Im Jahr 2014 verzeichnete Deutschland einen Handelsüberschuss von 217 Milliarden Euro und lag damit weltweit auf Platz 2 hinter China. Handelsüberschüsse entstehen, wenn ein Staat weniger importiert, als er durch den Export von Gütern einnimmt. Die so gebildeten überschüssigen Rücklagen gehen über die Binnennachfrage für Kredite hinaus und werden deshalb an andere Staaten verliehen. Deutschland finanziert dadurch Länder, die mehr ausgeben als sie produzieren und somit ein Handelsdefizit verzeichnen.
Doch statt die Weltwirtschaft anzukurbeln, bremse der deutsche Handelsüberschuss das Wachstum sogar, schreibt der US-Ökonom Chovanec in Foreign Policy. Das Magazin befasst sich mit internationaler Politik und Wirtschaft und zählt zu den meinungsbildenden Zeitschriften in diesem Bereich. Chovanec, Professor für Ökonomie an der Columbia Universität und Chef-Stratege eines internationalen Vermögensverwalters, vertritt in seinem Artikel die These, dass nicht Griechenland aus der Eurozone austreten sollte, sondern Deutschland.
„Die Krise der Eurozone wird häufig eine Schuldenkrise genannt. Aber tatsächlich hatte Europa als Ganzes kein externes Schuldenproblem, sondern ein internes: Deutsche Überschüsse und steigende Schulden in Europas Peripherie waren zwei Seiten derselben Medaille“, so Chovanec. Die Deutschen hätten zu hohe Rücklagen gebildet und die gemeinsame Währung habe sie dazu verleitet, diese Überschüsse an ihre Handelspartner in der Eurozone zu verleihen, anstatt sie in die heimische Wirtschaft zu investieren. Die Peripherieländer hätten das Geld wiederum dazu genutzt, um deutsche Staatsanleihen zu erwerben. „Es gab den Deutschen die Illusion von Wohlstand, indem reale Arbeit gegen Papierschuldscheine eingetauscht wurden, die womöglich niemals zurückgezahlt werden“, schreibt Chovanec weiter.
Da die entstehenden Ungleichgewichte nicht über eine Anpassung der Geldpolitik behoben werden konnten, seien die Schuldnerstaaten gezwungen gewesen, die Nachfrage mit einer Mischung aus Austerität und Schuldenabbau zu drosseln. Diese habe dazu geführt, dass ihre Handelsdefizite mit Deutschland drastisch fielen. Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien hätten ihren Handel mit Deutschland reduziert – im Fall von Griechenland und Irland sogar um mehr als ein Drittel. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte seien somit zwar etwas abgebaut worden, jedoch auf Kosten des Wachstums, so Chovanec.
Über die lockere Geldpolitik der EZB und den schwachen Euro seien die Ungleichgewichte Europas in den Rest der Welt exportiert worden. So stieg der deutsche Handelsüberschuss mit den USA zwischen 2007 und 2013 um 49 Prozent, während die Defizite mit China (-71 Prozent) und Japan (-78 Prozent) förmlich kollabiert sind. Auch die einstigen Handelsdefizite mit Brasilien und Südkorea haben sich inzwischen in Gegenteil verkehrt. Doch diese Strategie sei riskant, warnt der US-Ökonom, denn Deutschland baue darauf, dass sich diese Länder weiter verschulden, um deutsche Exportgüter zu kaufen.
„Was sollte also getan werden? Die beste Lösung – und auch die unwahrscheinlichste – ist, dass Deutschland den Euro verlässt und die wiedereingeführte Deutsche Mark aufwertet“, so Chovanec. Die Handelsüberschüsse seien ohnehin schon vorhanden, doch die Frage sei, wohin sie verliehen werden sollten. „Es wäre wünschenswert, es innenpolitisch zu verleihen und damit eine wirkliche europäische Erholung anzustoßen, als es (noch einmal) Ausländern hinterherzuwerfen, damit sie Dinge kaufen, die sie sich wirklich nicht leisten können.“
Namenhafte US-Ökonomen teilen Chovanecs Forderung, dass Deutschland aus dem Euro austreten soll. So vertritt der Princeton-Ökonom Ashoka Mody in einem Bloomberg-Bericht die Auffassung, dass Deutschland wegen seiner wirtschaftlichen Stärke ein Ungleichgewicht in der Euro-Zone schaffe. Deutschland genieße es zwar, „die Rolle eines Hegemons in Europa“ zu spielen, scheue sich aber davor, die Kosten dafür zu tragen. Darüber hinaus wirft der frühere IWF-Direktor dem Finanzminister Schäuble vor, mit der Forderung des griechischen Euro-Austritts ein politisches Tabu gebrochen zu haben.
„Nun, da die Idee eines Austritts in der Luft schwebt, ist es sinnvoll über die derzeitige politische Realität hinaus zu denken und zu überlegen, wer austreten sollte. Wenn Griechenland austreten sollte, möglicherweise gefolgt von Portugal und Italien in den nächsten Jahren, würden die neuen Währungen dieser Länder stark im Wert fallen. Sie wären nicht in der Lage, ihre Schulden in Euros zu bedienen und ein Domino-Effekt von Zahlungsausfällen wäre die Folge. […] Wenn jedoch Deutschland aus dem Euro austritt – wie einflussreiche Leute wie der Gründer des Hedgefonds Citadel Kenneth Griffin, der Ökonom der Universität von Chicago Anil Kashyap und George Soros vorgeschlagen haben – gäbe es wirklich keine Verlierer“, so Mody.
Ähnlich äußerte sich der ehemalige Vorsitzende der Federal Reserve Ben Bernanke. Er schrieb in einem Beitrag für das Brookings Institut, dass die Arbeitslosigkeit in der Eurozone kontinuierlich steige, während sie in Deutschland auf ein Rekordtief gefallen sei. Bernanke zufolge senke die Bundesregierung die Arbeitslosigkeit über die starke Auslandsnachfrage, vernachlässige dabei jedoch die Binnennachfrage, was zu einem Handelsüberschuss von 7,5 Prozent des BIP geführt hat.
Den Euro sieht Bernanke daher auch weniger als eine gemeinsame Währung, sondern als eine Ansammlung von unterschiedlich starken Teil-Euros, die durch ein fixes Wechselkurssystem aneinander gekoppelt seien. Der ehemalige Fed-Chef schlägt daher vor, dass die Euro-Zone neben dem Fiskalpakt auch eine feste Vereinbarung schließen sollte, die Handelsüberschüsse verbietet oder bestraft. Zudem erneuert er die Forderung von US-Finanzminister Jack Lew, Deutschland müsse seine Binnennachfrage ankurbeln, um die Weltwirtschaft zu stärken.
Auch die französischen Eliten denken offen darüber, dass es für den Euro am besten wäre, wenn Deutschland austritt. Shahin Vallée, früher Berater im französischen Wirtschaftsministerium, ist überzeugt davon, dass der Streit um Griechenland zu einer Spaltung der Euro-Zone führen werde. Die Frage dabei sei nur, ob „dieser Bruch in Form eines geordneten Austritt Deutschlands geschieht, oder ob es zu einem langsamen, wirtschaftlich viel zerstörerischen Austritt Frankreichs und der europäischen Süd-Staaten kommen wird.“ Die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansätze der Mitgliedsländer gingen auch mit einer „jederzeit leicht zum Leben zu erweckenden Germanophobie“ einher, so Vallée weiter.