Mit der radikalen Politik der EZB wird die alte Bundesbank-Tradition über den Haufen geworfen. Privates Sparen und die kollektive Altersvorsorge werden gnadenlos abgestraft. Dafür werden die Zentralbank und die Geschäftsbanken primäre Staatsfinanzierer. Mit dirigistischen Einzelmaßnahmen wird ein bestimmter Steuerungseffekt zu erreichen versucht. Das ist das Zentralbankmodell der Peripheriestaaten der 1980er Jahre bis zum Vorfeld der Einführung des Euro – ohne inflationären Beigeschmack. Die angekündigten Maßnahmen enthalten noch beträchtliches Optimierungspotential.
Notenbankpräsident Draghi begründete die Aktion der EZB mit der Notwendigkeit, die Inflation auf knapp unter 2% anzuheben. Das kann nur ein Vorwand sein. Ohne Energiepreise, welche die Zentralbank gar nicht wesentlich beeinflussen kann, liegt die hicp-Inflationsrate in den letzten 12 Monaten knapp unter 1%. Das ist eine kleine Differenz zur Zielgrösse, die zudem über Zweifel nicht erhaben ist.
Im Wesentlichen hat die EZB die kurzen Zinsen nochmals leicht gesenkt, das Programm zum Kauf von Anleihen um 20 Mrd. pro Monat auf 80 Mrd. EUR angehoben und auf Unternehmensanleihen ausgedehnt. Zudem hat sie eine neue Fazilität geschaffen, mit denen Banken sich billiger refinanzieren können – falls sie ihre Kredite ausdehnen.
Verschiedene Kommentatoren haben argumentiert, dass das Paket eigentlich nicht erklärbar ist und ein wenig Verzweiflungscharakter habe. Das kann man so sehen, dürfte aber den wahren Hintergrund nicht enthalten.
Über einen längeren Zeitraum betrachtet, ist die ganze Übung im Charakter eine riesige Refinanzierung für die Staatsschuld aller Eurozonen-Mitglieder. Damit soll einerseits eine neue Euro-Staatsschuldenkrise vermieden und andrerseits eine finanzpolitische Konsolidierung ohne zu große Opfer erreicht werden. Über einen längeren Zeitraum wird ein erheblicher Teil der Staatsschuld zu Niedrigstzinssätzen refinanziert. Sie schafft auch für die laufenden Budgetdefizite auf Jahre hinaus eine erhebliche und massive Entlastung, die dringend benötigt wird.
Dieses Paket ist mit Sicherheit mit den Finanzministern und sogar mit den Regierungschefs der Eurogruppe abgesprochen. In dem Sinn ist es eine undankbare Aufgabe für Draghi, der dies als geldpolitisch notwendig verkaufen muss, was in Wahrheit auch Fiskalpolitik ist und einen eminent politischen Hintergrund hat. Es ist astreine monetäre Staatsfinanzierung. Die Finanzminister und Regierungschefs können sich dann politisch mit den Erfolgen der Schuldenkonsolidierung und der verbesserten Budgetsituation profilieren. Die schwarze Null in Deutschland, die als Ausdruck soliden Finanzgebarens verkauft werden kann, ist nicht zuletzt einem Zinseffekt geschuldet.
Das Programm zum Kauf der Staatsanleihen wurde im Mai 2015 eingeführt, im Dezember 2015 zeitlich und jetzt quantitativ und qualitativ ausgedehnt. Die hektische Ausdehnung des Programms dürfte auch einen eminent politischen Hintergrund haben: Mehr Austerität geht nicht mehr. Alle Regierungen, die sie durchgesetzt haben, sind diskreditiert und verloren bei Neuwahlen (Griechenland, Portugal, Spanien, Irland). Italien unter Renzi ist ohnehin im Anti-Austerity-Feld. Der Glaube, dass Austerität das richtige Rezept und nicht ohne wirtschaftliche Risiken ist, dürfte da und dort auch in den Kernländern geschwunden sein.
Die größte Herausforderung steht aber erst bevor. Frankreich steht 2017 vor Präsidentschaftswahlen. Frankreich ist zusammen mit Deutschland das Kernland der Eurozone, es ist wirtschaftlich geschwächt und wird von der eigenen Bevölkerung als Marasmus ohne Perspektive betrachtet. Marine Le Pen, die Chefin des Front National, ist eine ernsthafte Anwärterin für die Präsidentschaft, weil der Sozialist (eher rechte Sozialdemokrat) Hollande und seine Partei diskreditiert sind, und der nicht weniger erfolglose und zudem skandalumwitterte bürgerliche Parteichef Sarkozy ebenfalls gefährdet erscheint.
In Europa zeichnen sich ein rabiater Nationalismus mit einer ganz starken Anti-EU und Anti-Globalisierungsagenda ab. Sie ködern die Wählerschaft oft mit sozialen Versprechungen, haben im Kern aber auch eine ganz andere Agenda wie in Ungarn oder neu in Polen. Die Vorstellung, dass sich in Frankreich der gleiche Protest durchsetzen könnte, muss den führenden Politikern Europas Schauder über den Rücken gejagt haben. Die mit der Einwanderung, Personenfreizügigkeit und mit der jahrelangen Austerität verbundene Angst vor sozialem Abstieg und Fremdenfeindlichkeit machen Erdrutschverschiebungen möglich. Auch der drohende Brexit hat der politischen Führungselite Europas gezeigt, dass nicht nur die Eurozone, sondern sogar die Europäische Union auf der Kippe stehen könnte. Es gab in den letzten Wochen genügend Stimmen führender Exponenten, die solche Äusserungen nur schon in Bezug auf die Flüchtlingskrise von sich gaben.
Die Geldpolitik muss hier einspringen, weil es keinen europäischen Bundesstaat gibt, und keine Strukturen, um europaweite finanzpolitische Impulse setzen zu können. Außerdem will Deutschland ohnehin keine koordinierten finanzpolitischen Impulse. Die quantitative Geldpolitik scheint hier einen Stimulus oder Ausweg zu bieten.
Diese Ausdehnung des geldpolitischen Mandats soll andrerseits die Eurozone festigen oder vorbereiten wegen potentieller globaler Schocks. Das Risiko einer global schwächeren Konjunktur und möglicher anderer Effekte verlangen ein robusteres Korsett, dies vor allem für den Bankensektor. Der europäische Bankensektor ist aufgrund seiner ausstehenden Kredite in Schwellenländer extrem exponiert. Dabei sind sicher die englischen Großbanken abzuziehen. Sie sind nicht das Problem der EZB. Aber auch der Rest der ausstehenden Kredite ist beträchtlich.
Die Größenordnung der Staatsanleihenkäufe der EZB ist ganz erheblich. Die konsolidierte ausstehende Staatschuld der Eurozone beträgt per Ende 2015 rund 9.500 Milliarden EUR. Allein rund 2.000 Milliarden lagen im Eurosystem, weitere 2000 Milliarden bei den Banken. Mit dem laufenden Programm wird der Großteil dieser Staatsschuld bei der Zentralbank, bei den Banken und Lebensversicherern landen. Wenn die ausstehende Schuld so absorbiert ist, kann die EZB den Rest beliebig dominieren. Sie kann damit auf Jahre oder auch Jahrzehnte hinaus die Zinsen auch am langen Ende bestimmen. Sie setzt die Solvenz- und Liquiditätsbedingungen für die Banken und bildet so ein enormes Machtzentrum. Die folgende Graphik zeigt, welcher Teil der ausstehenden Staatsanleihen bei welchen Finanzinstitutionen lagen und liegen. Die Graphik zeigt eindrücklich den wachsenden Teil der Finanzierung der Staatsschulden durch Notenbank und Geschäftsbanken. Ihr Anteil wird innert Kürze weit über 50% hinaus wachsen.
Quelle: EZB
Diese Verteilung und Konzentration der Staatsschulden auf die Notenbank sowie auf die Geschäftsbanken war typisch für das Modell der Notenbanken in den Peripherieländern wie Italien, Spanien, Griechenland oder Irland. Diese Notenbanken beteiligten sich nicht nur an der Staatsfinanzierung, sondern auch an der Besteuerung. Ihre Instrumente waren hohe Mindestreservesätze, Vorschriften für die Anlage der Reserven in Staatsanleihen und finanzielle Repression gegenüber den Sparern. Im Fachjargon ‚Seignorage’ genannt.
Die Instrumente, wie die EZB die Banken heute dazu bringt, Staatsanleihen zu halten, sind Niedrigzinsen, Liquiditätshilfen der EZB und Risikogewichte von Null für Staatsanleihen bei den Basel III Vorschriften. Die Banken kämpfen alle mit Ertragsproblemen und mit ungenügender Kapitaldecke. Für sie die einfachste Variante ist der Carry-trade mit der Notenbank. Sie beschaffen sich Zusatzliquidität und investieren sie im Bankenbuch in Staatsanleihen. Diese müssen sie nicht mit Eigenkapital unterlegen und können so eine schöne Zinsdifferenz einstreichen. Die Versicherungen, vor allem die Lebensversicherungen, werden über die Solvenz II Vorschriften gnadenlos in die Käufe langer Staatsanleihen hinein gezwungen, gerade wenn die Zinsen sinken und sehr niedrig sind.
Diese ständig expandierte Notenbankbilanz ist aber nicht nur Rettungsschirm, sondern auch gleichzeitig eine Zwangsjacke. Nachher sind Notenbankbilanz, Bankbilanzen und Staatsschulden derart eng verzahnt, dass ein Entweichen einzelner Länder nicht so leicht fällt, selbst wenn jemand wie Le Pen an die Macht kommen sollte.
Die zwischen der Eurogruppe und der EZB-Spitze bei den Peripherieländern eingeübte Koordination bietet ein vielfältiges Instrumentarium, auf der virtuos mit Druck, Anreizen und Zwangshebeln unliebsame Projekt abgebügelt werden können. Es hat sich, ohne dass dies den Teilnehmern wahrscheinlich von Anfang an bewusst war, nach und nach ein neues Machtzentrum in der Eurozone gebildet, welches demokratisch höchst problematisch legitimiert und auch nicht kontrolliert ist.
Dieses Machtzentrum ist, wenn man es historisch einordnen will, wohl am ehesten mit der Rolle der Notenbanken in Frankreich, Italien, Spanien oder anderen Peripherieländern zu vergleichen. Das waren im 20. Jahrhundert politisch chronisch instabile Länder. In diesen Ländern mit schroffen sozialen und politischen Fronten bildeten die Notenbank Machtzentren, die über das Geld- , Banken- und Währungsrégime einen Stabilitätsrahmen und einen rigorosen Disziplinierungsmechanismus schufen. Seit Jacques Rueff war ‚la rigeur’ die eherne Doktrin französischer Notenbankiers.
Die Befürchtung, dass das Ganze in einer Inflation enden wird, dürfte in der gegenwärtigen globalen Konjunkturlage unbegründet sein. In diesem Sinne kommt man dem Modell Japans näher. Aber ganz sicher hat sich die Europäische Zentralbank, die nach dem Modell der Bundesbank geschaffen wurde, transformiert. Sie wird aktiv zu einem Staatsfinanzierer umfunktioniert, welche im Rollenmodell eher der früheren Banca d’Italia, der Banca de Espana oder heute der Bank of Japan entspricht.
Zentral aber ist, dass die Sparer enteignet und die kollektive Altersvorsorge geschädigt werden. Und das Risiko bleibt, dass dieses Machtzentrum mit falschen Konzepten die Schuldendeflation, die sich in den Peripherieländern als Prozess eingeübt hat, unbeabsichtigt verschärft. Ein beträchtlicher Teil der Nebenwirkungen wäre nicht einmal nötig.