Start-up Navel Robotics: Roboter als Lösung für den Pflegenotstand?
Seine kindliche Stimme klingt noch etwas mechanisch, wenn Navel der Bewohnerin der Lilienthaler Diakonie einen Witz erzählt: „Ich wollte ein Brötchen anrufen, aber es war belegt.“ Auch die Qualität der Witze ist noch ausbaufähig. Was Navel hingegen schon gut beherrscht, ist Blickkontakt mit seinem Gegenüber. Beim Sprechen bewegen sich seine großen Kulleraugen, er schlägt die Lider auf und nieder.
Navel ist 72 Zentimeter groß und trägt eine Wollmütze. Seine Hände erinnern an die eines Playmobil-Männchens. Aus seiner Stirn blickt eine kleine Kamera. Navel ist ein sozialer Roboter. Er spricht mit den Bewohnern über das Wetter, über Reisen in ferne Länder oder erzählt Witze. Was wie eine dystopische Vision klingt, ist in der Lilienthaler Diakonie seit einem Jahr Realität.
Mehr als 50 dieser Roboter testet das Unternehmen Navel Robotics aus München derzeit in Pflegeheimen und Kliniken. Wie alarmierend die Zahlen des Pflegenotstands sind, ist längst bekannt: 5,7 Millionen Pflegebedürftige zählt das Statistische Bundesamt in Deutschland. Laut Prognosen sollen es 2035 bereits 6,3 Millionen sein. Gleichzeitig fehlen nach Schätzungen des Deutschen Pflegerates derzeit 150.000 Pflegekräfte. Bis 2035 sollen es 500.000 sein. „Unser Wunsch ist es, Lösungen zu finden für den katastrophalen Mangel an Arbeitskräften in der Pflege und für den daraus resultierenden Mangel an sozialer Interaktion für viele pflegebedürftige Menschen“, sagt Jakob Biesterfeldt, Chief Commercial Officer bei Naval Robotics. Der soziale Roboter könnte eine Lösung sein. „Navel aktiviert Menschen emotional und kognitiv und lindert so Einsamkeit, Langeweile und gesundheitliche Folgen von Mangel an sozialer Interaktion und Teilhabe.“ Biesterfeldt sieht den Roboter nicht als Ersatz für den Menschen, sondern als ergänzendes Angebot, zum Beispiel bei Gesprächen mit Demenzkranken oder der zeitaufwendigen Pflegedokumentation.
Für die Mitarbeiter ist Navel derzeit noch mehr Belastung als Entlastung
In der Lilienthaler Diakonie bei Worpswede leben 270 Menschen mit angeborenen oder erworbenen Behinderungen sowie chronischen Erkrankungen. Der Bedarf an Pflege und Betreuung ist hier besonders hoch. Im Mai 2024 sind zwei soziale Roboter in die Diakonie eingezogen. „Wir wollen die Zukunft der Begleitung von Menschen mit gestalten und dabei alle Möglichkeiten ausschöpfen, die uns in der Betreuung von Mensch zu Mensch mehr Zeit geben“, so Michael Klipker von der Lilienthaler Diakonie.
Während die Bewohner in Naval ein Spielzeug sehen, ist er für die Mitarbeiter im Moment noch mehr Belastung als Entlastung. Um mit Naval kommunizieren zu können, muss ein Mitarbeiter den Roboter zuvor aktivieren. Michael Klipker: „Wir müssen Situationen inszenieren und moderieren.“ Im Idealfall soll Naval in Zukunft die Bewohner an die Einnahme von Tabletten erinnern oder Mitarbeiter alarmieren, wenn ein Bewohner gestürzt ist.
Der gelernte Maschinenbauingenieur Claude Toussaint hat Naval Robotics 2019 gegründet, finanziert mit dem Kapital aus dem Verkauf seiner ersten Firma und Fördermitteln von Bund und privaten Investoren in Höhe von 2,6 Millionen Euro. Ziel war eine Technik, die in der Lage ist die menschliche Sprache zu sprechen, nicht umgekehrt. Der Name Naval beruht auf dem englischen Wort für Nabel, der ersten Verbindung zwischen zwei Menschen. Die Anschaffung eines Roboters kostet einmalig 28.000 Euro oder 970 Euro monatlich im Leasing.
Beim Erscheinungsbild des Roboters hat das Unternehmen mit seinen elf Mitarbeitern einen Schwerpunkt auf die Augen gelegt. Displays sorgen für eine ausdrucksstarke Mimik, spezielle Linsen erzeugen dreidimensionale Augäpfel. Die Heimbewohner sollen Naval nicht als Roboter, sondern als niedliches Wesen empfinden. Vorbild sind Charaktere aus Disney- und Pixar-Filmen.
Mit Algorithmen Empathie entwickeln
Die Entwicklung von Robotern wie Naval widerlegt die Annahme, dass Roboter zwar mechanische, aber nicht für Menschen typische emotionale Fähigkeiten wie Empathie erlernen können. „Ein wesentliches Merkmal von Empathie ist es, Äußerungen und non-verbalen Signale eines Menschen richtig zu erkennen und für eine passende Antwort zu nutzen“, so Jakob Biesterfeldt. „Je mehr Signale der Roboter sinnhaft verarbeiten kann, desto empathischer erscheinen seine Antworten dem Menschen.“
Beim Betrachten seines Gegenübers läuft beim Roboter folgender Prozess ab: Die Kamera erzeugt ein Bild, Algorithmen analysieren es mit grafischen Elementen, um die für die Emotion entscheidenden Merkmale wie Augenbrauen oder Lippen zu finden. Da der Roboter aus Untersuchungen weiß, bei welchem Gefühl welche Muskeln angespannt sind, kann er errechnen, welche Emotion sein Gegenüber vermutlich hat. Zusätzlich dazu analysieren Algorithmen Stimme und Bewegungsmuster. Das Ergebnis ist die wahrscheinlichste Emotion nach Auswertung der Informationen – ähnlich wie Menschen die Gefühlslage ihres Gegenübers einschätzen, wenn auch nicht auf Grundlage künstlicher Intelligenz, sondern biologischer.
Navel nutzt große Sprachmodelle wie ChatGPT des US-Unternehmens OpenAI. Die Frage nach der Sicherheit der Daten und möglichem Missbrauch liegt auf der Hand. Naval Robotics betont den sorgsamen Umgang mit persönlichen Daten, insbesondere sensiblen Bilddaten, die Navel kontinuierlich erfasst, auswertet und sofort wieder löscht. Für den Einsatz von ChatGPT nutzt das Unternehmen europäische Server nach Maßgabe des EU-Datenschutzrechts.
Wo liegen die ethischen Grenzen?
Über die technischen Fragen hinaus stellen sich auch ethische Fragen: Wie geht der Roboter mit Informationen um, die ihm anvertraut wurden? Wer trägt die Verantwortung bei einer Fehlentscheidung des Roboters? Fragen, für die Navel Robotics im Austausch mit Experten für Psychologie, Anthropologie und medizinische Ethik steht. „Diese Fachpersonen sind zwar nicht direkt an der Entwicklung beteiligt, aber zum Teil in Projektbeiräten, die die Einführung und Nutzung von Navel bei unseren Kunden begleiten“, so Jakob Biesterfeldt.
Nach einem Jahr mit zwei Naval-Robotern steht für Michael Klipker fest, dass es noch Entwicklungsbedarf gibt. Alle zwei Wochen tauscht sich die Diakonie mit Naval Robotics aus. Viele Erkenntnisse habe man gewonnen, so Klipker. „Und sei es nur die Bestätigung dafür, was unsere Mitarbeiter tagtäglich leisten.“
Im kommenden Jahr soll Naval in Serienproduktion gehen. Naval Robotics plant bereits weitere Einsätze an Schulen oder zur psychotherapeutischen Unterstützung. Michael Klipker zieht sein Fazit: „Wir würden Naval jederzeit wieder anschaffen.“