Die Sparer haben die erwartet schlechte Nachricht erhalten: Die Europäische Zentralbank (EZB) greift zu außergewöhnlichen Maßnahmen. Damit die Euro-Länder nicht wie zuletzt Japan in eine ruinöse Spirale sinkender Preise, fallenden Konsums und rückläufiger Investitionen rutscht, kappten die Frankfurter Notenbanker am Donnerstag ihren Leitzins auf 0,15 Prozent. Sie machen Geld damit so billig wie nie zuvor und wollen damit die Konjunktur anschieben. Um die Kreditklemme in vielen Krisenländern im Süden der Währungsunion aufzubrechen, erhebt die EZB künftig zudem einen Strafzins von 0,10 Prozent von Banken, die Geld lieber bei ihr parken als es an Firmen und Haushalte weiterzugeben. Dafür senkte sie den Einlagesatz, den Banken bekommen, wenn sie Geld bei der Zentralbank anlegen, erstmals unter die Nulllinie. Dies soll, so das Kalkül, neue Investitionen nach sich ziehen und die Gefahr einer Deflation zusätzlich senken.
Während Unternehmen und Hausbauer tendenziell von den neuen geldpolitischen Schritten der EZB profitieren dürften, haben die Sparer das Nachsehen. Deshalb hatte es in den vergangenen Tagen viel Kritik vor allem aus Deutschland an den sich seit Wochen abzeichnenden neuen Maßnahmen der Notenbank gegeben. An der Frankfurter Börse schoben die Investoren den Dax nach der Zinsentscheidung bis auf 25 Punkte an die Marke von 10.000 Punkten heran, die er aber dann doch nicht übersprang. Am Devisenmarkt gab der Euro auf 1,3560 Dollar nach - so schwach notierte er zuletzt vor vier Monaten.
Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer bezweifelte den Nutzen der Zinssenkung. Der Strafzins führe nicht dazu, dass die Banken in den Krisenländern mehr Kredite an die Unternehmen ausreichten. „Denn die Banken leiden nicht unter vermeintlich zu hohen Notenbankzinsen, sondern unter dem hohen Bestand fauler Kredite, an dem Negativzinsen nichts ändern.“ Die wahren Nutznießer sind nach Ansicht Krämers die Finanzminister der hoch verschuldeten Krisenländer. „Schon im Vorfeld der EZB-Entscheidung sind die Renditen von Staatsanleihen deutlich gefallen. Italien muss für zehnjährige Anleihen nur noch drei Prozent Zinsen zahlen - so wenig wie noch nie seit Einführung des Euro.“ Dadurch sinke der Druck Wirtschaftsreformen anzupacken.
Verständnis für das Handeln der EZB äußerte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher: Die EZB-Maßnahmen könnten seiner Ansicht zwar die Bildung von Spekulationsblasen an den Finanzmärkten und das riskante Verhalten von Banken noch verstärken. „Allerdings wäre es noch riskanter und eine deutlich schlechtere Option, wenn die EZB nichts täte.“ Auch für Deutschland sei die weitere Lockerung der Geldpolitik die richtige Entscheidung. „Eine Erholung der gesamten Eurozone und die Vermeidung einer Deflation sind gerade für die sehr offene deutsche Wirtschaft von enormer Bedeutung.“
Vor der Entscheidung hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble betont, das niedrige Zinsniveau sei keine Dauerlösung, sondern nur vorübergehend. Er habe "jedes Vertrauen" in die EZB. Die Notenbank habe bislang klug agiert. Das niedrige Zinsniveau in Deutschland und Europa habe nicht nur mit den Entscheidungen der EZB zu tun, sondern auch mit dem Zustand der globalen Finanzmärkte
EZB-Präsident Mario Draghi wird am Nachmittag (14.30 Uhr MESZ) die Gründe für die Zinssenkung vor der Presse in Frankfurt erläutern. Die EZB kündigte am Mittag zudem bereits weitere Maßnahmen an, die im Verlaufe des Nachmittags veröffentlicht werden sollen. Denkbar ist etwa eine neue milliardenschwere Geldspritze, mit der die EZB versuchen dürfte, gezielter den stockenden Kreditfluss zu den klein- und mittelständischen Unternehmen zu beleben, die das Rückgrat der Wirtschaft in den 18 Euro-Ländern sind. Draghi hatte zuletzt wiederholt betont, ihm bereite große Sorgen, dass die mangelnde Kreditvergabe die keineswegs robuste Konjunkturentwicklung und den zarten Aufschwung gefährden könnten.
Die EZB hatte bereits auf dem Höhepunkt der Krise 2011/12 die Finanzmärkte mit zwei zusammen eine Billion Euro schweren Liquiditätssalven geflutet. Damals hatten die Banken das Geld allerdings vor allem dafür benutzt, Staatsanleihen zu kaufen und damit auf Sicherheit gesetzt. Zu mehr Krediten jedoch hatte die damalige - von Draghi selbst nach einem deutschen Geschütz aus dem Ersten Weltkrieg „Dicke Bertha“ genannte - Geldspritze nicht geführt. Darüber, wie der Italiener auf dem Chefsessel der EZB jetzt erreichen will, dass mehr Kredite fließen will, rätselten Experten bis zuletzt. Vorbild könnte ein früheres Kreditprogramm der britischen Zentralbank sein.