Von Washington bis Berlin: Wie Politiker Schulden machen – und Risiken ignorieren
Der Schuldenstand der Industrieländer könnte 2025 auf 110 Prozent des BIP steigen – besonders rapide wächst die US-Verschuldung. Ursachen sind unter anderem Steuersenkungen in den USA, steigende Verteidigungsausgaben weltweit und die Erwartungshaltung der Wähler nach den pandemiebedingten Transfers. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für 2025 eine Staatsverschuldung der Industrieländer von 110 Prozent des BIP. Im Durchschnitt wird das Schulden-BIP-Verhältnis weltweit um 2,8 Prozentpunkte auf 95,1 Prozent steigen. Vítor Gaspar, Direktor der IWF-Abteilung für Fiskalpolitik, betont gegenüber dem Wirtschaftsportal Verslo žinios, dass sich der Großteil des Schuldenanstiegs auf große Volkswirtschaften konzentriert. Der weltweite Schuldenaufbau begann schon früher, insbesondere während der Pandemie – damals jedoch unter günstigen Kreditbedingungen, die heute nicht mehr gelten. In letzter Zeit sorgte hohe Inflation für inflationsbedingte Steuermehreinnahmen. Gleichzeitig stieg das nominale BIP deutlich, ohne dass sich die Schuldenhöhe veränderte – die Schuldenquote sank. In Griechenland etwa verbesserte sich die Schuldenquote seit dem Höchststand von 207 Prozent im Jahr 2020 bis Ende 2023 auf 160,9 Prozent – ein Rückgang um 68 Prozentpunkte.
Zeitenwende in der Haushaltspolitik
Ein Land kann sich ein Defizit leisten – solange das nominale BIP schneller wächst als das Defizit, verbessert sich die Schuldenquote. Doch nun sinkt die Inflation. Laut IWF gefährdet das nicht nur inflationsbedingte Einnahmen, sondern auch reale Steuererträge, da neue Zollpolitiken das reale BIP-Wachstum vieler Länder bremsen. Mit steigenden Zinsen wird Schuldenmanagement teurer. Laut IWF zahlen Industriestaaten heute im Schnitt 3,7 Prozent Zinsen auf zehnjährige Anleihen – während der Pandemie waren es nur rund 1 Prozent. „In den vergangenen 15 Jahren haben sich Entwicklungsländer in rasantem Tempo verschuldet: durchschnittlich sechs Prozentpunkte des BIP pro Jahr. Solch schnelles Schuldenwachstum endet oft im Desaster. Tatsächlich liegt das Risiko einer Schuldenkrise bei etwa 50:50“, sagte Indermit Gill, Chefökonom und Vizepräsident für Entwicklung beim Weltbank.
Zinsen fressen Haushalte
Ein wachsender Anteil der Staatshaushalte entfällt auf Zinszahlungen. Besonders betroffen ist Ungarn, das 2025 rund 4,16 Prozent seines BIP für Zinsen aufwenden muss. In den USA betragen die Zinsausgaben in diesem Jahr 3,89 Prozent des BIP – mehr als der Verteidigungshaushalt. In der Eurozone ist Italien am stärksten betroffen: 3,88 Prozent des BIP fließen in Zinszahlungen. Mit steigenden Zinsen und sinkender Inflation müssten die Länder ihre Defizite massiv abbauen, um den Schuldenstand zu stabilisieren – zumal es keinen konjunkturellen Grund für antizyklisches Verhalten gibt. Dennoch reduzieren viele Länder ihre Defizite kaum oder erhöhen sie sogar – und mindern damit ihre Krisenresistenz. Gill zufolge sollten Regierungen zu früheren Normen zurückkehren, was als tragbare Schuldenhöhe gilt: etwa 40 Prozent des BIP für einkommensschwache Länder, 60 Prozent für einkommensstarke – für alle anderen ein Wert dazwischen.
US-Schulden steigen ungebremst
Nach Finanzkrise und Pandemie ist die US-Schuldenquote auf dem Weg zu den historischen Höchstständen des Zweiten Weltkriegs. Zum Jahresende laufen die Steuersenkungen aus Trumps Amtszeit 2017 aus. Ob sie verlängert werden, ist offen – doch ein neues Gesetz mit dem Titel „One Big, Beautiful Bill Act“ kündigt bereits die nächste Runde von Steuersenkungen an. Laut dem Yale’s Budget Lab könnte die US-Schuldenquote bei dauerhafter Umsetzung dieser Pläne bis 2055 auf 186 Prozent des BIP steigen. Nur Japan und der Sudan haben höhere Quoten. Im Zweifel könnte das Federal Reserve System (Fed) eingreifen und US-Schulden aufkaufen. Ein solches „Quantitative Easing“ wurde bereits 2008 und 2020 durchgeführt – damals kaufte die Fed große Mengen langfristiger Staatsanleihen. Doch auch diese Maßnahme hat Grenzen.
Inflation als Fluchtweg?
The Economist warnt: Je höher die Zinslast, desto größer die Versuchung für Politiker, die Schulden durch Inflation zu entwerten – statt durch Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen. Wenn Investoren befürchten, dass die Inflation steigt, verkaufen sie US-Anleihen – was deren Wert mindert und die Kreditkosten erhöht. Experten betonen, dass die globale Finanzstabilität stark von der US-Schuldendynamik abhängt. Steigende US-Zinsen würden weltweit höhere Finanzierungskosten auslösen – mit negativen Folgen für viele Volkswirtschaften. Larry Summers, ehemaliger US-Finanzminister, warnt: „Ich glaube, wir bewegen uns auf eine Episode wie beim Fall Truss zu.“ Gemeint ist die ehemalige britische Premierministerin, deren Steuerpläne einen Anleihe-Crash auslösten.
„Independence Day“-Effekt
Die Fondsgesellschaft BlackRock verweist auf den jüngsten Ausverkauf von US-Staatsanleihen nach der Ankündigung neuer Zölle am „Independence Day“ – ein deutliches Warnsignal für das Risiko solcher Investments angesichts wachsender Defizite. An einem einzigen Tag stieg die Rendite kurzfristiger Anleihen um 0,3 Prozentpunkte – der größte Sprung seit 2009. Zehnjährige US-Anleihen legten um 14 Basispunkte auf 4,40 Prozent zu. Der Preisverfall war Ausdruck sinkender Nachfrage. BlackRock stellt fest: Höhere Zölle treiben die Inflation – besonders in Kombination mit einer abwertenden Währung. Dies schwächt die Rolle von Staatsanleihen als sicherer Hafen. Künftig, so BlackRock, wird die Finanzierung der US-Schulden stärker von inländischen Investoren abhängen, da globale Anleger angesichts wachsender Risiken keine Anreize sehen, ihr US-Exposure auszubauen. Niemand könne vorhersagen, wann Investoren sich abwenden – doch Experten raten, auf zwei Indikatoren zu achten: eine Schuldenquote jenseits von 130 Prozent (derzeit 122 Prozent) und das Ausbleiben klarer Pläne zur Defizitreduzierung. Ein positiver Faktor könnten steigende Einnahmen aus neuen Zöllen sein.
Deutschlands Pläne
Die Bundesregierung will bis 2029 neue Schulden in Höhe von 850 Milliarden Euro aufnehmen. Der Großteil soll in Verteidigung und Infrastruktur fließen. 2025 sind Kredite in Höhe von 81,8 Milliarden Euro geplant – 2024 waren es 39 Milliarden. Finanzminister Lars Klingbeil betont die Notwendigkeit wachstumsfördernder Investitionen: „Ich glaube, nichts ist teurer als die Stagnation der letzten Jahre.“ Bis 2029 will Deutschland das neue NATO-Ziel von 3,5 Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben erreichen.
Auch andere Länder verschulden sich massiv. Frankreich plant für 2025 ein Haushaltsdefizit von 5,5 Prozent – regelmäßig liegt der staatliche Umverteilungsanteil bei etwa 58 Prozent des BIP. Im Vorjahr lag das Defizit bei 5,8 Prozent – fast doppelt so hoch wie die EU-Grenze von 3 Prozent. Damit verzeichnete Frankreich das drittgrößte Defizit in der EU nach Rumänien und Polen. Die Staatsverschuldung beträgt 3,3 Billionen Euro. Die Zinsausgaben Frankreichs liegen 2025 bei rund 62 Mrd. Euro – vergleichbar mit den Verteidigungs- und Bildungsausgaben. Ohne Gegenmaßnahmen könnten sie bis 2029 auf 100 Milliarden steigen. Ein weiterer Treiber der Schuldenwelle: die pandemiebedingte Erwartungshaltung der Bürger – Transferleistungen werden politisch zunehmend als Normalzustand angesehen. Zudem steigen die Ausgaben wegen demografischer Trends. Die Babyboomer gehen in Rente, Gesundheits- und Pensionskosten explodieren. Selbst unter günstigen Bedingungen wird der Schuldenanstieg für Regierungen kaum vermeidbar sein. Beispiel Deutschland: Die Zuschüsse zur Rentenversicherung sollen von 116,3 Milliarden Euro im Jahr 2024 auf 140,8 Milliarden Euro im Jahr 2028 steigen.



