin-Regeln nach Bulgarien. Allein NRW stellte von Januar bis Juli 1.126 Übernahmeersuchen, von denen Bulgarien nur etwa 426 akzeptierte. Überstellt wurden lediglich 25 Personen – knapp sechs Prozent.
Auch in anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Italien stimmte zwar rund 1.470 von fast 1.750 Übernahmeersuchen aus NRW zu, doch überstellt wurde niemand. Griechenland akzeptierte nur 29 von 2.388 Übernahmeersuchen – eine Überstellung erfolgte nicht. Das Fazit von NRW-Ministerin Paul: "Dieses System ist so komplex und im Kern dysfunktional."