Angesichts der "wirklich entsetzlichen Situation" im syrischen Aleppo hält die Bundesregierung Sanktionen gegen Russland für eine mögliche Reaktion. Die Bundesregierung habe "Verständnis dafür, dass über alle Optionen nachgedacht wird", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. Er rief Russland und den Iran auf, sich für eine Waffenruhe einzusetzen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), hatte sich zuvor für Sanktionen gegen Russland wegen dessen möglicher Beteiligung an Kriegsverbrechen in Syrien ausgesprochen. Die Mitverantwortung Russlands für schwerste Kriegsverbrechen sei unstrittig, sagte er der Süddeutschen Zeitung vom Freitag. Das dürfe nicht ohne Konsequenzen bleiben. "Eine Folgen- und Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal", sagte Röttgen. "Das Mindeste, was Europa aufbringen muss, ist eine klare Sprache, die ein Kriegsverbrechen ein Kriegsverbrechen nennt". Wirtschaftssanktionen würden zwar kurzfristig nicht wirken, aber langfristig in die "Folgenkalkulation" des russischen Präsidenten Wladimir Putin eingehen. Wirtschaftssanktionen seien die einzigen praktisch umsetzbaren Maßnahmen, doch haben die europäischen Regierung nach Röttgens Ansicht "aus rein innenpolitischen Gründen Angst vor diesem Schritt".
Interessant ist die Wortmeldung des Kanzlerinnen-Sprechers zu diesem Vorschlag Seibert sagte laut AFP:
"Angesichts der wirklich entsetzlichen Situation in Aleppo, für die es bald keine Worte mehr gibt, angesichts der ungebrochenen Eskalation der Gewalt in Syrien, der fortgesetzten Berichte über Kriegsgräuel bis hin zu Kriegsverbrechen und eben des andauernden Leids der Zivilbevölkerung haben wir Verständnis dafür, dass über alle Optionen nachgedacht wird. Wir sehen insbesondere Russland und den Iran in der Pflicht, ihrerseits alles dafür zu tun und auf das Assad-Regime ihren Einfluss zu nutzen, dass diese Eskalation der Gewalt und das Leiden der Menschen ein Ende findet."
Die beiden Staaten seien in der Verantwortung, die "Verbrechen" der Assad-Regimes "zu beenden und sich nicht selbst an solchen zu beteiligen", fügte Seibert hinzu. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) wollte nach Angaben seines Sprechers am Freitagmittag mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow über die Lage in Syrien sprechen.
Die Wortmeldung von Merkels Sprecher zeigt eine interessante rhetorische Methode: Losgelöst von der Frage der Journalisten, was er vom Röttgen-Vorstoß halte, bleibt die Aussage im Raum stehen, dass die Bundesregierung "Verständnis" für die Forderung nach Sanktionen habe. In der weiteren Rezeption entsteht so der Eindruck, als reagiere Merkel auf die Forderungen einer syrischen Opposition, der USA oder Menschenrechtsorganisationen.
Es ist unwahrscheinlich, dass Röttgen eine derart weitreichende Förderung ohne das Wissen Merkels erhoben hat. In der CDU herrscht große Disziplin, die auch von der Parteiführung strikt überwacht wird. Dies hatten erst vor kurzem die Erkenntnisse über den Führungsstil in der Partei sichtbar gemacht.
Tatsächlich hat bisher niemand außer der SPD und den Grünen Sanktionen gegen Russland gefordert - in keinem anderen europäischen Staaten und nicht einmal in den USA gibt es diese Debatte. Indem Merkel jedoch ausdrücklich die Forderung Röttgens unterstützt, macht sie sich die Aussage zu eigen. Dies geschieht offenkundig in der Absicht, die Idee in der EU zu lancieren.
Sollte Merkel die EU tatsächlich dazu bringen, Sanktionen zu verhängen, könnte schon die Diskussion darüber Folgen haben: Am Ende könnte sich die EU darauf einigen, zwar keine neuen Sanktionen zu verhängen. Doch man könnte als Kompromiss präsentieren, dass die Sanktionen, die gegen Russland wegen MH 17, der Krim, der grünen Männchen usw. verhängt wurde, verlängert werden. Diese Entscheidung steht im Januar an, und aktuell steigt die Zahl der EU-Länder, die den Preis für die Sanktionen nicht mehr zahlen wollen. Diese Kritiker könnte mit einer neuen Begründung -Syrien statt Ukraine -der Boden unter den Füssen weggezogen werden.
Weder Röttgen noch Seibert legten im übrigen Belege für ihre Behauptungen, Russland begehe in Syrien Kriegsverbrechen vor. Die Russen kämpfen tatsächlich einen schmutzigen Krieg, dessen Brutalität allerdings von den islamistischen und internationalen Söldnern provoziert wurde. Sie verwenden die Zivilbevölkerung als Schutzschilde und gehen mit Selbstmordattentaten gegen Zivilisten vor. Mit einem Tunnelsystem in Ost-Aleppo haben sie faktisch alle Einwohner als Geiseln genommen. Der Waffenstillstand ist zerbrochen, als die US-geführte Koalition aus heiterem Himmel die syrische Armee irrtümlich angegriffen hat.
Zu diesen Vorkommnissen hat sich Bundeskanzlerin Merkel noch nie geäußert. Die Darstellung der Flüchtlingsbewegung nach Deutschland verzichtet von offizieller Seite vollständig auf die Erwähnung des Kausalzusammenhangs der Flüchtlinge mit dem Syrien-Krieg.