Experten rechnen in den kommenden Monaten mit Dutzenden „Börsen-Flüchtlingen“,da gerade kleineren Firmen der Aufwand für eine Börsen-Notierung oft zu hoch ist. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte den Rückzug von der Börse im November so leicht gemacht, wie sich das kaum ein Jurist vorstellen konnte.
Bei Anlegern und Unternehmen schlug das ein wie eine Bombe. Inzwischen hagelt es Delisting-Anträge bei den deutschen Börsen. Dort sind Aktien von mehr als tausend Unternehmen notiert. Doch dürfte der Kurszettel in den kommenden Monaten um ein gutes Stück kürzer werden. „Ich gehe davon aus, dass sich mindestens 100 Firmen in den nächsten zwölf Monaten ernsthaft ein Delisting überlegen“, sagt Fondsmanager und Investor Jochen Knoesel zu Reuters.
Noch sind die Antragsteller kleinere Unternehmen wie Schloßgartenbau AG, Elexis, Strabag und Schuler - doch das muss nicht so bleiben. „Die ersten Kandidaten für ein Delisting nach der neuen Rechtsprechung kommen eher aus dem Mittelstand. Große Unternehmen wollen oft nicht die ersten sein, die eine rechtliche Neuerung austesten“, sagt auch Investmentbanker Kames. „Aber spätestens, wenn das Thema zur Normalität geworden ist, werden auch die Großen folgen.“ Bei immer mehr Übernahmen werde darüber gesprochen.
Bei Air Berlin, seit langem am Tropf des Großaktionärs Etihad, scheiterten die Pläne für ein Delisting Finanzkreisen zufolge nur daran, dass sich nicht genügend neue deutsche Anteilseigner fanden, die die Fluggesellschaft braucht, um ihre Landerechte an deutschen Flughäfen nicht zu verlieren. Celesio und Air Berlin äußerten sich nicht zu ihren Plänen.
Die Deutsche Börse stört es nicht, wenn der Kurszettel kürzer wird, im Gegenteil: „Als Börse Frankfurt begrüßen wir die BGH-Entscheidung, weil Emittenten künftig die Gewissheit haben, dass sie sich auch wieder in einem rechtssicheren und geordneten Verfahren von der Börse zurückziehen können“, sagt ein Sprecher. Für die Börsen ist der Aktienmarkt längst keine wesentliche Einnahmequelle mehr. Das Interesse, Firmen dort unbedingt zu halten, ist daher gering.
Für den BGH steht fest: Aktionäre hätten kein Anrecht darauf, dass ihre Aktie an einer Börse gehandelt wird. Das sei eine „schlichte Handels- und Gewinnchance“, die nicht rechtlich geschützt sei, schreiben die Karlsruher Richter in ihrem Grundsatzurteil. Für viele Firmen, die die Lust auf die Börse schon lange verloren haben, ein Befreiungsschlag. Nicht einmal die Hauptversammlung muss zustimmen, ein einfacher Vorstandsbeschluss reicht für den Rückzug. Dieser müsse nur „im Interesse des Unternehmens“ liegen.
Nach diesen Maßstäben wäre auch für Air Berlin ein Delisting gut zu begründen. Frisches Kapital über die Börse einzusammeln - bei einem Kurs von 1,50 Euro faktisch aussichtslos.