Der Aufstand von 2011 endete mit einer endgültigen, vernichtenden Niederlage: In der arabischen Welt besetzen Militärdiktaturen und Fundamentalisten den gesamten politischen Raum. Zwölf Monate nach Occupy Wall Street wurde aus der Bewegung Occupy Sandy, als ihr nämlich klar wurde, dass der Sturm die einzige Katastrophe war, die sich überhaupt besetzen ließ. In Europa ist diese Niederlage von besonderer Bedeutung, denn sie markiert das Ende eines langen historischen Abschnitts, der im Juni 1848 in Paris begann. Dieser gigantische Konflikt, in dem sich seitdem Arbeiter und Kapitalisten gegenüberstanden, ist vorüber, und die Arbeiter haben verloren. Für immer. Es wird kein Rückspiel geben und keinerlei Rachemöglichkeit.
Die Geschichte der Gesellschaft ist keine Schach-Meisterschaft: Wenn man das Spiel verliert, kann man die Bauern nicht einfach wieder auf dem Schachbrett arrangieren und ein neues Spiel beginnen. Als die Arbeiterklasse besiegt wurde, wurde auf dem Schachbrett mit einem Mal alles ganz anders, und die Bauern nahmen andere Farben und Formen an, und heute sind sie nicht mehr die, die sie waren. Das Schachbrett an sich gibt es nicht mehr, es ist durch den Bildschirm eines virtuellen Spiels ersetzt worden, das das gesellschaftliche Gehirn vor enorme Herausforderungen stellt. Deshalb ist es nun an der gesellschaftlichen Fantasie, die Sache ganz anders anzugehen: Der Handlungsraum verlagert sich aus der Politik heraus und hin zur Techno-Wissenschaft, und anstatt überhaupt noch über ökonomische Dinge zu verhandeln, flüchten wir aus der Ökonomie, um nichtökonomische Räume des symbolischen Handelns zu schaffen, in denen wir überleben können. Die Aufstände von 2011 brachen in den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, und in den verschiedenen Kontexten hatte man verschiedene Erwartungen. Und doch entstand so etwas wie ein allgemeines Bewusstsein: Überall auf der Welt zerstört der Finanzkapitalismus die Zukunft der prekären Generation, verleibt sich zugleich die gesamte Wissensproduktion ein, und entsprechend richten sich die Inhalte des Wissens immer häufiger nach den vorherrschenden Anforderungen der Profit-Wirtschaft.
Die Prekarisierung betrifft jeden einzelnen Aspekt der Arbeitstätigkeit. Die Prekarität ist die allgemein übliche Form der kognitiven Arbeit, da nämlich die Prekarität ganz besonders gut zu einer rekombinanten, vernetzten Form der Arbeit passt, die sich auf Informationen reduzieren lässt. Aus der Perspektive der prekären kognitiven Arbeit war der Aufstand von 2011 der Anfang eines ganz neuen Prozesses, der in den kommenden Jahrzehnten die gesamte gesellschaftliche Landschaft erfassen wird. Die Rebellion der prekären kognitiven Arbeit muss sich jedoch des Vermächtnisses der spätmodernen proletarischen Revolten sowie der historischen Altlasten vergangener industrieller Konflikte entledigen. Die spätmodernen Formen der proletarischen Rebellion haben ausgedient. Die Industriearbeiterklasse ist vor langer Zeit bereits besiegt worden, als sie nämlich die einzigartige Gelegenheit versäumte, die die technologische Revolution ihr bot. Weil die politische Repräsentation der globalen Arbeiterbewegung kulturell vollkommen rückständig war, versäumte man die Möglichkeit einer grundsätzlichen Umverteilung der Arbeitszeit.
Die Arbeiterbewegung marschierte zum Protest gegen technologische Innovationen, anstatt sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Jetzt ist es zu spät, um diese Niederlage noch rückgängig zu machen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die bisherige Geschichte sich einfach in Luft auflösen wird. Es wird noch mehr Rebellionen geben, mehr Krawalle, noch mehr Kriege, mehr Not, und es wird immer gewaltigere Massenmobilisierungen geben und Zorn und Verzweiflung. Darauf kann man wetten. So gewalttätig all dies jedoch auch sein mag und so groß der Raum auch sein wird, über den es sich erstreckt – es wird doch nur ein Überbleibsel einer Moderne und eines Klassenkampfes der Vergangenheit sein. Weder wird es zum Kern der Finanzabstraktion vordringen können noch die Richtung der automatisierten Maschinen verändern. Als Überreste werden die Körper zurückbleiben, die Empfindungen, Ereignisse, der Wille und der Zorn und die gewaltsame Verzweiflung.
Die Geschichte ist tot, weil nämlich die Spuren sämtlichen historischen und teleologischen Bewusstseins von der Evolution verschluckt werden, von diesem besinnungslosen Strom, dem sich nicht entkommen lässt. Und die Evolution hat keinerlei Ziel, keine Vernunft und keine Absichten. Ganz wie die Natur ist sie blind, und jetzt nimmt die Natur Rache.
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Dieser Text stammt aus dem sehr lesenswerten Buch „Der Aufstand: Über Poesie und Finanzwesen“ des italienischen Philosophen Franco „Bifo“ Beradi. In dem Buch beschreibt Beradi, der intensiv bei der Occupy-Bewegung mitgewirkt hat, warum er klassischen Revolutionen keine Chance mehr gibt. Er sieht jedoch neuen Widerstand wachsen - bei Künstlern und einer neuen, eher informellen Generation. Ihre Vielfalt, ihr ständiges Zurückweichen und Neuformieren, ihr Auftauchen an unerwarteten Orten und mit unkonventionellen Methoden, ist die adäquate Antwort auf eine Gesellschaft, in der sich die Eliten höchst professionell der Technologie bedienen, um Repression auszuüben.
Berardi, geboren 1949 in Bologna, ist Philosoph und Medientheoretiker und war früher in der revolutionären Autonomia-Bewegung in Italien aktiv. Er publizierte (u. a. mit Félix Guattari) diverse Bücher zur Verschränkung von Kommunikation, Psychologie und Ökonomie. Zudem war er Gründer von Radio Alice in den 1970er-Jahren und lehrt Medienästhetik an der von ihm mit ins Leben gerufenen European School of Social Imagination in San Marino.
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