Politik

Türkei: Hunderttausende Kurden auf der Flucht

Die nächste Welle der Vertreibung könnte aus der Türkei nach Europa kommen: In der Südost-Türkei sind offenbar 200.000 Kurden auf der Flucht. Am Dienstag hat die türkische Polizei Demonstration in Diyarbakir gewaltsam aufgelöst.
22.12.2015 17:41
Lesezeit: 2 min

Etwa 200.000 Kurden flüchten aus der Südost-Türkei. Seit dem August wurden in insgesamt 17 Städten Ausganssperren verhängt. Etwa 10.000 Polizisten und Soldaten sind in dem Gebiet im Einsatz.

Die Betroffenen vor Ort beschreiben kriegsähnliche Zustände. Zahlreiche Opfer sind zu beklagen. Die Geflüchtete Derya T. sagte der Zeitung Today’s Zaman: „Wir hatten kein fließendes Wasser mehr und die Stromtransformatoren sind explodiert. Ich habe sieben Kinder, sie können nicht mehr die Schule besuchen. Sie sind verstört. Wir mussten das Wasser trinken, das wir normalerweise auf der Toilette benutzen. Meine Kinder sind erkrankt, einschließlich des Jüngsten, der noch in den Windeln liegt. Ich konnte sie nicht ins Krankenhaus bringen. Schließlich habe ich Kinder bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Unsere Häuser sind voll von Einschusslöchern.“

Die Geflüchtete Ekrem Ş. berichtet Today’s Zaman, dass seine 11-jährige Tochter von einer Kugel getroffen wurde, als sie Brot holen ging. Ihr Körper soll 15 Minuten am Boden gelegen sein, bevor jemand zu ihr gehen konnte. Denn die Menschen trauen sich nicht mehr auf die Straße. „Ich habe jetzt nur noch zwei Kinder. Wir befinden uns in einer schlimmen Lage“, so der Mann. Er hätte seine Familie schon längst aus dem Konfliktgebiet weggeschafft. Doch ihm fehlen die finanziellen Mittel.

Die Situation in der Region hat sich verschärft, nachdem es in der jüngeren Vergangenheit zu schweren Zusammenstößen zwischen der PKK und türkischen Sicherheitskräften gekommen ist. Mitte Oktober gab es in Ankara einen Bombenanschlag gegen eine kurdische Friedensdemo. Mindestens 100 Personen starben.

Der ehemalige Generalstabschef der türkischen Streitkräfte, Ilker Başbuğ, hatte sich bereits im November zu den Zusammenstößen im Südosten der Türkei geäußert.

Die Regional-Zeitung Haber Diyarbakir zitiert Başbuğ: „Der Kampf gegen den Terrorismus muss ohne Zweifel entschieden weitergeführt werden. Doch parallel dazu müssen Ursachen, die den Zulauf zu Terror-Organisationen fördern, präventiv beseitigt werden. Ich bin zutiefst beunruhigt über die Vorkommnisse in den Städten des Südostens und wir alle müssen uns die Frage stellen: Wie konnte es soweit kommen?“

Mit Tränengas und Wasserwerfern ist die türkische Polizei am Dienstag gegen eine Demonstration gegen die Ausgangssperre in Diyarbakir vorgegangen. Wie ein AFP-Fotograf berichtete, hatten mehrere tausend Demonstranten versucht, in den umkämpften Stadtteil Sur vorzudringen. Die Polizei riegelte den Stadtteil jedoch ab. Als einige Demonstranten Steine auf die Polizisten warfen, setzten die Beamten Tränengas und Wasserwerfer gegen die Protestierenden ein. Unter den Demonstranten waren auch mehrere Abgeordnete.

Für das Stadtviertel Sur, wo es seit Tagen heftige Gefechte zwischen der türkischen Armee und Kämpfern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gibt, gilt seit Ende November eine strikte Ausgangssperre. Damals war dort der prominente prokurdische Menschenrechtsanwalt Tahi Elci erschossen worden.

Die türkische Armee hatte vor einer Woche eine neue Großoffensive gegen die PKK im Südosten des Landes gestartet, die zu heftigen Kämpfen in Städten wie Diyarbakir, Cizre und Silopi führte. Bei den Gefechten in Sur wurden nach Armeeangaben am Montag acht PKK-Kämpfer und ein Soldat getötet. Insgesamt seien damit seit Beginn der Offensive 15 kurdische Aufständische in Sur getötet worden. In Cizre in der benachbarten Provinz Sirnak wurden den Angaben zufolge binnen einer Woche 103 "Terroristen" getötet.

Kurdische Aufständische hatten im Jahr 1984 im Südosten der Türkei einen Kampf um größere Autonomierechte begonnen. Der Konflikt der Regierung in Ankara mit der PKK eskalierte im Juni wieder, der vor drei Jahren eingeleitete Friedensprozess kam zum Erliegen. Auslöser waren mehrere blutige Anschläge der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) auf Kurden. In dem Konflikt wurden in den vergangenen 30 Jahren etwa 45.000 Menschen getötet.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Geldanlage: Mit einem Fondsdepot mehr aus dem eigenen Geld machen

Wer vor zehn Jahren 50.000 Euro in den Weltaktienindex investiert hat, kann sich heute über mehr als 250.000 Euro freuen! Mit der...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Biontech Rekordumsatz während Corona: Jetzt Rekordverluste und Stellenabbau beim Corona-Impfstoffhersteller
12.03.2025

Einst Milliardengewinne, nun Millionenverlust: Nach Rekordumsätzen mit dem Corona- mRNA-Impfstoff ist Biontech in die Verlustzone...

DWN
Politik
Politik Amerika: Hat Joe Biden jemals wirklich die USA regiert?
11.03.2025

Wurde die US-Regierung per Autopen (Unterschriftenautomat) gesteuert? Ein Bericht enthüllt, dass fast alle Biden-Dokumente maschinell...

DWN
Politik
Politik BSW klagt in Karlsruhe auf Neuauszählung der Wahl
11.03.2025

Knapp gescheitert, doch nicht bereit aufzugeben: Das Bündnis Sahra Wagenknecht zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Die Partei zweifelt...

DWN
Politik
Politik Bargeldreform: Verschwinden bald die Ein- und Zwei-Cent-Münzen?
11.03.2025

Kaum jemand zahlt noch mit Ein- und Zwei-Cent-Münzen – stattdessen verstopfen sie Geldbeutel oder verschwinden in Sparschweinen. Die...

DWN
Technologie
Technologie Der Verbrenner-Golf bleibt mindestens bis 2035: Volkswagen Vertriebschef Martin Sander im Interview
11.03.2025

Volkswagen steht vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits soll die ID-Familie den Markt für Elektroautos erobern, andererseits...

DWN
Politik
Politik Grönland wählt heute Parlament
11.03.2025

Die Menschen auf Grönland wählen ein neues Parlament – doch der Wahlkampf wird von außen beeinflusst. Trump mischt sich ein, die...

DWN
Finanzen
Finanzen Künstliche Intelligenz: KI-Trading revolutioniert den Anlegermarkt – Welche Vorteile, Risiken und Möglichkeiten es gibt
11.03.2025

KI-Trading ermöglicht es Anlegern, durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz schneller und präzisere Marktanalysen zu erstellen und...

DWN
Politik
Politik Drohnenangriff auf Moskau fordert drei Todesopfer - Friedensgespräche beginnen
11.03.2025

Ein massiver Drohnenangriff auf Moskau erschüttert Russland: Zwei Tote, beschädigte Gebäude und gesperrte Flughäfen. Während der Kreml...