Finanzen

Der große Irrtum: Austerität wäre fatal für Italien und Europa

Die von Deutschland immer wieder vertretenen Rezepte zur wirtschaftlichen Sanierung Italiens wären fatal: In Italien lasten Kosten für Wohnraum und Energie viel stärker auf den Haushalten, als dies durch die Statistiken abgebildet wird. Würde Italien zur Austerität gezwungen, wäre der Kollaps unausweichlich. Dasselbe gilt für alle Länder der Peripherie der Euro-Zone.
24.09.2016 01:03
Lesezeit: 11 min
Der große Irrtum: Austerität wäre fatal für Italien und Europa
Ausgabenstruktur der Haushalte in Italien nach Gütergruppen. (Quelle: ISTAT)

Die Wirtschaftsprobleme Italiens manifestieren sich am augenfälligsten in der hohen Erwerbslosigkeit, in der labilen Situation der Staatsfinanzen und im Berg fauler Kredite, den die Banken vor sich herschieben. Standard-Erklärung für die schwache Wirtschaftsentwicklung ist der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit durch zu stark gestiegene Lohnstückkosten. Doch dies ist ein Resultat falscher Deflationierung der nominellen Wechselkurse. Sie hat zu einer verfehlten Politik geführt, welche die Nominallöhne und -einkommen absenken will.

Diese Forderungen werden vor allem von Deutschland immer wieder erhoben, je weiter die Euro-Krise sich durch den Kontinent frisst. Zuletzt hatte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann Italien aufgefordert, zu „sparen“. In der Praxis heißt Sparen jedoch vor allem: Restriktive Ausgabenpolitik, Lohnsenkungen und Mehrwertsteuererhöhungen. Alle drei wären Gift für die tief in der Krise steckende, italienische Wirtschaft. Und sie hätten tiefgreifend negative Folgen für die ganze Euro-Zone.

Falsche Berechnungen haben im Krisenmanagement der Euro-Zone bereits Tradition: In Griechenland hat der IWF eine falsche Berechnung der griechischen Zentralbank übernommen – und einen brachialen Austeritätskurs verordnet. Das Land hat sich bis heute nicht erholt. Die Arbeitslosigkeit, insbesondere bei Jugendlichen, liegt immer noch in einem nicht nachhaltigen Bereich. Nur der Tourismus im Sommer täuscht eine Konsolidierung vor. Spätestens im Herbst wird die Krise wieder ausbrechen.

Dasselbe gilt für die Herangehensweise an Italien – nur noch in einem viel größeren Ausmaß. Im ersten Artikel haben wir gezeigt, dass die gängigen Vorstellungen über die inhärente Währungsschwäche der Peripherieländer auf einer fatalen Verwechslung von nominellen und realen Wechselkursen beruhen. In der Zeit vor Einführung des Euro gab es zwei schockartige reale Abwertungen in Italien in den Jahren 1973-75 und von Herbst 1992-95. Dazwischen eine lange Phase der realen Aufwertung der Lira 1979-92 und der Lira-Befestigung vor dem Eintritt in den Euro 1995-98. Langfristig pendelte der reale Wechselkurs der Lira um ein Niveau, gleich welche Definition von realen Wechselkursen man verwendet. Die Währungen der anderen Peripherieländer wie Portugal, Spanien oder Griechenland werteten real sogar auf in der Periode flexibler Wechselkurse 1973-98.

Ein zweiter kritischer Punkt neben der Verwechslung von nominellem und realem Wechselkurs betrifft die exakte Form und die Tücken der Deflationierung des nominellen Wechselkursindexes. Die gängige Interpretation der Wachstumsschwäche Italiens (und der anderen Peripherieländer) weist auf zu starkes Kostenwachstum in der Periode seit Einführung des Euro hin. Sie basiert auf einer Gegenüberstellung von in der Eurostat-Statistik ausgewiesenen nominellen gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten gegenüber Deutschland oder dem Eurozonen-Durchschnitt. Doch gerade diese Messgröße, die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten beinhaltet, enthält versteckte Fallstricke, welche das Ergebnis verzerren bzw. sogar ins Gegenteil verkehren können.

Eine Deflationierung bereinigt die nominellen bilateralen oder multilateralen Wechselkurse (Wechselkursindizes) um die relative Preisentwicklung zwischen In- und Ausland. Sie soll zeigen, wie sich die realen Wechselkurse, bereinigt um die relative Kosten- oder Preisentwicklung, über die Zeit hinweg darstellen. Die Wahl des Deflators ist damit verbunden, was für Erkenntnisse aus einem solchen realen effektiven Wechselkurs gewonnen werden sollen, welche theoretischen Vorstellungen dahinter stecken und welche Ziele mit dem Index verfolgt werden. Für die Wettbewerbsfähigkeit ist vom Grundsatz her die reale und nicht die nominelle Wechselkursentwicklung bestimmend.

Traditionell gab es zwei Grundarten von Deflatoren:

Die erste Art will die Kaufkraftparität zwischen In- und Ausland erreichen oder abbilden. Sie stützt sich in der empirischen Messung auf Indizes der Verbraucherpreise (VPI), den Deflator des privaten Konsums oder des Bruttoinlandprodukts aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. In sophistizierteren Varianten unterscheidet sie zwischen international handelbaren und rein binnenwirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen. Diese Modelle, etwa die skandinavischen Modelle, unterstellen beispielsweise, dass die Preise international gehandelter Güter für kleine Volkswirtschaften vom Weltmarkt vorgegeben sind. Die Anpassung der Kaufkraftparität erfolgt dann über die relativen Preise von Gütern und Dienstleistungen, welche international gesehen nicht handelbar sind, konkret der Preise in der Binnenwirtschaft. Dabei wird angenommen, dass in den Indizes der Verbraucherpreise (oder im BIP-Deflator) besonders viele Güter und vor allem Dienstleistungen enthalten sind, welche lokal erbracht werden. In der Praxis dominieren global gesehen noch heute Indizes der Wechselkurse, welche auf Verbraucherpreisindizes als Deflatoren beruhen. So etwa bei den Wechselkurs-Indizes der BIZ oder des IWF. Die Verbraucherpreise bieten außerdem den Vorteil, dass sie sehr schnell verfügbar und anders als etwa der BIP-Deflator nicht wiederholt korrigiert oder ergänzt werden müssen.

Die zweite traditionelle Gruppe von Deflatoren hat die Wettbewerbsfähigkeit im Visier. Ihre Indikatoren sind typischerweise die Lohnstückkosten, die Produzenten- oder die Exportpreise. Die Lohnstückkosten sind definiert als ein Quotient, der die Arbeitskosten durch die Leistung oder Produktivität teilt. Die nominellen Lohnstückkosten werden berechnet, indem die nie nominellen Lohnkosten pro Einheit der Beschäftigung als Indikator für die Arbeitskosten verwendet werden. Die Produktivität wird als reale, d.h. preisbereinigte Wertschöpfung pro Einheit der Beschäftigung errechnet.

Wichtig ist, dass diese Gruppe von Indikatoren sich auf die Kosten bzw. Preise handelbarer Güter und Dienstleistungen konzentriert, dies im Unterschied zur ersten Gruppe der Deflatoren wie den Verbraucherpreisen. Denn traditionell wurden die Lohnstückkosten in der Statistik durch die Lohnstückkosten in der verarbeitenden Industrie abgebildet. Dies war etwa der Fall in den realen Wechselkurs-Indizes der OECD.

Der Grund für die Konzentration auf die Kosten und Preise von Industriewaren ist ganz einfach: Die Außenhandels-Komponente in der Leistungsbilanz spielte sich hauptsächlich in den Exporten und Importen von Gütern ab. Noch heute bestehen in führenden Industrieländern wie Deutschland oder in Italien die Exporte und die Importe in der Leistungsbilanz zu über 80 Prozent aus Gütern. Exporte und Importe von Dienstleistungen haben über die Zeit hinweg zugenommen, sind aber noch immer bei den meisten Ländern von sekundärer Bedeutung im Außenhandel. Dies hat damit zu tun, dass der Welthandel in Etappen als Güterhandel liberalisiert wurde. Dienstleistungen hingegen sind immer noch durch viele sichtbare und unsichtbare Hemmnisse vom Freihandel ausgeschlossen. Selbst der EU-Binnenmarkt hat an dieser Tatsache nicht viel geändert.

Dennoch: Der Vormarsch der Dienstleistungen hat verschiedene Ökonomen veranlasst, die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten als Deflator für die Berechnung des realen effektiven Wechselkurses vorzuziehen. Neben der (langsamen) Zunahme der Dienstleistungen im Außenhandel ist vor allem die starke Zunahme des Dienstleistungsgehalts bei den Güterexporten (und -importen) für diese Überlegung verantwortlich. Was sich nämlich viel stärker geändert hat, ist die Zusammensetzung der Wertschöpfung bei Industrieprodukten. Die Industrie hat in den letzten 30-40 Jahren immer mehr Vorleistungen einerseits ans Ausland, andererseits an spezialisierte Funktionsträger im Dienstleistungssektor ausgelagert. Deshalb werden auch die Löhne und die Produktivität in vorgelagerten Branchen der verarbeitenden Industrie herangezogen. Deshalb die Fokussierung auf gesamtwirtschaftliche Lohnstückkosten.

Die Diskussion der Deflationierung ist nicht rein akademisch und betrifft nicht irgendein technisches Detail, sondern enthält Punkte höchster Brisanz. Sie ist eng an Strukturveränderungen der Wirtschaft, vor allem der Industrie, des Konsums und des Arbeitsmarktes, im Zeitalter der Globalisierung der letzten 30 Jahre gebunden. Diese korrekt einzufangen, ist mit der richtigen Wahl und Interpretation der Daten vordringlich. Sonst können sich Fehlschlüsse mit unerwünschter Wirkung ergeben.

Schon die Deflationierung über die Verbraucherpreise enthält versteckte Fallstricke und wird deshalb vielfach zu irreführenden Ergebnissen führen. Die folgenden Ausführungen sind auch nützlich, um später die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten verstehen zu können.

Den meisten Lesern dürfte der Index der Verbraucherpreise noch einigermaßen geläufig sein. Er bildet die Preise für den Lebensunterhalt ab, basiert auf einem durchschnittlichen Warenkorb der Haushalte, der durch Befragungen und Erhebungen zustande kommt. Der Index der Verbraucherpreise ist in vielen Ländern maßgeblich für die Entwicklung der Nominallöhne (Teuerungsausgleichsklauseln). Die Bestandsmieten (Altmieten) bei Wohnungen und die gesetzlichen Altersrenten sind häufig mit Formeln an ihn gekoppelt.

Was die meisten Leser, auch die meisten spezialisierten Ökonomen, nicht wissen dürften, ist die völlig unterschiedliche Ausgestaltung und Messung der Verbraucherpreisindizes von Land zu Land, dies selbst innerhalb Europas. Die Unterschiede beziehen sich einmal auf den Umgang mit den Kosten für das Wohnen, der mit Abstand größten und am stärksten gewachsenen Komponente des Warenkorbs der Haushalte in den letzten Jahrzehnten. Die folgenden Grafiken zeigen die Gewichte der Ausgaben für die Wohnung aufgrund der Haushalts-Budgets in Italien und in Deutschland:

 

Diese Struktur und Entwicklung ist recht typisch für die meisten fortgeschrittenen Industrieländer. In den letzten Jahrzehnten sind die Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel sowie für Bekleidung und Haushalteinrichtung stark zurückgegangen. Die Ausgaben für das Wohnen dagegen sind explosionsartig angestiegen. In den meisten Ländern liegen diese Ausgaben zwischen 30 Prozent und 40 Prozent der Haushalts-Ausgaben. Sie stellen heute die bei weitem größte Komponente der Haushaltausgaben dar. In Italien entfällt der dominante Teil der Wohnungskosten auf die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums. Deutschland dagegen ist das Land mit dem geringsten Anteil von Wohnungseigentümern in Westeuropa. Die Mehrzahl der Haushalte sind immer noch Mieter, auch wenn der Anteil der Wohnungseigentümer langsam ansteigt.

So ähnlich der zugrunde liegende Sachverhalt – der dominante Anteil der Haushaltausgaben entfällt auf die Wohnkosten – so unterschiedlich ist der Umgang mit den Wohnungskosten in der Statistik der Verbraucherpreise. In Europa haben Deutschland und die Niederlande einen Ansatz, welcher dem 1982 eingeführten amerikanischen Ansatz (engl. Owner’s Equivalent Rent, kurz OER) ähnlich ist. Beide Länder haben große Märkte für Mietwohnungen. Sie nehmen die Wohnungsmieten (Kaltmieten) als Proxy für die Wohnkosten auch von Wohneigentümern äquivalenter Objekte.

Die Peripherieländer inklusive Italien und Frankreich sowie weitere Länder dagegen berücksichtigen nur die effektiv bezahlten Mieten von Mietwohnungen sowie die Nebenkosten, auch die der Wohneigentümer, für Elektrizität, Gas, Wasser in den Wohnungskosten. Die unterstellten Mieten, d.h. die Kosten für selbst bewohntes Wohneigentum, werden im Verbraucherpreisindex überhaupt nicht berücksichtigt. Dies obschon in den Peripherieländern 70-90 Prozent der Bevölkerung Wohneigentümer sind. Das ist eine enorme Verzerrung mit weitreichenden Konsequenzen. Eine Schwierigkeit ist dort, dass es teilweise gar keine repräsentativen Mietwohnungsmärkte gibt: Der Mietmarkt ist einerseits in den Städten konzentriert, und andererseits auf die untersten Einkommensgruppen beschränkt, die sich Wohneigentum nicht leisten können.

Im Vereinigten Königreich schließlich gibt es im Retail Price Index (RPI) eine große Komponente, welche die Kosten selbstbewohnten Wohneigentums abbildet. Sie enthält Abschreibungen auf die Kaufpreise, bezahlte Hypothekarzinsen, Ausgaben für Reparaturen und Unterhalt der Wohnung, und vor allem die ganz erheblichen Steuern der Wohnungseigentümer. In Irland sind zusätzlich zu den Mieten und Nebenkosten auch die von Wohneigentümern bezahlten Zinsen für Hypotheken im Index enthalten.

Diese Unterschiede sind deshalb so gewichtig, weil die Wohnkosten die mit Abstand größte Komponente der Haushaltsausgaben darstellen. Darüber hinaus sind die Wohnkosten in der Periode seit 1995 in vielen, ja den meisten Ländern mit Abstand am stärksten gewachsen. Sonst wären sie ja nicht so dominant geworden. Der nur schon innerhalb Europas völlig unterschiedliche Umgang mit dieser bei weitem dominanten Komponente des VPI macht die Aussagekraft vieler realer effektiver Wechselkursindizes fragwürdig, die auf der Deflationierung durch nationale VPI’s beruhen.

Doch die völlig unterschiedliche Behandlung der Wohnkosten nur schon innerhalb Europas in den VPI’s hat indirekt auch für die gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten einschneidende Konsequenzen. Die Frage, ob die Nominallöhne in den Peripherieländern zu viel oder zu wenig gewachsen sind, wird sich dann in einem ganz neuen makroökonomischen Kontext stellen.

Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Neben den Wohnkosten sind seit Einführung des Euros die Preise von Energie und für Nahrungsmittel stark angestiegen. Dies kann einfach anhand des harmonisierten Verbraucherpreis-Index der Europäischen Zentralbank (hicp) gezeigt werden. Alle Komponenten wuchsen sehr gemäßigt mit Ausnahme dieser beiden. Der hicp schließt wie die nationalen Verbraucherpreis-Indizes Frankreichs oder der Peripherieländer die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums aus, auch für Deutschland oder für die Niederlande. Er enthält mithin die wichtigste und dynamischste Komponente der Teuerung nicht. Das ist durchaus zweckorientiert, so kann die EZB einen optisch hervorragenden Leistungsausweis in der Inflationskontrolle vorweisen. Dies hat bei weniger aufmerksamen Zeitgenossen viel zu ihrer institutionellen ‚Kredibilität’ beigetragen.

Für die Peripherieländer ist das viel höhere Gewicht von Energie und Nahrungsmitteln in ihren nationalen Verbraucherpreis-Indizes wie auch im nationalen Beitrag zum Eurozonen-hicp charakteristisch.

 

Die Grafik enthüllt sehr schön, dass die Ausgaben der Haushalte für Energie und für Nahrungsmittel in den Peripherieländern und für Nahrungsmittel auch in Frankreich und in Belgien viel höher als in Deutschland oder den Niederlanden sind. Es reflektiert dies letzten Endes zwei Merkmale: Diese Länder sind noch immer ärmer und weniger entwickelt als Deutschland, und es fehlt ein großer Markt für Mietwohnungen. Die Wohnungskosten sind deshalb zu einem viel kleineren Teil im Index enthalten.

Diese Unterschiede im Gewicht von Energie und Nahrungsmitteln im Warenkorb erklären auch zu einem erheblichen Teil, weshalb die Teuerung gemessen am standardisierten hicp-Index in den Peripherieländern nach der Einführung des Euro leicht höher lag als in den Kernländern der Eurozone.

 

Die Grafik ist wie folgt zu interpretieren: Die erste Säule von 24.3 Prozent repräsentiert eine fiktive kumulative jährliche Teuerung von 2 Prozent, dies Jahr für Jahr. Die 2 Prozent sind gewählt, weil nach offizieller Leseart der EZB eine Teuerung von knapp unter 2 Prozent Preisstabilität bedeutet. Im Eurozonen-Mittel (zweite Säule) wurde deshalb, nach offizieller Definition, praktisch Preisstabilität erreicht, die kumulierte Wachstumsrate von 22 Prozent liegt leicht unter 24.3 Prozent. Bei den Kernländern der Eurozone liegen praktisch alle Länder in diesem Bereich, mit der großen Ausnahme Deutschlands. Deutschland hatte eine Teuerung von ungefähr 1 Prozent jährlich, damit deutlich weniger als die Zielgröße Preisstabilität. Deutschland hatte, etwas überspitzt formuliert, eine ganz leichte Deflation. Dies war aber angesichts von Zweifeln am Euro im Vorfeld der Einführung politisch sehr gewünscht.

Italien, Portugal und Irland liegen gerade mal rund 0.5 Prozent pro Jahr über der Preisstabilität. Bei Italien und Portugal ist dies weitgehend durch das erhöhte Gewicht von Energie und Nahrungsmitteln im Index erklärbar. Nur Spanien und Griechenland hatten eine Teuerung, die signifikant, um rund 1 Prozent bzw. 1.5 Prozent pro Jahr von der definierten Preisstabilität abwich. Ein Teil ist ebenfalls dem höheren Gewicht der Energie- und Nahrungsmittelpreise, ein Teil ist zu starker Konjunktur/Übernachfrage zuzuschreiben. Selbst in diesen beiden Ländern war die Teuerung gering, sie betrug lediglich rund 1 Prozent bzw 1.5 Prozent gegenüber der Preisstabilität von leicht unter 2 Prozent pro Jahr. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass die Lohnstückkosten genau analysiert werden müssen. Denn die Lohnstückkosten sind in empirischen Inflationsmodellen zentrale Determinanten der inländischen Teuerung. So hoch kann diese angesichts der recht bescheidenen Differenzen zum Ziel der Preisstabilität nicht gewesen sein.

Korrekt gemessen, unter Einbezug der effektiven Teuerung im Wohnungsmarkt, wäre die Teuerung in Spanien, Griechenland, Italien, Frankreich und auch in den Niederlanden viel höher. Aber sie käme selbst dann sicher nicht von den Lohnstückkosten her, sondern von ganz anderen Faktoren.

Summa summarum bedeutet dies, dass Verbraucherpreis-Indizes als Deflatoren für Wechselkurs-Indizes in den letzten beiden Jahrzehnten sehr fragwürdig geworden sind. Wenige große Positionen wie Wohnungskosten, Energie und Nahrungsmittel dominieren die effektive Ausgabenstruktur der Haushalte mit Anteilen von kumuliert weit über 50 Prozent im Warenkorb etwa in den Peripherieländern.

Die Preisentwicklung dieser drei Ausgabenpositionen haben die gesamte Teuerung der letzten beiden Jahrzehnte in Europa praktisch im Alleingang geprägt, im Rest der Welt sogar noch stärker als in Europa. Die drei Positionen werden aber völlig verschieden in den nationalen Verbraucherpreis-Indizes nur schon innerhalb Europas abgebildet. In den einen Ländern fehlt die größte Komponente mit dem stärksten Einfluss fast vollständig (Kosten selbst bewohnten Wohneigentums, Italien und andere Peripherieländer), oder sie tauchen mindestens zur Hälfte auf (Deutschland, Niederlande), sind aber falsch abgebildet (Niederlande), oder sie sind alternativ sehr stark präsent (fast korrekt im Vereinigten Königreich, weniger in Irland). Wo sie fehlen, sind dafür die beiden anderen Positionen (Energie, Nahrungsmittel) stark übergewichtet.

Die wichtigsten Indizes realer effektiver Wechselkurse sind global gesehen diejenigen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Beide basieren, bei aller Verschiedenheit der Konstruktion und der Details, auf der Deflationierung durch die Indizes der Verbraucherpreise. Sie sind deshalb, was noch vertieft zu zeigen sein wird, dadurch für aktuelle Fragestellungen unbrauchbar, vor allem zur wichtigsten unserer Zeit, nämlich der Rolle von China im Welthandel.

Eine Alternative zu den Konsumentenpreisen verarbeiteter Industriegüter stellen die Produzentenpreise bzw. die Preise von Industriewaren aus dem Verbraucherpreisindex (OECD) dar. Die Produzentenpreise sind an sich besser für Zwecke der Wettbewerbsfähigkeit geeignet, weil sie die inländische Detailhandelsmarge auslassen, und weil die Produzenten/Exporteure in aller Regel keine Mehrwertsteuer auf ihre Exportgüter bezahlen. Die Mehrwertsteuer ist hingegen in den Verbraucherpreisindizes enthalten, auch in den Indizes mit den Preisen verarbeiteter Industriegüter wie der OECD. Bei Veränderungen der Mehrwertsteuersätze signalisieren die zur Deflationierung verwendeten Konsumentenpreise dann eine Verbesserung oder Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit, die es in der Realität gar nicht gegeben hat. Und Mehrwertsteuerveränderungen hat es in den letzten Jahren vor allem in den Peripherieländern in ganz massivem Ausmaß gegeben.

Nun sind wichtige Voraussetzungen vorhanden, um die Probleme der gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkosten, das zentrale Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone, verstehen zu können. Dies ist Thema der nächsten Artikel. Hierzu nur soviel: Für die Bestimmung der Nominallöhne in Italien und den anderen Peripherieländern, des einen Faktors der Lohnstückkosten, spielten die Verbraucherpreise eine ausschlaggebende Rolle. Denn die Lohnsetzung Italiens (oder Spaniens) orientierte sich am Ziel von 2 Prozent jährlichem Lohnwachstum. Dies wurde als inflationsneutral definiert und in den 1990er Jahren zwischen den Sozialpartnern vereinbart und bis 2011 praktisch durchgesetzt. Im Ergebnis kamen zusätzlich Elemente eines Teuerungsausgleichs hinzu, allerdings unterschiedlich von Land zu Land. In Italien gab es nach der Jahrtausendwende sehr wenig Teuerungsausgleich, außer in einem bestimmten Jahr, nämlich 2009.

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