Politik

Politische Instabilität: Über der EU braut sich ein Sturm zusammen

Lesezeit: 14 min
02.07.2016 00:44
Über der EU ziehen dunkle Wolken auf: Eine Rezession könnte Europa in eine neue Krise treiben. Sie wird die Euro-Zone genauso treffen wie Großbritannien. Die Briten werden nach einiger Zeit jedenfalls erkennen, dass die EU nicht der Hauptschuldige an der unbefriedigenden wirtschaftlichen Lage ist.
Politische Instabilität: Über der EU braut sich ein Sturm zusammen
Quelle: ONS, Destatis, Obsérvations et Statistiques

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Nach Edward Heath, Margaret Thatcher und John Mayor ist David Cameron der vierte konservative Premierminister innerhalb von 42 Jahren, der an der Europapolitik gescheitert ist. Cameron hatte durch die Ankündigung eines Referendums dem europafeindlichen Flügel in seiner Partei sowie der UKIP den Wind aus den Segeln genommen, um die Wahlen von 2015 zu gewinnen. Dies zum Preis eines unerwarteten Austritts, den er selber und die Mehrheit der britischen Wirtschaftselite gar nicht wollten. England und spezifisch die Konservative Partei haben in der Nachkriegszeit kein stimmiges Verhältnis zu Europa gefunden. Ein Teil der Führungsschicht des Vereinigten Königreichs ist gefangen in der Vergangenheit als Zentrum eines Empires. Sie hat die Entkolonialisierung und eine seit den 1980er Jahren gescheiterte Anpassung und Modernisierung des britischen Industriesektors nie verwunden. Im Verhältnis zu Europa ging es ihr immer um einen Spezialstatus, der in der Praxis Rosinenpicken bedeutete: Kein Euro-Beitritt, kein Schengenraum, Konzessionen bei den Beitragszahlungen, beim Status des Finanzsektors usw. Dank seines wirtschaftlichen und vor allem auch politischen Gewichts konnte Großbritannien immer Sonderkonditionen durchsetzen.

Das Vereinigte Königreich hat seit den 1980er Jahren ein erfolgreiches, aber einseitiges und ungleichgewichtiges Wachstumsmodell entwickelt. Die Wachstumsraten des BIP/Kopf lagen deutlich höher als in der Eurozone. Die Wirtschaft basiert aber primär auf Finanz-Dienstleistungen und auf einem kreditgetriebenen Wachstum des Konsums. Die Sparquote ist seit Mitte der 1980er Jahre drastisch zurückgegangen, was sich auch in wachsenden Leistungsbilanzdefiziten reflektiert. Die Leistungsbilanzdefizite entstammen allein dem Güterhandel, während der Finanzsektor inklusive Versicherungen rasch steigende Überschüsse beigetragen hat.

Das Land konsumiert zu viel und investiert zu wenig. Viel zu wenig Infrastruktur-Investitionen, geringe Ausrüstungsinvestitionen und ein ungenügender Wohnungsbau sind die Schwachstellen. Der Wohnungsmarkt ist absolut dysfunktional. Trotz Bevölkerungs- und Einkommenswachstum stagniert die Neubautätigkeit im Wohnungsbau seit Jahrzehnten auf extrem niedrigem Niveau. Dafür verzeichnet der Immobilienmarkt, der hypothekarisch hoch belastet ist, exorbitante Preissteigerungen. Die niedrigen Zinsen der 2000er Jahre und die Nullzinsen seit 2009 haben eine Preisexplosion, aber keine quantitative Angebotsausweitung im Wohnungsbau ermöglicht. Ein erheblicher Teil der Erwerbsbevölkerung ist von günstigem Wohnraum ausgeschlossen. Auch deshalb ist die Sensibilität gegenüber der Immigration ein zentrales Thema. Die Immigranten werden als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt angesehen.

Von der Mitte der 1950er bis Ende der 1970er Jahre wurden im UK jährlich 300.000 Wohnungen und mehr gebaut, während eines vollen Jahrzehnts sogar 400.000 Wohnungen. Seither ist die Bautätigkeit nur zurückgegangen, trotz Bevölkerungswachstum und Immigration seit Mitte der 1990er Jahre und vor allem seit 2004. Heute beträgt sie nicht einmal mehr die Hälfte und liegt auch mit vergleichbaren europäischen Ländern weit im Hintertreffen. Von der Bevölkerungsgröße sind Frankreich (gelbe Kurve) und Westdeutschland (grüne Kurve) mit dem Vereinigten Königreich (rote Kurve) etwa auf der gleichen Höhe.

Einer der wichtigsten Gründe für die ungenügende Versorgung mit Wohnungen im UK ist, neben der Regulierung des Bankensektors,  die Beseitigung des staatlich finanzierten sozialen Wohnungsbaues unter der Thatcher-Regierung. Die vollständige Privatisierung des Wohnungsbaues in den 1980er Jahren und die Regulierung des Bankensektors sind im Generellen wichtige Gründe für die Eurokrise. Sie haben in Europa zu einem weiten Spektrum von Verzerrungen geführt. Dies schließt die Unterversorgung mit günstigem Wohnraum in Großbritannien, in Frankreich, in Italien und neuerdings in Deutschland ein. Es bezieht sich auf eine extreme Überproduktion von Wohnungen in Spanien, Griechenland oder Irland, und zu Überbelehnung der Haushalte in zahlreichen Ländern.

Bei der Immigration, die im Referendum eine bedeutende, argumentativ sogar dominante Rolle gespielt hat, sind einige Fakten ebenfalls hilfreich. Die Wohnbevölkerung des Vereinigten Königreichs ist, nachdem sie zwischen den frühen 1970er Jahren und 1993 praktisch stagniert hat, von 57 Millionen im Jahr 1993 auf über 65 Millionen Einwohner im Jahr 2015 angestiegen. Die Zahl der im Ausland geborenen Wohnbevölkerung nahm im gleichen Zeitraum von 4 auf 8.5 Millionen Einwohner zu. Die Immigration hat also rund die Hälfte zum Bevölkerungswachstum in diesem Zeitraum beigetragen. Schlüsselt man die Struktur der im Ausland geborenen Wohnbevölkerung auf, so ergibt sich folgendes Bild:

Von den rund 8 Millionen Immigranten per Ende 2013 stammen 2.7 Millionen aus der EU-27, d.h. EU-Ländern ohne dem Vereinigten Königreich. Das entsprach 4.3 Prozent der Wohnbevölkerung. Der dominante Teil der Immigranten ist anderer Nationalität, hauptsächlich solche ehemaliger Commonwealth-Länder. Diese machten Ende 2013 8.2 Prozent der Wohnbevölkerung aus. Von den Immigranten aus der EU waren weniger als die Hälfte aus Osteuropa. Deren Anteil an der Wohnbevölkerung betrug 2.0 Prozent. Schließlich ist auch die regionale Verteilung der Immigranten von Interesse:

Die gesamte Immigration konzentriert sich also auf den Großraum London. Dessen Anteil an der Gesamtimmigration beträgt rund 36 Prozent. Dort erreicht der Anteil der Immigranten zwischen 35 und 40 Prozent an der Wohnbevölkerung. In Inner London (+13 Prozent) und in Outer London (+15 Prozent) ist auch die Zunahme zwischen 1995 und 2014 am stärksten. Im Rest des Landes liegen die Anteile zur Hälfte bei 5-7 Prozent. Nur in 5 Regionen ist der Anteil der Immigranten über 10 Prozent. Die Zunahme beträgt nur in 3 Regionen mehr als 5 Prozent der Wohnbevölkerung.

Von den 10 wichtigsten Geburtsländern der Immigranten sind 4 aus der EU exklusive Großbritannien. Darunter ist auch Irland, welches traditionell eine starke Auswanderung vor allem in die Großräume London und Manchester hat. Nur die Polen mit einem Anteil von 9 Prozent an der gesamten Zahl der Immigranten sind wirklich bedeutend.

Eine Zusammenfassung ergibt folgendes Bild. Die Immigration und ihre Zunahme ist auf den Großraum London konzentriert, wo sie weniger als Problem wahrgenommen wird. Wo sie hingegen als Kernproblem erscheint, ist in Gebieten mit ausgesprochen niedrigem oder durchschnittlichem Anteil der Immigranten an der Wohnbevölkerung. Dabei wird der Fokus noch fälschlicherweise auf EU-Immigranten und besonders auf solche aus den osteuropäischen Ländern gelegt.

Bezüglich der osteuropäischen Immigranten liegen die Ursprünge auch nicht allein oder primär in Brüssel, sondern vielmehr in London. Es war die britische Regierung, die sich – aus geopolitischen Gründen – besonders stark für eine beschleunigte und in gewisser Hinsicht verfrühte Aufnahme der acht ostmitteleuropäischen Länder in die EU eingesetzt hat. Bedenken wegen der Massenimmigration von osteuropäischen Arbeitskräften und ihrem möglichen Lohndruck hat die Labour-Regierung von Tony Blair souverän beiseite gewischt. Nur Großbritannien, Irland und Schweden haben die siebenjährige Übergangsfrist zur quantitativen Begrenzung der Einwanderung aus den acht ostmitteleuropäischen Ländern nicht genutzt – mit dem Effekt, dass die Immigration aus diesen acht Ländern sich auf das Vereinigte Königreich konzentriert hat. Großbritannien hatte eine Option und isoliert darauf verzichtet, sie zu ziehen.

Dem Versagen einer vernünftigen und bezahlbaren Versorgung mit Wohnraum für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung steckt ein komplexes Ursachenbündel zugrunde. Ein wichtiger Faktor war die exzessive Kreditexpansion des Bankensystems. Diese hat zum enormen Anstieg der Immobilienpreise wesentlich beigetragen. Die Deregulierung des Bankensektors nach 2003 und die mangelnde Überwachung der Großbanken entsprangen Finanzminister Gordon Browns Initiativen und Zukunftsvisionen. Die völlig ineffiziente Doppelaufsicht der Banken durch die FSA und die Bank of England war ebenfalls von ihm konzipiert worden. Als die britischen Großbanken im Wettlauf um die Spitzenposition im Finanzsektor 2008 zusammenbrachen, mussten sie mit enormen staatlichen Mitteln gerettet werden.

Die Explosion der Staatsschulden ist zuallererst und primär der Bankenrettung und dem damit zusammenhängenden konjunkturellen Einbruch 2009 zu verdanken. Die Explosion der Staatsschulden hat die Konservativen zur Austeritätspolitik veranlasst, die als besonders unfair gilt. Die kleinen Leute bezahlen mit schlechterer Bildung, weniger Kommunalausgaben und Wohlfahrtsmitteln sowie mit höheren Steuern für die Deregulierungs-Politik unter der Blair/Brown-Regierung für die darauf folgenden Exzesse der Banken und für die Austeritätspolitik unter Cameron und Osborne.

Wohnungsmarkt, Immigration, Bankenkrise, explosionsartig angestiegene staatliche Verschuldung und unsoziale Austeritätspolitik – alle wichtigen Themen der Brexit-Abstimmung haben primär britische Ursprünge und repräsentieren keineswegs Zwangsmaßnahmen oder Automatismen der EU. Die EU dient mehrheitlich als Prügelknabe für etwas, was sie effektiv gar nicht verantwortet. Eine Ausnahme ist die Personenfreizügigkeit, wo die Sachlage komplexer ist. Die Brexit-Abstimmung wurde von den Wählern als eine Abstimmung über dieses schiefe Wachstumsmodell sowie über die Austeritätspolitik von Cameron und Osborne interpretiert.

Die Labour Partei unter der Führung von Tony Blair und Gordon Brown ist politisch verantwortlich für die schwere Bankenkrise von 2008 und die nachfolgende Krise der Staatsfinanzen. Die blindgläubige Deregulierungspolitik von ‚New Labour’ endete im Finanzsektor und anderswo im Desaster. Viele ihrer heutigen Exponenten gehören zu dieser ‚neuen Mitte’ und stellen die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Die Immigration aus Osteuropa ist ebenfalls der Politik von Blair geschuldet. Dass die Labour-Führung unter Blair/Brown und ihre gegenwärtigen Exponenten wenig oder keine Glaubwürdigkeit bei ihrer Kernwählerschaft mehr haben, erstaunt deshalb nicht. Diese Politik machte die Arbeitnehmer empfänglich für immigrantenfeindliche und rassistische Parolen.

Doch auch der neue Labour-Parteiführer hat die Chance nicht genutzt. Er ist im Abstimmungskampf abgetaucht, statt kraftvoll aufzutreten. Der Brexit wurde vor allem in den Regionen deutlich befürwortet, welche eigentliche Labour-Hochburgen sind. Dort war den Stimmenden nicht einmal klar, dass Labour, anders als die Konservativen, praktisch einstimmig für den Verbleib in der EU eingetreten ist. Der Parteivorsitzende Corbyn hat eine diffuse Kampagne geführt, welche ein laues ‚Bremain’ mit harter und detaillierter Kritik an der EU und vor allem an der Eurozone kombinierte. Bei der wichtigsten Abstimmung in Großbritannien der letzten 40 Jahre war Labour kein wichtiger Faktor. Die Exponenten waren Cameron und Osborne auf der einen, Farage und Johnson auf der anderen Seite. Zwei Oberklassen-Exponenten mit einem als zutiefst unsozial empfundenen Austeritätskurs als Befürworter, ein rechtsradikaler Fremdenfeind und ein Populist mit dem einzigen Ziel persönlicher Macht als Gegner waren die Hauptfiguren. Labour ging unter, war fast unsichtbar. Es ging bei dieser Abstimmung nur darum, ob das Kreuzchen bei ja oder nein gemacht wird. Nicht ob die EU in diesem oder jenem Punkt schlecht oder gut ist. Zudem verwischte Corbyn die EU und die Eurozone in seiner Kritik.

Die EU ist nicht der Hauptgrund für die Misere und für den Protest der Wachstumsverlierer in Großbritannien, ganz im Gegenteil. Das Gesamtbild ist dasjenige einer kollektiv verzerrten Darstellung und Wahrnehmung der Realität. Das wirkliche Problem ist die Konzentration des Wirtschaftswachstums auf den Großraum London und auf die Finanzindustrie. Der Wachstumsprozess war von einer unglaublichen und im internationalen Vergleich einzigartigen Unfähigkeit begleitet, genügend und günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die relativen Wachstumsverlierer sind vor allem von der Wohnungsnot, dem Mangel an preisgünstigen Wohnraum  betroffen und projizieren dies auf Immigranten, die für sie als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt und teilweise auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Diese verzerrte Wahrnehmung geht von ganz rechts, den Rassisten über die Empire-Nostalgiker, die Wirtschaftselite, New Labour bis nach ganz links zu Jeremy Corbyn.

Aber die EU war und ist auch nicht völlig außen vor. Konkret hat sie auf drei Ebenen versagt:

- Freihandel/Industriepolitik: Die Europäische Union hat immer eine Politik des forcierten Freihandels betrieben. Dabei war Großbritannien oft eine oder die treibende Kraft, nicht verwunderlich angesichts von dessen Geschichte als Mutterland von Industrialisierung und Freihandel. Was in der Handelspolitik über die letzten 15 Jahre falsch gelaufen ist, betrifft keineswegs nur Großbritannien, sondern viele Länder Westeuropas und nebenbei auch die USA und andere Länder. Der WTO-Eintritt Chinas repräsentiert im Rückblick nicht Freihandel, sondern unfairer, staatlich subventionierter und gelenkter Wettbewerb – eine Form zivilisierten Handelskriegs mit dem Wechselkurs als eine wichtige Waffe. China vernichtet gezielt in Kernsektoren Konkurrenten und schottet gleichzeitig seine Wirtschaft in Schlüsselsektoren ab. Großbritannien war das Industrieland schlechthin. Jetzt liegen weite Teile seiner Industrie in Trümmern, aus durchaus anderen Gründen als China. Die in Wales und Mittelengland basierte Stahlindustrie ist seit zwei Jahren im Überlebenskampf. China hat viel zu große Kapazitäten aufgebaut und wirft seine überschüssigen Stähle zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt. Die britische Stahlindustrie ist viel weniger auf Spezialstähle für die Autoindustrie wie diejenige Deutschlands spezialisiert, sondern eher auf traditionelle Baustähle und deshalb besonders ausgesetzt.

Gerade diese werden von China auf den Weltmärkten abgeladen, wobei alle Formen von Tricks zur Gewinnung von Steuervorteilen ausgenutzt werden. Dadurch steht die gesamte verbliebene Stahlindustrie Großbritanniens vor dem Aus, was über die Stahlindustrie hinaus Konsequenzen für ganze industrielle Lieferketten hat. Statt dieser Form von unfairem Handelskrieg machtvoll entgegenzutreten und die Importe aus China kurzerhand zu unterbinden, hat die EU-Kommission nur sehr zögerlich und defensiv agiert. Die britische Industrie wurde von der EU aktiv geschädigt, um es sich mit China ja nicht zu verderben. Diese Erfahrung hat viele in den sterbenden Industrieregionen vom Argument der Brexit-Befürworter überzeugt, dass eine von der EU unabhängige Handelspolitik viel besser angemessen ist.

- Personenfreizügigkeit/Immigration/Flüchtlinge: Die Personenfreizügigkeit ist seit 1993 integraler Bestandteil des Binnenmarktes. Sie funktioniert aber nur in einem Schönwetter-Umfeld. Sie muss von starkem Wirtschaftswachstum, aufnahmefähigen Arbeits- und Wohnungsmärkten und rasch anzupassenden wirtschaftlichen und sozialen Infrastrukturen begleitet sein.

Gerade deshalb hat die Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin Angstreflexe bei der Brexit-Abstimmung geschürt. Zuerst der Versuch, eine große Zahl von Flüchtlingen, organisatorisch völlig unvorbereitet, zwangsweise auf die EU-Länder zu verteilen. Danach ein Abkommen mit der Türkei, welche rasche Visafreiheit und den EU-Beitritt dieses bevölkerungsreichen Landes von 80 Millionen Einwohnern vorsieht. Dies in einem Umfeld, wo der neue Sultan einen Bürgerkrieg mit den Kurden, einer Minorität von beinahe 30 Prozent der Bevölkerung, anzettelt und im Bürgerkrieg in Syrien eine zwielichtige Rolle spielt. Eine solche nicht vorbereitete, nicht abgesprochene und selbstherrliche Politik der Führungsmacht in der Union kann nur schlimmste Abwehrängste mobilisieren. Es stellt sich bei manchen unvermeidlich die Frage, was als nächster Einfall kommen wird.

- Austerität/Geldpolitik. Wer beim Brexit-Referendum schon mit Cameron und Osborne abrechnen wollte, kann mit der Eurozone gar nichts am Hut haben. Die Wahrnehmung im Vereinigten Königreich ist verbreitet, dass die Eurozone ein gescheitertes Experiment ist. Sie wird auch bei führenden Exponenten der Wirtschaftspolitik wie dem früheren Notenbank-Gouverneur Mervyn King offen so geäußert. Eine Finanzpolitik, die Mitgliedsländer unbarmherzig ökonomisch und sozial zerstört, gekoppelt mit einer Geldpolitik, bei der alle Sicherungen durchgebrannt sind. In diesem Sinn drücken sich auch viele Kommentare und Leserbriefe von Lesern in der FT aus. Nur so ist erklärbar, dass auch viele Angehörige der City den Austritt befürworteten. Nicht wenige glaubten deshalb, dass ein Austritt vor der finalen Katastrophe in der Eurozone die weniger schlechte Lösung darstellen würde.

Politische Instabilität und eine Führungskrise in Großbritannien werden rasche Entscheidungen behindern – wie auch der Sturm, der sich über der EU zusammenbraut. Die jetzige EU-Führung fordert eine rasche Scheidung, um den Zusammenhalt der EU-27 und der Eurozone zu sichern und um Klarheit über das zukünftige Verhältnis herzustellen. Doch das mag eine trügerische Hoffnung und Ambition sein.

Die Unsicherheit im Vereinigten Königreich ist fundamental. Es ist eine komplett neue, präzedenzlose Situation. Wohin steuert Großbritannien nach dem Abschied von Europa? Vom Empire zu little England? Welche Form der Zusammenarbeit mit der EU soll es noch geben? Schottische Nationalisten wollen eine rasche Loslösung von England. Rechtsextreme wollen die Immigration stoppen und umkehren. Konservative Kreise jetzt den Wohlfahrtsstaat richtig zusammenstreichen. Konservative und Labour, beide historischen Parteien sind tief gespalten. Führungsprobleme werden sich auf allen Ebenen auftürmen: Wer soll die Austrittsverhandlungen führen, und mit welcher Agenda und Absprache mit verschiedenen Interessensgruppen. Cameron hat ein Referendum ohne Plan B, ohne Skript anberaumt. Johnson hat außer wohlklingenden Sprüchen und eigenen Ambitionen gar nichts entwickelt und vorbereitet. Neuwahlen sind durchaus möglich, weil die Konservative Partei so gespalten ist, dass sie keine stabile Regierung bilden kann. Und bei Neuwahlen ist angesichts der tiefen Krise von Labour eine rechtsextreme Springflut denkbar mit der Wirkung instabiler Regierungen.

Doch die Unsicherheit beschränkt sich nicht auf Großbritannien. Auch für die EU ist das Ganze Neuland: Bisher war die EU ein Projekt der Erweiterung. Darin hat die EU Routine. Jetzt erfolgt ein erster Austritt, und nicht von einem kleinen Land, sondern vom wirtschaftlich zweit- oder drittstärksten der Union. Dies in einer potentiell instabilen Situation in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern. Die EU ist in den Verhandlungen ganz klar in der stärkeren Ausgangslage. Weil ja Großbritannien die EU verlassen und die Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen will.

Die Möglichkeit eines Zusammenbruchs des ganzen Projekts sollte nicht unterschätzt werden. Zwischen April 2017 und Mai 2018 werden Wahlen in den drei großen Ländern Frankreich, Deutschland und Italien stattfinden. Diese können zu einem Referendum über die EU umgedeutet oder benutzt werden. Kritisch werden diese Wahlen besonders dann werden, wenn sich die Wirtschaftslage rapide und deutlich verschlechtern sollte.

Die Wirtschaftsaussichten für Großbritannien: Scharfe Rezession und Strukturanpassung, so weit das Auge reicht. Anders als Premier Cameron in seiner Rücktrittsrede und Schatzkanzler Osborne hervorgehoben haben, ist die Wirtschaft des Vereinigten Königreiches nicht sehr gut aufgestellt. Sie ist mit erheblichen Ungleichgewichten belastet. Das Vereinigte Königreich hat einen überdimensionierten Finanzsektor erst recht nach dem Austrittsentscheid. Dieser Finanzsektor ist im Export stark auf Europa und auf die Schwellenländer ausgerichtet und zwar breit diversifiziert, aber auch sehr zyklisch. Er ist im Übrigen nicht währungssensitiv, so dass eine Pfundabwertung nur sehr begrenzt zur Verbesserung der Nettoexporte beiträgt. Dieser internationale Finanzsektor wird sich zurückbilden, mit hohen Kreditverlusten der Banken in den Schwellenländern, die unvermeidlich kommen werden. Verschiedene europäische und amerikanische Großbanken werden auch aus der Situation der Unsicherheit Aktivitäten von London in andere Finanzzentren wie Paris, Frankfurt oder Dublin verlagern.

Der britische Finanzsektor hat in letzten Jahren die frühere Rolle der Schweiz übernommen: London ist zu dem Vermögensverwaltungszentrum für Potentaten, Oligarchen und Diktatoren aller Couleur, für Steuerflüchtlinge, für Geldwäsche und Mafiagelder geworden. Dieser Teil des Geschäfts wird schrumpfen müssen, weil die EU in den Verhandlungen für die zukünftige Zusammenarbeit darauf beharren wird und muss. Transparenz und Kontrolle der Steuerflucht werden ein wichtiges Verhandlungsobjekt darstellen.

Der Brexit wird ferner als Entschuldigung für massive Kapazitätsanpassungen im Finanzsektor herhalten müssen, die aus ganz anderen Gründen erfolgen. International tätige Banken werden ihre Niederlassungen in London drastisch verkleinern. Beispiele dafür werden Credit Suisse und UBS sein. Die Schweizerische Nationalbank hat vor wenigen Wochen bei beiden einen Kapitalmangel von je 10 Milliarden Schweizer Franken geortet und sie aufgefordert, die Eigenmittel mittelfristig um diese Beträge zu erhöhen. Dies ist in einem Umfeld mit Negativzinsen nicht zu schaffen, weder extern noch aus eigenen Gewinnen. Realisierbar ist eine solche Verbesserung der Eigenkapital-Ratios nur mit einem weiteren drakonischen Abbau des kapitalintensiven Investment-Banking. Der Brexit mag dann als gute Entschuldigung für weitere oder nachzuholende Strukturanpassungen herhalten. Identisches wird sich wiederholen bei deutschen, bei französischen, italienischen und spanischen Großbanken, die allesamt nochmals deutlich schmalbrüstiger als die beiden schweizerischen Institute kapitalisiert sind.

Der Baissemarkt in den Finanzmärkten, bei Aktien, Krediten, IPO’s, Fusionen und Akquisitionen sowie eine allfällige globale Rezession werden ohnehin die Volumina in den Finanzmärkten drastisch reduzieren. Das sind alles superzyklische Aktivitäten. London als das eine von zwei globalen Finanzzentren, das Zentrum des Investment Bankings vieler europäischer Großbanken (und der amerikanischen Großbanken in Europa) wird deshalb redimensioniert werden. Auch die institutionelle Vermögensverwaltung, eine andere Spezialität Londons, dürfte unter diesen Makro-Faktoren leiden.

Die britischen Banken haben auch im Innern überdimensionierte Kreditausstände. Die Haushalte haben zu hohe Hypothekarschulden, bei seit über zwei Jahrzehnten inflationierten Häuserpreisen. Klassische Indikatoren einer Überbewertung im Immobilienmarkt wie Preis/Einkommen oder Preis/Mieten liegen außerhalb jeder Norm, dies vor allem im Großraum London. Das Duo Cameron/Osborne hat den Wahnsinn mit Steueranreizen noch angeheizt. Eine Staatsgarantie hat die maximale Hypothekar-Belastung für Neukäufer noch erhöht. Ein Einbruch am Immobilienmarkt und ein erneuter Anstieg fauler Bankkredite werden unvermeidlich die Bilanzen britischer Banken auch im Inland beschädigen.

Dem steht ein angeschlagener und teilweise strukturschwacher Industriesektor gegenüber. Die Erdöl-/Erdgasindustrie ist in einer weltweiten Strukturkrise, besonders noch in Großbritannien, wo die Felder bereits stark ausgebeutet sind und wenig mehr versprechen. Außerhalb der Pharma-, Rüstungs- und Autoindustrie, wobei letztere stark auf Europa ausgerichtet ist, gibt es in der verarbeitenden Industrie wenig Erbauliches und Zukunftsträchtiges. Im Gegenteil: Durch die drohende Schließung der Stahlindustrie sind ganze industrielle Lieferketten bedroht. Ohnehin werden Investitionen zurückgehalten, solange der Status Großbritanniens in der globalen Handelspolitik nicht geklärt ist. Auch eine Abwertung des Pfunds hilft da nicht mehr viel weiter. Das Pfund müsste und dürfte extrem stark abwerten, damit es einen positiven Effekt auf die Netto-Exporte geben wird, und somit der Wechselkurs als Stabilisator wirken kann.

Schließlich ist nicht nur der Haushaltsektor übermäßig verschuldet, sondern auch der Staat. Die britische Regierung hat es in der Auseinandersetzung mit der EU-Kommission virtuos verstanden, so Druck auszuüben, dass das wahre Ausmaß der Staatsverschuldung verschleiert wird und in den offiziellen Statistiken nicht erscheint. Die effektive Staatsverschuldung ist um einen Faktor höher als ausgewiesen. Eine weitere Rekapitalisierungsrunde für die Banken würde zusätzliche Schulden bedeuten. Es würde nicht überraschen, wenn die Ratings für die britische Staatsschuld rasch und heftig nach unten angepasst würden.

Für das Vereinigte Königreich ist eine längere Periode der Identitätsfindung, umfassender Unsicherheit, rascher Polarisierung und Instabilität vorgezeichnet. Verbunden wird dies mit einem raschen und heftigen Einbruch der Wirtschaft sein, vor allem des Finanzsektors, der Investitionen in allen Bereichen, von Einkommens- und Vermögensverlusten und teilweise negativem Eigenkapital der Haushalte im Wohnungsmarkt. Erhebliche Bankenproblemen und verschlechterte Staatsfinanzen dürften das Bild vervollständigen.

Dies könnte die Konstellation für einen perfekten Sturm, für eine kumulativ sich verstärkende und vertiefende Rezession darstellen. Die klassischen geldpolitischen Instrumente, um einen solchen Sturm abzufedern, nur noch begrenzt nutzbar (Zinsen) beziehungsweise zu wenig wirksam (Wechselkurs). Der Wechselkurs wird massiv und längerfristig unterschießen müssen, um die Rebalanancierung vom Finanzsektor zur Industrie zu ermöglichen. In der Finanzpolitik ist, solange die Konservativen an der Macht sind, vorerst mit einer prozyklisch verstärkenden restriktiven Politik zu rechnen.

Langfristig ist klar, woher das Wirtschaftswachstum in Großbritannien kommen muss: Industrie, Infrastruktur und Wohnungsbau  und damit ganz klar binnenwirtschaftlich geleitet. Aber der Weg dorthin wird politisch und ökonomisch beschwerlich sein. Die Sparquote muss erheblich ansteigen, damit dies finanziert werden kann. Fallende Einkommen im Finanzsektor, eine Land- und Häuserpreisanpassung sowie ein massiv niedrigerer Wechselkurs dürften wesentliche Voraussetzungen oder Begleiterscheinungen dafür sein.

Makroökonomisch dürfte der Brexit das Ende des von Thatcher und New Labour geprägten Wachstumsmodells einläuten, das strukturpolitisch den Finanzsektor durch Deregulierung, enorme Subventionen und Steuergeschenke auf vielen Ebenen zu Lasten der Industrie, der Infrastruktur und des Wohnungsbaues begünstigt hat.

Im zweiten Teil wird dargestellt, was der Brexit für die Eurozone und für die Weltwirtschaft bedeuten könnte. Der Brexit ist eine Interaktion von jahrzehntelangem Versagen und Hypokrisie der politischen und wirtschaftlichen Eliten und fremdenfeindlicher und böswilliger Diffamierung, die unscheinbar anfängt und plötzlich dominant wird. Darin besteht eine Analogie zur Eurozone.


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