Im Ukraine-Konflikt drohen sich der Westen und Russland gegenseitig mit Wirtschaftssanktionen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat dabei eine gewaltige Waffe in der Hand: den staatlich kontrollierten Gaskonzern Gazprom. Dieser hatte der Ukraine nach Auseinandersetzungen der Regierungen bereits 2006 und 2009 die Lieferungen gekürzt. Vor fünf Jahren waren so in Südosteuropa mitten im Winter Hunderttausende Haushalte von der Stromversorgung abgeschnitten. Fraglich ist jedoch, ob Putin auch im aktuellen Konflikt um die ukrainische Halbinsel Krim auf ähnliche Mittel zurückgreift.
"Wenn der Kreml uns sagt, wir sollen es anhalten, dann halten wir das Gas an", sagt ein Gazprom-Insider. An der Unternehmensspitze sitzen immer noch die drei Top-Manager, die Putin beim Konzernumbau 2001 dorthin schickte: sein alter Gefolgsmann Alexej Miller als Firmenchef, Finanzvorstand Andrej Kruglow und Exportchef Alexander Medwedew. Aber die Zeiten haben sich geändert. "Die Situation unterscheidet sich sehr von 2006 und 2009", räumt der Insider ein.
In den beiden Gasstreits mit der Ukraine hat auch die russische Seite Federn gelassen. Die westlichen Länder äußerten massive Zweifel an der Verlässlichkeit des Energielieferanten. Kritiker warfen der Regierung in Moskau vor, Gazprom als Knüppel einzusetzen, um Nachbarstaaten zu züchtigen. Aber die Schläge taten auch dem Gas-Riesen nicht gut. Einst das weltweit drittschwerste Unternehmen an der Börse ist Gazprom dort kräftig zusammengeschrumpft. Die Marktkapitalisierung summierte sich zuletzt lediglich noch auf 84 Milliarden Dollar. Damit ist der Konzern fünf Mal weniger wert als während des Ölbooms 2008 und ein Leichtgewicht verglichen mit dem US-Ölriesen Exxon Mobil, der jüngst 417 Milliarden Dollar auf die Waage brachte. Auf seinen Märkten ist Gazprom dagegen noch immer eine gewaltige Macht. Die Gesellschaft steht für 15 Prozent der internationalen Gasproduktion und -reserven und deckt knapp ein Drittel des Gasbedarfs in der EU ab.
Vor diesem Hintergrund hat Gazprom kein Interesse, ein weiteres Mal in den Kampf geschickt zu werden. "In dem heutigen Streit ist das Gas keine Waffe", sagt der Unternehmensinsider. Das liegt auch daran, dass sich die Verträge mit den Kunden in den vergangenen Jahren geändert haben. Gazprom ist nun verantwortlich für den kompletten Lieferweg einschließlich der Strecke durch die Ukraine. "Wo auch immer der Grund für die Kürzung liegt - Gazprom ist der Übeltäter", so der Insider. Hinzu kommt, dass die EU und speziell Deutschland über große Gasreserven verfügen, die das Druckmittel von Lieferunterbrechungen entschärfen. Außerdem drohen Gazprom im Falle einer Zuspitzung der Lage Nachteile in den Verhandlungen mit den EU-Wettbewerbshütern.
Auch andere mächtige Akteure könnten Russlands Position als Gasproduzent schwächen. Die USA dürften den europäischen Partnern beiseite springen und dank des heimischen Schiefergas-Booms deren Abhängigkeit von der Versorgung aus Russland verringern, wie manche Politiker voraussagen. Ferner werde Europa angesichts drohender Engpässe die umstrittene Schiefergasförderung selbst forcieren. Nicht zu vergessen ist überdies China. Sollte Gazprom den Europäern den Hahn abdrehen, würde das der Volksrepublik in den langwierigen Verhandlungen über den Bezug von russischem Gas plötzlich deutliche Vorteile verschaffen, argumentiert Chen Weidong, Chef-Analyst der staatlichen Ölfirma China National Offshore Oil Corp.
Aber auch der Westen hat gute Gründe, einen Wirtschaftskrieg mit Russland zu vermeiden. "Wen wollen Sie sanktionieren? Russische Staatskonzerne? Erinnern Sie sich daran, dass diese mehr als 200 Milliarden Dollar Schulden bei westlichen Banken haben", gibt ein Banker zu bedenken. Sehr viele westliche Geldhäuser haben dem Gazprom-Konzern Geld geliehen, der 36 Milliarden Dollar Schulden hat. Auch die in Russland engagierten westlichen Energieriesen Shell, BP und Exxon wollen ihre lukrativen Geschäfte dort nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Alles in allem erwartet Fitch-Analyst Jeffrey Woodruff derzeit keine Unterbrechung der Gaslieferungen. Aber, so warnt er, die Situation sei komplizierter als während der früheren Gasstreits. "Dieses Mal würden Unterbrechungen möglicherweise aus Sanktionen resultieren, weshalb eine Klärung länger dauern dürfte", argumentiert Woodruff. Sein Kollege Konstantin Tscherepanow von der Schweizer Großbank UBS bemüht andere historische Vergleiche, um seine Zuversicht zu begründen: "Denken Sie an die Zeiten des Kalten Krieges, als die politischen Beziehungen zwischen dem Westen und der UdSSR fürchterlich waren. Doch die Gaspipeline funktionierte weiter, und das Gas floss."