Die EU-Kommission startet in kurzen Abständen Aktionen gegen vermeintliche Steuersünder: An den Pranger gestellt werden international tätige Konzerne wie Apple, Starbucks, Facebook und andere. Umfangreiche Verhandlungen verbunden mit wilden Drohungen sollen die Unternehmen dazu bewegen, höhere Steuern zu zahlen. Diese Aktionen sind grotesk und peinlich: Die „Sünder“ nutzen nur die Steuervorteile, die ihnen die einzelnen Staaten einräumen.
Ähnlich gestalten sich die Bemühungen, die Steuerparadiese mitten in Europa durch gutes Zureden und Drohungen zu bekämpfen. Trotz aller groß verkündeten Vereinbarungen und Wohlverhaltensregeln können die Schweiz und die Kleinstaaten Liechtenstein, Andorra, Monaco oder San Marino letztlich agieren wie die fernen Bahamas oder die Cayman Islands.
Das Problem ließe sich innerhalb der EU über eine gemeinsame Steuerpolitik lösen, die auch den Umgang mit den Steuer-Oasen erleichtern würde.
Notwendig wäre eine einheitliche Besteuerung der Gewinne
Dazu kommt es aber nicht, weil die Staaten eifersüchtig ihr Recht verteidigen, die Steuern nach Belieben zu gestalten. Somit können Staaten wie Luxemburg und Irland mit großen Vorteilen Firmen zur Ansiedlung bewegen. Andere, wie Frankreich, Belgien oder Österreich, hoffen mit hohen Steuern, ihre Budgets in Ordnung zu bringen. Jedes Land sieht in der Steuerpolitik einen Ausdruck der noch verbliebenen Souveränität, jeder Finanzminister, jede Finanzministerin hält sich für schlauer als die Kollegen in den 27 anderen EU-Staaten.
Notwendig wäre ein einheitliches EU-Recht, das die Besteuerung der Gewinne regelt. Dieses Recht müsste die Systematik, aber auch die Höhe der Steuersätze bestimmen, dann gäbe es aus steuerlichen Gründen kein Argument mehr, ein Land dem anderen vorzuziehen. In der EU wird die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen groß geschrieben, aber die Verzerrung, die durch die unterschiedliche Besteuerung ständig und überall stattfindet, bleibt ein Tabu, das nicht angetastet wird. Dabei sollte man nicht nur die internationalen Konzerne beachten: Es ist auch nicht einzusehen, dass ein kleiner Handwerksbetrieb in einem EU-Land höher besteuert wird als in einem anderen. Angesichts der zahllosen Regelungen, die in fast allen Sparten bereits banale Details bestimmen, kann der Wildwuchs in dem entscheidenden Steuerbereich nur als absurd bezeichnet werden.
Erforderlich ist europäisches Gesellschaftsrecht
Mit einer einheitlichen Gewinnbesteuerung allein ist das Problem nicht zu lösen. Erforderlich ist auch ein europäisches Gesellschaftsrecht. Als ob es keinen EU-Binnenmarkt gäbe, haben die einzelnen Mitgliedstaaten eigene Regelungen für Aktiengesellschaften, GmbH, Genossenschaften oder Personengesellschaften. Die Grundlagen der Societas Europaea, der Europäischen Aktiengesellschaft, wurden mit einer EU-Verordnung aus dem Jahr 2001 geschaffen, doch spielt diese Gesellschaftsform keine entscheidende Rolle.
Wenn alle Unternehmen in Europa den gleichen Regeln unterworfen sind, wäre ein weiteres, lautstark immer wieder betontes Anliegen der EU umgesetzt: Transparenz. Niemand müsste lange überlegen, wie die einzelnen Unternehmen funktionieren, allen wäre klar, was unter dem Begriff „Aktiengesellschaft“ oder „GmbH“ oder anderen Bezeichnungen zu verstehen ist. In einem europäischen Gesellschaftsrecht könnte man auch einfach festschreiben, dass Unternehmen jedenfalls im Rahmen einer der gesetzlich vorgesehenen Formen zu agieren haben. Internationale Konzerne könnten dann nicht nach Belieben über Filialen oder Vertreter agieren, die aus einer Steueroase gesteuert werden, in die auch die Gewinne transferiert werden.
Die ständige Erfindung neuer Buchhaltungs- und Bilanzierungsregeln
Auch ein drittes Element ist unverzichtbar: Eine einheitliche Rechnungslegung. Getrieben von den Kapriolen der international tätigen Agenturen – IASB in Großbritannien und FASB in den USA – werden laufend die Buchhaltungs- und Bilanzierungsregeln geändert. Gepflegt wird die Illusion, dass die IFRS – International Financial Reporting Standards – für vergleichbare Daten sorgen. Dies ist aus zwei Gründen nicht der Fall: Zum ersten wird IFRS nicht überall gleich angewendet, insbesondere die EU hat eine spezielle Variante von IFRS übernommen. Vor allem aber wird IFRS immer wieder korrigiert und gerade derzeit sollen IFRS 4 und IFRS 9 für einschneidende Änderungen sorgen.
Neben IFRS kommen zudem die traditionellen Rechnungslegungen bei der Erstellung so genannter Handelsbilanzen zur Anwendung – in Deutschland nach dem Handelsgesetzbuch, in Österreich nach dem Unternehmensgesetzbuch und in den anderen EU-Ländern nach anderen Vorschriften.
Und weiter in der Verwirrung: Die Besteuerung erfolgt nach unterschiedlichen Gesichtspunkten, also müssen Steuerbilanzen erstellt werden, in jedem der 28 EU-Länder nach anderen Regeln. Ein- und dieselbe Firma hat einen anderen Gewinn, je nachdem ob dieser nach IFRS, nach HGB oder nach den Steuerregeln ermittelt wird.
Eine Spielwiese für die Steuerberater und Juristen der Konzerne
Dass in diesem Dschungel von Steuergesetzen, Gesellschaftsrechten und Rechnungslegungsvarianten die hoch spezialisierten Steuerberater und Juristen der Konzerne Wege finden, um die Steuerleistung zu minimieren und darüber hinaus auch die Unternehmen vor unliebsamen Fragen oder gar Haftungen zu schützen, ist naheliegend. Kleine und mittlere Unternehmen haben keine Chance, die bestehenden Möglichkeiten zu nützen, zahlen daher unverhältnismäßig hohe Steuern, sind jederzeit erreichbar, müssen alle Auflagen der Behörden erfüllen und können sich gegen Haftungsansprüche nur schwer zur Wehr setzen.
Ein klar strukturiertes System auf der Basis eines europäischen Steuer- und Gesellschaftsrechts und einheitlicher, verlässlicher Rechnungslegung würde die Steuerhinterziehung entscheidend schwieriger machen. In den EU-Staaten, aber auch in den Steuer-Oasen. Die Nicht-EU-Mitglieder brauchen die EU als Wirtschaftspartner und wären daher mit der Androhung von Retorsionsmaßnahmen leicht zur Kooperation zu bewegen. Solange aber 28 Staaten zugunsten ihrer jeweiligen einflussreichen und mächtigen Bürger eigene Bestimmungen und Arrangements mit den Steuer-Paradiesen pflegen, ist die EU gelähmt.
Die Verteidigung der nicht mehr gegebenen Souveränität
Die Staaten wehren sich gegen eine tatsächliche Vereinheitlichung aus falsch verstandenen Eigeninteressen.
- Auf die Hoffnung, durch Begünstigungen Betriebe anzulocken wurde schon verwiesen. Dass auf diese Weise der Gemeinschaft insgesamt beträchtliche Steuern entgehen, schadet allen.
- Das Interesse, durch hohe Steuern, die Budgets zu sanieren, wurde ebenfalls bereits angesprochen. Nur: Von gesunden Staatsfinanzen ist Europa weit entfernt.
- Allerdings gibt es auch einen anderen Grund für den Widerstand. Ein gemeinsames Steuerrecht könnte die immer wieder diskutierte Einrichtung eines EU-Finanzministers begünstigen, wodurch naturgemäß der Handlungsspielraum der nationalen Regierungen beeinträchtigt wäre. Dies ist nicht unbedingt erforderlich, genügen würde der Ersatz der nationalen Gesetze durch Bestimmungen in EU-Verordnungen, die in der gesamten EU gelten.
- Im Korsett der Maastricht-Kriterien haben die EU-Mitglieder zudem auch jetzt keinen nennenswerten Gestaltungsspielraum in den Staatshaushalten. Außer, sie haben geringe Defizite und geringe Schulden.
- Die gemeinsame Steuerpolitik könnte unter Umständen sogar den Weg zu dem mit den Maastricht-Kriterien nicht erreichten Ziel weisen: Der Druck auf die Regierungen, die Budgets in Ordnung zu bringen, müsste steigen, wenn die Systeme und die Steuersätze vorgegeben wären. Dann entstünden Spielräume für eine aktive Budgetpolitik.
Wie auch die besten Steuerfahnder die Hinterziehung nicht gänzlich beseitigen können, gibt es keine Politik, die Regierungen wirksam daran hindert, die Bürger zur Kasse zu bitten. Eine einheitliche Besteuerung der Gewinne auf der Basis klarer Rechnungslegungen würde aber eine faire Behandlung aller Steuerzahler bewirken und transparente Verhältnisse für die Unternehmen schaffen. Man kann davon ausgehen, dass auch die Staaten profitieren würden, jedenfalls müssen sie keine Verringerung der Einnahmen befürchten.
„Befürchten“ müssten sie allerdings die Einschränkung der trickreichen Gestaltung der Steuergesetze. Man kann aber davon ausgehen, genauer, man muss befürchten, dass die Regierungen zum Ausgleich bei der Umsatzsteuer und den vielen Verkehrssteuern und Gebühren umso eifriger Hand anlegen würden.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.