Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Mit dem kritischen Brief von mehr als 150 Ökonomen an die Bundesregierung zum Thema Eurorettung kam es Anfang Juli zu einer bemerkenswerten Entwicklung in der öffentlichen Debatte über die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Wie nehmen Privatleute und mittelständische Unternehmen Ihrer Meinung nach die aktuelle Krise wahr?
Max Otte: Mittelständler und Private wissen, was schiefläuft, und nehmen wahr, dass in der Wirtschaftspolitik viele Dinge nicht richtig laufen. Das, was oft als Populismus abgetan wird, ist eigentlich ein guter Instinkt. Aber nach 5 Jahren Krise sind viele so stark verunsichert, dass einfach die Nerven blank liegen. So ist neben dem allgemeinen Gefühl, dass etwas schiefläuft, eine umfassende Bewertung für viele schwer.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Selten waren die Entwicklungen der Wirtschaft in Massenmedien so präsent wie im Verlauf der Eurokrise. Hat die Krise das Interesse der Menschen in Europa für die Wirtschaft gesteigert oder wenden sie sich eher resigniert ab?
Max Otte: Die Menschen sind schon interessierter. Der Informationsstand über Wirtschaftsthemen ist bei Privatleuten höher als vor 10 oder 20 Jahren. Die Deutschen haben da schon etwas gelernt und sind informierter geworden. Aber die Politik kommt auch ständig mit neuen Deutungen und einer unterschwelligen Panik. Insgesamt weiß man zwar mehr, aber man wird bombardiert mit widersprüchlichen Deutungen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie gehen also davon aus, dass die Deutschen heute mehr über Wirtschaft wissen?
Max Otte: Deutlich mehr. Wirtschaftsthemen spielten im Lande Goethes lange keine wichtige Rolle. Man ging zwar zu seiner Firma und machte dort seine Arbeit, hatte aber sonst eher kulturelle Interessen. Da hat sich in den letzten 10 Jahren wirklich viel getan.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wird die Bevölkerung ausreichend und richtig über Entwicklungen und bevorstehende Entscheidungen in der Politik informiert?
Max Otte: Der Informationsfluss ist gesteuert von Interessen. Noch nicht einmal der Bundestag wird richtig informiert, wie soll da die Bevölkerung richtig informiert werden? Über unsere Köpfe hinweg werden schlimme Entscheidungen getroffen, die unsere Demokratie gefährden und deren wirtschaftliche Folgen unabsehbar sind. Da wird viel mit Angst gearbeitet. Es heißt beispielsweise, es wäre schrecklich, würde Griechenland den Euro verlassen. Dabei wäre dies der erste Schritt zur Gesundung der Eurozone.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wessen Interessen bestimmen denn die Entscheidungen und den Informationsfluss? Sind das jene der Politiker …
Max Otte: Die Politiker fühlen sich sicher wohl, weil sie sich so wichtig machen können. Die internationalen Finanzinstitute verdienen teilweise auch an der Krise – wie etwa die Deutsche Bank, Hedgefonds oder Private-Equity-Firmen. Für die sind die Volatilität auf den europäischen Märkten und eine Verunsicherung der Bevölkerung eigentlich gut. Bei den griechischen Privatisierungen etwa werden die auch wieder mitkassieren. Und letztlich auch die USA, die kein Interesse an einer starken Eurozone haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Krisenpolitik in Wirtschaftsfragen ist nicht erst durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eng verbunden mit Fragen der europäischen Integration und der Wahrung demokratischer Prinzipien. Verfügt die Bevölkerung über das nötige Wissen, um diese Fragen richtig einordnen zu können?
Max Otte: Den ESM können die meisten schon richtig einordnen. Sie ordnen ihn anders ein als die politische Elite. Wir haben einen Spalt zwischen Bevölkerung und Eliten: Die Bevölkerung will den ESM nicht, die Eliten wollen ihn. Das kann man so pauschal sagen. Dass das eine Einschränkung Deutschlands ist, eine Belastung und verfassungsrechtlich höchst bedenklich, das haben die meisten schon mitgekriegt. Zumindest die, die sich dafür interessieren.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es wäre also gar nicht so schwer, diese Problemfelder klar und deutlich zu kommunizieren, aber es besteht kein tatsächliches Interesse daran?
Max Otte: Wir müssen erst einmal die Zahl der Ökonomen um 3/4 oder noch mehr reduzieren. Denn die sind für den größten Teil der Verwirrung verantwortlich. Die meisten Ökonomen heutzutage sind scholastisch-dogmatische Marktökonomen, die an quantitative Modelle glauben. Je mehr wir von denen haben, desto größer ist die Verwirrung. Man müsste das Augenmerk wieder stärker auf die politische Ökonomie richten. Es ist Tatsache, dass es Interessen von Staaten, Industrien und anderen Akteuren gibt. Markt und Macht sind zwei Seiten einer Medaille. Es gibt keinen machtfreien Markt. Deshalb verfolge ich den Ansatz der politischen Ökonomie von Friedrich List, Karl Marx, Max Weber oder Werner Sombart. Man kann auch die konkreten und gesellschaftlichen Machtbedingungen von Debatten offenlegen. Das war früher die Aufgabe kritischer Sozialforschung gewesen. Die modernen Ökonomen widmen sich dem so gut wie nicht.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Müsste auch in der Bildung und in der Forschung eine Rückbesinnung auf ältere wirtschaftstheoretische Prinzipien stattfinden?
Max Otte: Ja, in der Forschung braucht es eine Wiederentdeckung der Wirtschaftsgeschichte und der politischen Ökonomie, und in der Bildung könnte man das natürlich auch lehren. Die Ökonomen machen eben Partialmodelle und damit können sie so lange rechnen, bis sie fast alles beweisen können. Ein anderer bestimmt ein paar Parameter anders und beweist dann das Gegenteil. Viele Dinge wären einfacher, wenn man sich hinter den Debatten auch die Machtstrukturen und Interessen anschauen würde. Das hat nichts mit Verschwörungstheorien, sondern mit kritischer Sozialwissenschaft zu tun.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Erleben Sie das so ‒ dass man schnell in die Ecke der Verschwörungstheoretiker gedrängt wird, wenn man diesen Ansatz verfolgt?
Max Otte: Ich konnte das für mich bisher vermeiden. Mein Argument ist immer, dass die kritische Analyse von Machtstrukturen die ureigene Aufgabe von kritischen Sozialwissenschaften ist. Dass es eine „Nahrungskette“ von der Deutschen Bank über Goldman Sachs nach unten gibt und dass Goldman Sachs letztendlich im Zentrum dieses Systems sitzt, das ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine konkrete Machtstruktur. Wenn sich 5 oder 6 Akteure im Hinterzimmer zusammensetzen und einen Masterplan ausdenken würden – das wäre Verschwörung.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Mittelstand hat das Gefühl, die Hauptlast für Deutschlands Krisenpolitik zu tragen. Es regt sich hier zunehmend Widerstand. Kann oder muss auf mittelständische Unternehmen mehr Rücksicht genommen werden?
Max Otte: Es gibt einen Systemkrieg der großen Konzerne und der Politik gegen den Mittelstand. Im 20. Jahrhundert gab es letztlich einen Konflikt des angelsächsischen Kapitalmarktsystems gegen das bank- und kreditorientierte deutsch-österreichisch-schweizerische System. Wir hatten seit circa 1850 ein System, das genau das gemacht hat, was es eigentlich soll: lokale Ersparnisse über Kredite den lokalen Unternehmen zur Verfügung stellen. Das Kreditgeschäft ist ein schwieriges. Wenn das Vertrauen da ist, wie in Deutschland, dann funktioniert es. Aber da geht es zunächst mal darum, langfristig und nachhaltig Dinge zu prüfen und die verliehene Summe wieder zurückzubekommen. Dann bekommt man ein paar Prozent oben wieder drauf.
Das ist natürlich nicht so sexy wie das Kapitalmarktgeschäft. Aber Mitteleuropa war durch ein kreditorientiertes System geprägt, das im Prinzip bis in die 80er hinein erhalten blieb. Unser Banken- und Sparkassensystem funktioniert eigentlich gut. Doch wenn man das immer weiter belastet, wird es zerstört. Das passiert durch Auflagen, obwohl die eigentlich genug Eigenkapital und auch keine großen Risiken haben.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Meinen Sie damit die Basel-III-Bestimmungen?
Max Otte: Sparkassen und Geschäftsbanken müssen mit denselben Auflagen leben wie die großen Investmentbanken. Damit macht man dieses System kaputt. Noch paradoxer kann es nicht gehen. Aber das traut sich kein deutscher Politiker zu sagen. Das geht über Basel, London oder Brüssel. Wir haben eine Anti-Mittelstands-Politik, das ist ganz klar.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele sehen ihre Interessen nicht mehr richtig vertreten. Sie wollen mehr mitbestimmen und beginnen, sich zu organisieren. Gibt es für solche Gruppen Spielraum und Möglichkeiten, in die europäische Krisenpolitik mit einzugreifen, und wäre dies sinnvoll?
Max Otte: Wenn wir unser System – unsere soziale Marktwirtschaft und unser kreditorientiertes Bankensystem – retten wollen, dann brauchen wir eine Koalition aus Mittelstand, Gewerkschaften, Volksbanken, Raiffeisenbanken, Sparkassen und Bürgerinnen und Bürgern. Dann kann das klappen. Aber auch hier geht es wieder um Machtstrukturen. Ein Beispiel sind die Familienunternehmen, die sich sehr gut organisieren. Aber das reicht noch nicht, da braucht es eine größere Koalition.
Dr. Max Otte ist Professor für quantitative und qualitative Unternehmensführung am Institut für Unternehmensführung und Entrepreneurship der Karl-Franzens-Universität in Graz.