100 Jahre Spitzbergen-Vertrag – Norwegen bekräftigt Arktis-Anspruch
Vor genau einem Jahrhundert wurde Spitzbergen offiziell Norwegen zugesprochen. Mit dem Spitzbergen-Vertrag von 1925 erhielt das Land die Souveränität über die Inselgruppe in der Arktis, musste jedoch anderen Staaten gewisse Nutzungsrechte einräumen. Heute, angesichts wachsender geopolitischer Spannungen, betont Oslo erneut seinen Anspruch auf das Territorium – und sendet deutliche Signale an Russland, die USA und China.
Norwegens Regierungschef Jonas Gahr Støre erklärte beim feierlichen Hissen der norwegischen Flagge am 78. Breitengrad: "Dies ist der nördlichste Teil Norwegens und unterscheidet sich in keiner Weise vom Rest des Landes." Zum Jubiläum gab es Kranzniederlegungen, Gedenkgottesdienst, Ansprachen und kulturelle Veranstaltungen.
Strategischer Wandel in der Arktis
Während der norwegische Kohleabbau in Spitzbergen jahrzehntelang die physische Präsenz des Landes sicherte, wurde die letzte Mine in norwegischer Hand im Sommer geschlossen. Tor-Arne Iversen, langjähriger Leiter der Abbauarbeiten, nannte dies "einen äußerst dummen Beschluss". Im russisch geprägten Barentsburg hingegen wird weiter Kohle gefördert.
Heute lebt die Region vor allem von Tourismus und Wissenschaft. Über 150.000 Menschen besuchen jährlich die Hauptstadt Longyearbyen und umliegende Orte – oft mehr, als die gesamte Bevölkerung von rund 3.000 Einwohnern. Forschende aus über 60 Staaten, darunter auch aus der Schweiz, sind vor Ort aktiv.
Einzigartiger politischer Status
Der Spitzbergen-Vertrag macht den Archipel zu einem besonderen geopolitischen Raum. Zwar gehört er zu Norwegen, doch Bürger aller Vertragsstaaten – darunter Russland – dürfen sich hier niederlassen und wirtschaftlich betätigen. Eine Militarisierung ist laut Vertrag verboten.
Lange funktionierte das Nebeneinander von Norwegern und Russen problemlos. Doch seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich das Verhältnis drastisch verschlechtert. Moskau wirft Oslo vor, Spitzbergen in militärische Planungen der NATO einzubinden. Das russische Außenministerium spricht von einer Verletzung des Spitzbergen-Vertrags.
Russische Präsenz und Provokationen
Barentsburg ist mit etwa 350 Einwohnern der wichtigste russische Außenposten. Betrieben wird der Ort vom Staatskonzern Trust Arktikugol, der jährlich rund 100.000 Tonnen Kohle fördert – weit unter wirtschaftlicher Rentabilität. Experten sehen den Abbau vor allem als strategische Präsenzsicherung.
Russland pflegt auch in der aufgegebenen Siedlung Pyramiden eine symbolische Präsenz. Dort wurde ein Hotel für Touristen wieder eröffnet, kurz bevor das Nutzungsrecht abgelaufen wäre. Seit 2022 sind Kontakte zwischen Longyearbyen und den russischen Orten weitgehend eingestellt. Stattdessen häufen sich Provokationen wie das Hissen der Flagge der sogenannten Volksrepublik Donezk in Pyramiden oder eine Militärparade in Barentsburg.
Arktis-Anspruch und geopolitische Interessen
Für Russland ist die Arktis ein Gebiet mit enormem Ressourcenpotenzial. Hochrangige Vertreter in Moskau werfen dem Westen vor, die Region zu militarisieren. Norwegen bestreitet dies und betont, dass es keine militärischen Stützpunkte auf Spitzbergen gibt. Lediglich jährliche Besuche der Küstenwache sollen die Souveränität symbolisch unterstreichen.
Gleichzeitig sehen Experten die Gefahr, dass Russland den Archipel als Testfeld nutzen könnte, um die NATO herauszufordern. Bereits 2018 beschrieb Politikwissenschaftler James Wither Spitzbergen als "Achillesferse der NATO". Ähnliche Warnungen kommen vom deutschen Geheimdienstchef Bruno Kahl.
NATO-Bereitschaft und norwegische Verteidigungspläne
Der frühere US-General Ben Hodges ist überzeugt, dass die NATO Norwegen im Ernstfall unterstützen würde. Norwegen werde zunächst selbst handeln, könne aber auf schnelle Hilfe der Alliierten zählen. Hodges betont, dass eine entschlossene Unterstützung der Ukraine der beste Weg sei, einen Konflikt in der Arktis zu verhindern.
Ein russischer Angriff auf Spitzbergen könnte aus Sicht von Experten Teil einer Strategie sein, um den Zusammenhalt der NATO zu testen. Sollte die Ukraine nicht ausreichend unterstützt werden, könnte Russland nach einer Phase der militärischen Erholung seine Präsenz in der Arktis ausbauen.
Eisige Fronten im hohen Norden
Bis zum 24. Februar 2022 waren touristische Ausflüge von Longyearbyen nach Barentsburg beliebt. Heute warnt die norwegische Tourismusbehörde vor Besuchen. Die einst pragmatische Koexistenz ist einer frostigen Distanz gewichen. Mit dem 100. Jahrestag des Spitzbergen-Vertrags steht fest: Das Abkommen bleibt ein zentrales Instrument, um norwegische Souveränität zu sichern – und gleichzeitig den Einfluss anderer Staaten wie Russland zu regeln. Doch in Zeiten globaler Machtverschiebungen ist unklar, ob die feinen Balancepunkte des Vertrags auch in Zukunft halten.
Norwegens Strategie lautet, die Präsenz zu stärken, sowohl durch Investitionen als auch durch mehr norwegische Familien vor Ort. Einschränkungen für nicht-norwegische Einwohner unterstreichen den Willen Oslos, den Arktis-Anspruch aktiv zu verteidigen.
Ausblick: Stabilität oder neuer Konflikt?
Der Spitzbergen-Vertrag ist heute genauso umstritten wie bedeutend. Russland nutzt seine Rechte, um Präsenz zu zeigen und geopolitischen Einfluss zu sichern. Norwegen wiederum setzt auf internationale Forschung und Tourismus – Bereiche, die stark von globalen Beziehungen abhängen.
Die Zukunft Spitzbergens hängt eng mit der Entwicklung des Krieges in der Ukraine, den Beziehungen zwischen NATO und Russland und den globalen Begehrlichkeiten in der Arktis zusammen. Sicher ist nur: Die strategische Lage des Archipels macht es zu einem Schlüsselpunkt im Machtgefüge des 21. Jahrhunderts.