Oft, wenn man kritisch über die Globalisierung in ihrer heutigen neoliberalen Form mit den schweren sozialen Verwerfungen in den alten Industrieländern berichtet, gibt es von einigen Seiten einen belehrenden Aufschrei: Die Globalisierung habe doch hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern aus Hunger und Armut befreit.
Das ist jedoch ein weitgehend falsches Lob. Es wird nicht dadurch richtig, dass es von den Profiteuren der Globalisierung, vor allem den wohlhabenden Minderheiten, den Export-Konzernen und ihrer politischen Lobby ständig verbreitet wird.
Zunächst einmal muss man einen wichtigen Unterschied zwischen der schon seit Jahrhunderten bestehenden Handelsverflechtung und der neuen neoliberalen Form der Globalisierung berücksichtigen. Erstere hat natürlich vielen armen Ländern im Entwicklungsprozess geholfen, darf aber nicht mit Letzterer verwechselt werden. Diese neuere und viel intensivere Form an Verflechtung geht weit über den Handel hinaus.
Sie schließt vor allem den Finanzsektor ein, in dem die Entwicklungs- und Schwellenländer ihre Kapitalverkehrskontrollen abbauen mussten, was zu hohen Finanzströmen führte, die aber genauso schnell zurückfließen (Abb. 18434) und bittere Krisen auslösen konnten - wie in der asiatischen Finanzkrise von 1997. Nur China hat sich dem Abbau der Kapitalverkehrskontrollen entzogen.
Dabei beruht die neoliberale Globalisierung in ihren Anfängen auf dem so genannten Washington Consensus, einem Diktat der entwickelten Industrieländer unter Führung der USA. Er fand als Bibel seinen Eingang in die Grundsätze der Washingtoner Institutionen Internaler Währungsfond und Weltbank und fand in den Strukturanpassungsprogrammen des IWF und den Kreditauflagen der Weltbank seinen Ausdruck. Er schrieb zunächst in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den lateinamerikanischen Länder nach der dortigen Schuldenkrise rigorose Wirtschaftsprogramme vor und fand später Anwendung auf viele andere Entwicklungs- und Schwellenländer und schließlich durch ideologische Verbreitung auch auf die Industrieländer selbst.
Das Konzept kam aus der Ecke der "Neuen Rechten", wie Reaganomics und Thatcherismus. Einzelmaßnahmen umfassten vor allem: Nachfragedrosselung und Kürzung der Staatsausgaben, Verbesserung der Effizienz der Ressourcennutzung in der gesamten Wirtschaft durch Rationalisierung und Kostenökonomie, Liberalisierung der Handelspolitik, Deregulierung von Märkten und Preisen einschließlich der Abschaffung von Preissubventionen für Grundbedarfsartikel, Privatisierung öffentlicher Unternehmen und Einrichtungen, Entbürokratisierung und Abbau von Subventionen. Die gleichen Rezepturen sind unter Kohl und dann vor allem Schröder nach Deutschland gekommen und werden nun von Merkel & Co. den Eurokrisenländern auferlegt, soweit das nicht schon längst geschehen ist.
Die neoliberale Globalisierung mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) hat sogar noch zum Elend beigetragen, indem Marktzugang für Agrarprodukte der reichen Industrieländer gegen die Interessen der armen Bauern in den Entwicklungsländern erzwungen wurde, Patentschutz zugunsten der Medikamente der Pharmaindustrien der reichen Industrieländer rigoros durchgesetzt wurde, und auf der Basis weltweiter Vermarktung niedrigst entlohnte und oft wegen der Umweltbedingungen gefährliche Arbeitsplätze geschaffen wurden. Die Näherinnen in Bangladesch und viele Formen von Kinderarbeit gehören hierher, aber auch die bitter ausgebeuteten chinesischen Wanderarbeitnehmer ohne Streikrecht, ohne unabhängige Gewerkschaften, ohne eine angemessene Sozialversicherung und ohne Bürgerrechte in den chinesischen Städten, wo die Exportindustrien angesiedelt sind.
Es ist nicht zu sehen, daß diese Form der Globalisierung seit den 80er Jahren über den normalen und klassischen Handel hinaus zum Abbau von Hunger und Armut besonders beigetragen haben sollte. In den meisten Ländern Afrikas und vielen anderen Entwicklungsländern sind diese Übel wie eh weit verbreitet und haben durch die starke Bevölkerungsentwicklung teilweise noch zugenommen. Immer noch sind mehr als ein Viertel der Kinder in den Entwicklungsländern unter 5 Jahren unterernährt (Abb. 18436), in ländlichen Gegenden Indiens fast die Hälfte. Die neoliberale Globalisierung mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) hat sogar noch zum Elend beigetragen, indem Marktzugang für Agrarprodukte der reichen Industrieländer gegen die Interessen der armen Bauern in den Entwicklungsländern erzwungen wurde, Patentschutz zugunsten der Medikamente der Pharmaindustrien der reichen Industrieländer rigoros durchgesetzt wurde, und auf der Basis weltweiter Vermarktung niedrigst entlohnte und oft wegen der Umweltbedingungen gefährliche Arbeitsplätze geschaffen wurden.
Die Näherinnen in Bangladesch und viele Formen von Kinderarbeit gehören hierher, aber auch die bitter ausgebeuteten chinesischen Wanderarbeitnehmer ohne Streikrecht, ohne unabhängige Gewerkschaften, ohne eine angemessene Sozialversicherung und ohne Bürgerrechte in den chinesischen Städten, wo die Exportindustrien angesiedelt sind.
In Lateinamerika haben schon die Chicago-Boys des neoliberalen Papstes Milton Friedman in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ihr Unwesen getrieben und in Chile mit Unterstützung durch die CIA Allendes sozialistische Bewegung blutig unterdrückt. Diese Region wurde dann das erste Experimentierfeld des Washington Consensus und hat damit sehr wohlhabende Oberschichten zementiert und die Massen in Armut zurückgelassen, wie sich gerade wieder bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien gezeigt hat.
Ähnlich erging es vielen Staaten in Afrika, nur daß die Regime hier auch noch sehr oft korrupt sind und sich das ausländische Interesse auf die Ausbeutung der Rohstoffe konzentriert. Die bittere Armut in Afrika gibt dann vielerorts den Nährboden für einen extremen Islam ab. In Indien, dem zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt ist die Armut unverändert besonders weit verbreitet.
Das Beispiel, das dann immer wieder als Beweis für den Abbau von Hunger und Armut durch die neoliberale Globalisierung herhalten muss, ist China. China wurde 2001 in die WTO aufgenommen und erhielt damit weitgehend freien Marktzugang in den alten Industrieländern für seine zu niedrigsten Arbeitskosten produzierten Waren. Es sollte so ein Höhepunkt neoliberaler Globalisierung werden.
Tatsächlich konnte die chinesische Führung um die 500 Millionen Menschen aus schlimmem Hunger und bitterer Armut holen. Doch dies fand schon Anfangs der achtziger Jahre statt und weit vor dem sich auf China ausdehnenden neoliberalen Globalisierungsprozess. Die entsprechenden Reformen, vor allem die Einführung eines Systems der Verantwortlichkeit der bäuerlichen Haushalte waren zu einem erheblichen Teil nicht mehr als ein notwendiges Zurückdrehen der grotesken und schlimmsten Fehler des chinesischen Kommunismus in einer früheren Periode.
Beginnend in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebten, kam es zu einer brutalen Kollektivierung der Landwirtschaft und in 1953 zur Verstaatlichung des Getreidemarkts, in deren Folge die Bauern zu besonders niedrigen Preisen verkaufen mussten. Diese Kollektivierung unter Mao wurde absichtlich betrieben, um immer mehr des ländlichen Vermögens in die Entwicklung von Städten und Industrien umzulenken.
Als deren Folge kam es in der Periode vom Sieg der kommunistischen Partei bis zum Ende der Kulturrevolution nach verschiedenen Schätzungen zu mehr als 50 Millionen Toten. Allein Maos „Großer Sprung nach vorn“ kostete zwischen 1958 und 1961 durch eine leichtsinnig herbeigeführte riesige Hungersnot 20 bis 40 Millionen Menschen das Leben.
In ihrer Analyse von 2009 kommt die Weltbank denn auch zu dem Ergebnis, die Beseitigung der Zwangskommunen und der Übergang zum System der Verantwortlichkeit der Haushalte in der ersten Hälfte der 80er Jahre sei der wichtigste Einzelgrund für den raschen Abbau an Armut in China gewesen. Das Meiste an Armutsabbau der ländlichen Bevölkerung, auf die etwa 99 Prozent der Armut in China konzentriert war, fand also schon bis etwa 1985 statt und hat mit der Globalisierung wenig bis gar nichts zu tun (Abb. 08261).
Und heute ist China eines der Länder an der Spitze ungleicher Verteilung mit unverändert einem hohen Armutsanteil (Abb. 07103). Die Vorteile aus der neoliberalen Globalisierung sind in einem staatskapitalistischen System vor allem bei der Bourgeoisie an der Westküste und den Parteikadern angekommen, bei den etwa 1,3 Millionen Dollar-Millionären (die dritthöchste Zahl nach USA und Japan) und mehr als 250 Dollar-Milliardären.
Das neueste Beispiel, wie die neoliberale Globalisierung gegen die Interessen der Entwicklungsländer verstößt bietet Indien. Dort gibt es ein System der staatlich geförderten Nahrungsmittelkäufe, um so den Ärmsten der Armen zu helfen. Vor allem in Krisenzeiten kauft der indische Staat damit Grundnahrungsmittel auf und verteilt sie an die Armen. Gleichzeitig wird eine generelle staatliche Nahrungsmittelreserve vorgehalten.
Das System stützt auch die Bauern, denen die Regierung etwas höhere Preise zahlen kann als der Markt. Doch in den jüngsten Verhandlungen der WTO, der sogenannten Doha-Runde, nahm vor allem die USA daran Anstoß, weil es den Handel zum Nachteil amerikanischer Produzenten verzerre, und verlangten, die Subventionen stark einzuschränken. Am Ende hat die neue indische Regierung die Verhandlungen zum 31. Juli 2014, dem vorgesehenen Abschlußtag, platzen lassen.
Doch Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, dessen Vorgänger schon seit Jahren die WTO-Verhandlungen im Interesse der deutschen Exportkonzerne unterstützten, zeigt wenig Verständnis für die indische Entscheidung:
„Die Bundesregierung bedauert sehr, dass in der WTO in Genf keine Einigung über die konkrete Anwendung des Abkommens für Handelserleichterungen erzielt werden konnte. WTO-Generaldirektor Azevêdo hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Blockade vor allem zu Lasten der kleinen und verletzlichen Volkswirtschaften gehen wird. Gerade Schwellen- und Entwicklungsländer hätten von den in Bali beschlossenen Handelserleichterungen besonders profitiert.“
Soll man wirklich vergessen, dass der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) in öffentlichen Erklärungen den möglichen Zuwachs auf mehr als 30 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt hatte, der deutschen Firmen im Auslandsgeschäft ins Haus stehen könnte, sollten wie von der Doha-Runde erhofft die Handelshemmnisse fallen? Ähnlich hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister Michael Glos zur Doha-Runde verkündet, der Abbau bestehender Handelshindernisse schaffe Wachstum und neue Arbeitsplätze auch in Deutschland.
Das und die entsprechenden Interessen der anderen Industrieländer waren die wahren Interessen hinter den neoliberalen Globalisierungsbemühungen in der WTO. Zur Bekämpfung von Hunger und Armut wäre wenig herausgekommen.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäisc
he Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.