Ein Blick auf den realen Zustand der russischen Armee zeigt, dass Russlands Streitkräfte weit von dem entfernt sind, was sie noch in der Sowjetunion waren.
Daher regt sich der Unmut im russischen Generalstab - eine Entwicklung, die auch für Wladimir Putin gefährlich werden könnte: Die russischen Militärs haben noch Michail Gorbatschow in Erinnerung, der aus ihrer Sicht mit Glasnost und Perestroika den Untergang der sowjetischen Weltmacht zu verantworten hat.
Der russische General Juri Jakubow plädierte erst kürzlich für eine neue Militär-Strategie Russlands. Die Hauptfeinde seien neu zu definieren. Dazu gehören die USA und der Westen. Zudem seien Bedingungen für den Einsatz eines nuklearen Präventivschlags festzulegen.
Russland brauche eine komplett neu überarbeitete Militär-Doktrin, die sich den aktuellen Gegebenheiten anpasse. Jakubow ist derzeit der Koordinator der Generalinspekteure des russischen Verteidigungsministeriums.
Die Notwendigkeit einer umfassenden Erneuerung der Armee sieht auch Generalstabs-Chef Waleri Wassiljewitsch Gerassimow geteilt. Dieser will Russland sowohl in der konventionellen als auch in der unkonventionellen Kriegsführung auf den neuesten Stand bringen. Jakubow und Gerassimow werden in Russland nicht nur als reine militärische Persönlichkeiten, sondern als politische Denker und Strategen eingestuft.
Russland verfügt über vier Militär-Distrikte:
Der westliche Militär-Distrikt umfasst auch die Hauptstadt Moskau. Die Kommandozentrale befindet sich in St. Petersburg. Der Befehlshaber ist General Anatoli Sidorow. Zu diesem Distrikt gehört auch die „Sonderregion Kaliningrad“. Dort befindet sich die baltische Flotte.
Die Kommandozentrale des südlichen Militär-Distrikts befindet sich in der Stadt Rostow am Don. Die Truppen in dieser Region sind vor allem im Nordkaukasus aktiv. Der Befehlshaber ist General Alexsander Galkin.
Der östliche Militär-Distrikt ist zugeschnitten auf Sibirien und Ostasien. Die Kommandozentrale befindet sich in Khabarowsk. Der Befehlshaber ist General Sergej Surowikihn.
Die Kommandozentrale des zentralen Militär-Distrikts verwaltet West-Sibirien und die Wolga-Ural-Region. Der Befehlshaber ist Nikolai Bordanowskij.
In den gesamten Regionen befinden sich 150.000 Offiziere und 766.000 Soldaten im aktiven Dienst. Es gibt etwa 2.485.000 Reservisten.
Die russische Bodentruppen verfügen über 15.500 Panzer, 27.607 gepanzerte Kampffahrzeuge (AFV), 5.990 Sturmgeschütze (SPG), 4.625 gezogene Artillerie-Geschütze und 3.781 Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesysteme (MLRS), meldet das Militär-Portal Global Firepower. Zur Luftwaffe gehören über 3.082 Flugzeuge, Jets und Helikopter.
Doch das Land verfügt lediglich über 114 Kampf-Helikopter. Im Vergleich dazu verfügen die USA über 914 Kampfhelikopter. Die Marine verfügt über 352 Schiffe und Boote. Allerdings hat Russland nur einen Flugzeugträger der Klasse Admiral-Kusnezow. Dieser wurde 1991 in den Dienst gestellt. Moskau möchte seinen Bestand um zwei Helikopterträger der Mistral-Klasse aus Frankreich ergänzen.
Weiterhin haben die Russen über 4.600 einsatzbereite nukleare Sprengköpfe in ihren Beständen. Weitere 7.300 sollen in Reserve sein. Zudem verfügt das Land über etwa 330 Interkontinental-Raketen. Hinzu kommen zehn Atom-U-Boote, die mit 160 Raketen und etwa 576 nuklearen Sprengköpfen ausgestattet sind.
In den kommenden Jahren sollen Raketen der Klassen Bulawa (SS-N-30), RS-24 Jars (Nato-Code SS-24) und Iskander-M (SS-26 Stone) gebaut werden.
Das Vertrauen in die heimische Raketen-Technologie ist groß. In den vergangenen Jahrzehnten sind 117 verschiedene Raketen-Technologien zum Einsatz gekommen. Doch dabei handelt es sich teilweise um Erweiterungen älterer Technologien, berichtet Global Security. Das Raketen-Abwehrsystem A-135 (Nato-Code ABM-3) kommt in Moskau zum Einsatz. Es schützt die Hauptstadt und das Umland vor möglichen Angriffen.
In Russland besteht die Wehrpflicht. Der Wehrdienst erstreckt sich über zwölf Monate. Doch junge Russen versuchen dem Dienst zu entkommen. Dieser gilt als besonders brutal und teilweise lebensgefährlich. Im Jahr 2012 haben etwa 245.000 junge Russen den Wehrdienst umgangen. Oftmals werden Ärzten Bestechungsgelder in Höhe von Tausenden von US-Dollar gezahlt, um eine Untauglichkeit bestätigen zu lassen. Andere erscheinen erst gar nicht im Rekrutierungsbüro.
Viele der jungen Männer fürchten die brutalen Aufnahme-Rituale, die Dedowschtschina genannt werden. Dedowschtschina besteht aus Erniedrigungen, Vergewaltigungen und Folter von Wehrpflichtigen durch Dienstältere. Sie ziehen sich über einen langen Zeitraum hinweg und können auch mit dem Tod des Wehrpflichtigen enden. Im Jahr 2010 gab es im russischen Militär 1.700 Dedowschtschina-Opfer, berichtet Partnership for Peace Consortium of Defense Academies and Security Studies.
Hinzu kommt, dass es bis Ende 2013 in zahlreichen Kasernen keine Duschen gab. Zehntausende von Soldaten hatten nur Waschbecken zur Verfügung, meldet RIA Novosti. 500 Kasernen sollen betroffen gewesen sein. Die sanitären Einrichtungen sind noch heute mangelhaft.
General Nikolai Makarow beklagt, dass nur 11,7 Prozent der Russen im Alter von 18 bis 27 Jahren wehrtauglich sind. Etwa 60 Prozent könnten aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht eingesetzt werden. „Wir haben ein ernstes Problem und ich mache keinen Hehl daraus“, zitiert Global Security Makarow. Allerdings sind nicht nur erkaufte ärztliche Atteste ausschlaggebend für diese Misere.
Der Alkoholismus ist ein weit verbreitetes Phänomen in Russland. Etwa 40 Prozent aller arbeitsfähigen russischen Männer sterben an den Folgen des Alkoholismus, meldet der Guardian. Der exzessive Wodka-Konsum gilt in Russland unter jungen Männern als ein Männlichkeitsbeweis. Doch der hohe Ethanol-Gehalt schädigt die Gesundheit massiv.
Der russische Generalstab und Präsident Putin sind sich über die komplizierte Ausgangslage bewusst. Deshalb forciert der Kreml die Privatisierung des Militär-Sektors. In den kommenden Jahren sollen Privat-Armeen Aufgaben der Verteidigung übernehmen.
„Diese Unternehmen bieten die Möglichkeit, die nationalen Interessen ohne die direkte Beteiligung des Staats durchzusetzen“, zitiert Il Caffe Geopolitico den Putin. Die derzeit größte Privat-Armee in Russland ist FGUP Ochrana. Diese wurde 2005 vom Innenministerium ins Leben gerufen und hat mittlerweile mehr Befugnisse als reguläre Sicherheitskräfte. Mitbewerber auf dem Markt beklagen sich über die staatlichen Privilegien, die Ochrana genießt.
In den kommenden zehn Jahren soll die russische Armee auf 500.000 Mann zurückgefahren werden. Bis 2022 soll die Hälfte der Armee aus professionellen Soldaten bestehen, die unter Vertrag stehen sollen. In Kombination mit den Privat-Armeen, die zum Großteil aus russischen Ex-Soldaten bestehen, will Russland seine Militär-Strategie neu formulieren.
Der seltsame Krieg um die Ukraine, bei denen neue Methoden wie Soldaten ohne Hoheitsabzeichen oder eine massive Medien-Kampagne ausprobiert werden, zeigt die Richtung, in die Putin gehen will. Er war damit in der Krim erfolgreich und kann auch den vorläufigen Waffenstillstand in der Ost-Ukraine als Erfolg verbuchen.
Doch im Kern geht es Putin nicht viel besser als Obama, dessen Syrien-Pläne die US-Armee an den Rand einer Meuterei geführt hatten. Die finanziellen Mittel reichen nicht aus, um einen konventionellen Krieg erfolgreich zu führen.
An die Stelle des Gleichgewichts des Schreckens zwischen Ost und West ist die Suche nach effizienteren Methoden getreten, mit der beide Seiten versuchen, die Fiktion einer Weltmacht aufrecht zu erhalten.
Währungskriege, Sanktionen und Gegensanktionen, Cyber-Kriege und gezielte Tötungen per Fernbedienung sind die Mittel, die die Großmächte einsetzen, um hegemoniale Ansprüche durchzusetzen.
Den Preis dafür zahlen in verstärktem Ausmass die Zivilisten. Es gibt keine Kriegserklärungen mehr. Die Bürger werden unmittelbare von staatlichen Gewaltaktionen bedroht. Die Urheber von gewalttätigen Aktionen sind nicht mehr auszumachen.
Auf die Wirkung dieser neuen Form der Auseinandersetzung auf die jeweilige Zivilgesellschaft haben weder Putin noch Obama eine Antwort. Gemeinsam ist beiden nur, dass sie die Bürger nicht mehr schützen können oder wollen.
Die Folge ist eine Art des globalen Bürgerkriegs, bei dem Schritt für Schritt die bürgerlichen Grundrechte beschnitten werden.
Die größte Gefahr liegt in der Schwäche der politischen Führungen in Ost und West.
Wenn Herrschaftssysteme mit dem Rücken zur Wand stehen, verlieren sie nämlich in der Regel jedes Augenmaß.
Von moralischer Verantwortung ist in diesem Szenario naturgemäß erst recht keine Rede mehr.