Wirtschaft

Pharmazeutische Abwanderung: Wie Europa seine Innovationskraft verloren hat – und sie zurückgewinnen kann

Europas einst führende Rolle in der Pharmaforschung schwindet – während andere Regionen aufholen, drohen Abhängigkeit und wirtschaftlicher Rückstand.
25.04.2025 10:58
Aktualisiert: 25.04.2025 15:59
Lesezeit: 2 min
Pharmazeutische Abwanderung: Wie Europa seine Innovationskraft verloren hat – und sie zurückgewinnen kann
Während Europa mit Bürokratie kämpft, investieren andere Regionen massiv in Pharma-Innovationen – und ziehen davon. (Foto:dpa) Foto: Christoph Schmidt

Europa war einst der Nabel der pharmazeutischen Forschung – heute droht dem Kontinent die Bedeutungslosigkeit. Jahrzehntelang wurden hier Durchbrüche bei der Behandlung von Krebs, Infektionskrankheiten und neurologischen Leiden erzielt. Doch während sich in den Laboren Europas früher die Zukunft der Medizin abspielte, verlagert sich die Innovationsdynamik zunehmend in die USA und nach Asien. Der Anteil Europas an globalen klinischen Studien sinkt dramatisch. Die Folgen: Abhängigkeit, Innovationslücke, wirtschaftlicher Abstieg.

Klinische Studien: Das stille Rückgrat der medizinischen Zukunft

Klinische Studien sind mehr als ein Zwischenschritt in der Medikamentenentwicklung. Sie bedeuten frühzeitigen Zugang zu lebensrettenden Therapien – oft viele Jahre vor der Marktzulassung. Für Patienten mit seltenen Erkrankungen sind sie oft die einzige Hoffnung auf Heilung.

Zudem wirken sie wie ein wirtschaftlicher Katalysator: Studien entlasten die Gesundheitssysteme, reduzieren Arzneimittelausgaben und locken forschende Unternehmen auf den Kontinent. Doch trotz dieses Potenzials wird Europa zunehmend abgehängt. Während die Anzahl globaler klinischer Studien in den letzten zehn Jahren um 38 % gestiegen ist, hat sich der Anteil Europas nahezu halbiert.

Einst Vorreiter – jetzt Nachzügler: Europas dramatischer Rückfall

Laut Daten des Gesundheitsforschungsinstituts IQVIA fiel der Anteil Europas an weltweiten klinischen Studien von 25 % im Jahr 2013 auf nur noch 19 % im Jahr 2023. Besonders beunruhigend: Bei kommerziellen Studien, also jenen mit direktem Einfluss auf die Markteinführung neuer Medikamente, liegt der Rückgang sogar bei 10 Prozentpunkten – von 22 % auf 12 %.

Zur gleichen Zeit verzeichnete China ein explosives Wachstum: Seit 2018 hat sich die Zahl der Studien dort verdoppelt – sie machen mittlerweile 18 % des weltweiten Volumens aus. Die USA bleiben indes das dominante Forschungszentrum – Europa verliert auf beiden Fronten.

Fragmentierung, Bürokratie, Investitionsschwäche: Europas selbstverschuldete Krise

Der Rückstand Europas ist kein Schicksal – er ist das Ergebnis politischer und struktureller Fehlentscheidungen.

Ein zersplittertes Regulierungsumfeld, nationale Sonderwege trotz bestehender EU-Vorgaben und bürokratische Hürden schrecken Investoren ab.

Zwar gibt es positive Ausnahmen: Dänemark, Belgien und in jüngster Zeit Spanien zeigen, dass Reformwille Wirkung zeigt. Doch viele Länder – darunter auch Litauen – verpassen den Anschluss. Dort sank die Zahl der klinischen Studien seit 2018 um 7,6 %, die Aufnahme innovativer Arzneimittel in Erstattungslisten verzögert sich im Schnitt um 794 Tage – 17-mal länger als in Deutschland.

Weg zurück zur Führungsrolle: Was Europa jetzt tun muss

Wenn Europa wieder zum globalen Motor für pharmazeutische Innovation werden will, braucht es mehr als politische Willensbekundungen. Es braucht strukturelle Reformen – schnell und entschieden.

Kernforderungen aus Industrie und Forschung:

  • Vereinheitlichung der Prüfprozesse für klinische Studien auf EU-Ebene
  • Abschaffung nationaler Sonderregelungen über die EU-Clinical-Trial-Verordnung hinaus
  • Standardisierung von Verträgen und Bewertungsverfahren
  • Beschleunigung der Ethikprüfungen und Zulassungsprozesse
  • Grenzüberschreitender Zugang zu Studien für Patienten in ganz Europa
  • Stärkung öffentlich-privater Partnerschaften zur Etablierung von Exzellenzzentren
  • Bessere Integration von Studien in den klinischen Alltag

Europa darf nicht länger zuschauen, wie andere Regionen mit staatlich geförderten Innovationsprogrammen Investitionen anziehen, während hierzulande selbst tragfähige Strukturen erodieren.

Litauen: Zwischen Potenzial und politischer Lähmung

Litauen liegt mit Platz 11 bei klinischen Studien pro Kopf nicht schlecht. Doch strukturelle Hindernisse – von chronischer Unterfinanzierung bis zu ineffizienten Entscheidungswegen bei der Erstattung innovativer Arzneien – bremsen das Land aus.

Von 167 innovativen Arzneimitteln, die zwischen 2019 und 2022 von der EMA zugelassen wurden, waren in Litauen nur 14 für Patienten über die Erstattung zugänglich. Ein Armutszeugnis – für die Politik und für das Gesundheitssystem.

Fazit: Europas Rückkehr zur pharmazeutischen Souveränität ist möglich – wenn der Wille da ist

Wenn Europa seine Abhängigkeit von externen Innovationszentren überwinden will, führt kein Weg an einer Neuausrichtung vorbei. Die politischen, wirtschaftlichen und ethischen Argumente liegen auf dem Tisch.

Jetzt ist die Zeit zu handeln.

Denn während Europa reformiert, forscht man andernorts längst an den Therapien von morgen.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Technologie
Technologie Autonomes Fahren in Europa: Pony AI testet Robotaxis mit Stellantis
09.11.2025

Europa steht vor einem neuen Kapitel der urbanen Mobilität. Technologische Entwicklungen und internationale Kooperationen treiben die...

DWN
Technologie
Technologie Phishing schlägt Firewalls: Warum Technik allein nicht schützt
09.11.2025

Firewalls, Verschlüsselung, Millionenbudgets – und doch reicht ein schwaches Passwort oder ein unbedachter Klick, um ein ganzes...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Gaskraftwerke für Deutschland: Teuer, umstritten und auch politisch fragwürdig
08.11.2025

Können Wind und Sonne nicht genug erneuerbare Energien liefern, sollen bis zu 40 große Gaskraftwerke einspringen, die...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin, Ether und Co.: Wie Sie an der Börse sicher in Kryptowährungen investieren
08.11.2025

Wollen Sie Kryptowährungen kaufen? Dann müssen Sie dafür nicht auf irgendwelchen unseriösen Internetportalen herumsurfen. Kurse von...

DWN
Politik
Politik Donald Trump und die US-Präsidentschaftswahl 2028: Strebt er eine dritte Amtszeit an und geht das so einfach?
08.11.2025

Die Diskussion um Donald Trumps mögliches politisches Comeback zeigt das Spannungsfeld zwischen Recht, Strategie und Macht in den USA....

DWN
Technologie
Technologie Deep Tech als Rettungsanker: Wie Deutschland seine industrielle Zukunft sichern kann
08.11.2025

Deutschland hat große Stärken – von Forschung bis Ingenieurskunst. Doch im globalen Wettlauf um Technologien zählt längst nicht mehr...

DWN
Technologie
Technologie So optimiert KI in Belgien die Landwirtschaft: Schwankende Ernten prognostizieren? Kein Problem!
08.11.2025

Die Landwirtschaft muss Erträge effizient planen und Schwankungen ausgleichen, wobei KI zunehmend Entscheidungen auf verlässlicher Basis...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Managergehälter: Wie viel Mut hinter den Millionen steckt
08.11.2025

Topmanager reden offen über ihr Einkommen? In Estland sorgen zwei Führungskräfte für großes Staunen. Sie zeigen, wie viel Disziplin,...