Die Ölpreise scheinen im freien Fall zu sein. Seit Sommer 2014 haben sich die Preise praktisch halbiert, wobei die Höchstpreise schon früher, 2008 oder 2011 zu verzeichnen waren. Doch es ist kein isolierter, spezifischer Preisrückgang. Im Gegenteil: Der Absturz der Rohstoffpreise ist effektiv breit basiert, er bezieht sich fast auf alle Rohstoffpreise. In einer mehrteiligen Serie werden Ursachen, Abläufe und Konsequenzen beleuchtet. Der erste Teil befasst sich mit den Rohstoffpreisen im Allgemeinen.
Seit Sommer 2014 haben sich die Rohöl-Preise praktisch halbiert, wobei die Höchstpreise schon früher, 2008 oder 2011 zu verzeichnen waren. Doch es ist kein isolierter, spezifischer Preisrückgang. Im Gegenteil: Der Absturz der Rohstoffpreise ist breit basiert, er betrifft keineswegs nur Erdöl und Erdöl-Derivate.
Er hat so gut wie alle Rohstoffe erfasst:
– andere Energieträger wie Kohle oder Erdgas;
– Industriemetalle wie Eisenerz, Aluminium, Kupfer, Nickel, Zinn;
– Nahrungsmittel wie Weizen, Mais, Gerste, Reis;
– Weiche Rohstoffe (‚Soft commodities’) wie Zucker, Kaffee;
– Agrarische Rohstoffe wie Baumwolle, Kautschuk, Wolle;
– Edelmetalle wie Gold, Silber oder Platin.
Nur wenige Rohstoffe können sich dieser Baisse entziehen: Preise von Vieh, Geflügel, Bananen und Olivenöl folgen einem anderen Trend. Die folgende Graphik verdeutlicht die Korrelation der wichtigsten Rohwarengruppen in einem längerfristigen Kontext. Nach einer langen Phase der Stagnation, des Rückgangs im Verlauf der 1990er Jahre haben die Rohstoffpreise in den 2000er Jahren einen synchronen Anstieg erlebt, einen Boom wie in den 1970er Jahren. Nach einer Phase der Höchstpreise je nach Rohstoff 2008 oder 2011 sind sie zunächst leicht zurückgegangen, und seit 2014 im scheinbar freien Fall.
Nicht alle Rohstoffgruppen sind gleichermaßen davon betroffen. Am stärksten hat die Baisse die Industriemetalle und die Energieträger erfasst. Agrarische Rohstoffe zum industriellen Gebrauch und auch Nahrungsmittel haben sich wie üblich abgeschwächt verändert. Bis jetzt ist ein erheblicher Teil des Preisbooms der Rohstoffe der 2000er Jahre korrigiert, ungefähr auf das Niveau von 2005 zurück. Aber noch nicht ganz: Es ist, von einzelnen Rohstoffen abgesehen, noch kein Baissetrend auf die Niveaus vor 2002 zurück zu beobachten. Im langjährigen Schnitt liegen die Rohstoffpreise immer noch deutlich höher als in den 1990er Jahren. Doch nicht nur die absoluten Niveaus sind wichtig, sondern auch die Veränderungen von Jahr zu Jahr. Ein Sturz wie seit einem Jahr ist jedenfalls außergewöhnlich.
Die Erklärung für diesen synchronisierten Preisrückgang kann nicht allein auf spezifischen Faktoren für Erdöl beruhen, sondern sie muss viel breiter, allgemeiner für Rohwaren gültig sein. Traditionell spielen für die großen Trends der Preise von Rohwaren monetäre Faktoren sowie die physischen Angebots- und Nachfragebedingungen eine große Rolle.
Bei den monetären Faktoren dominiert zunächst die amerikanische Geldpolitik: Rohwaren werden in Dollars kontiert und gehandelt. Die kurz- bis mittelfristigen Dollarzinsen stellen die Kosten der Lagerung von Rohstoffen dar. Bei steigenden Zinsen verteuert sich die Aufbewahrung, bei fallenden verbilligt sie sich. Die amerikanischen Zinsen, konkreter die Zinskurve, sind auch über einen zweiten Mechanismus für die Rohwaren relevant. Sie beeinflussen den Kurs des US-Dollars. Weil Rohstoffe in Dollar gehandelt werden, Angebot und Nachfrage aber zu einem bedeutendem Teil aus dem Nicht-Dollarraum kommen, sind die Rohstoffpreise invers mit dem US-Dollar korreliert. Wenn der Dollar steigt, fallen die Rohstoffpreise tendenziell. Ein fallender Dollar begünstigt einen Preisanstieg.
Monetäre Faktoren sind deshalb starke Treiber der Rohstoffpreise. Historisch hat sich die Kombination von deutlichen Zinssteigerungen im Dollar und einem festerem US-Dollar in Preisbaissen für Rohstoffe ausgewirkt. Umgekehrt haben Phasen mit deutlich fallenden US-Zinsen und einem stark fallendem Dollar Preishaussen begünstigt. Früher waren die Rohstoffpreise sehr stark durch die Kombination der amerikanischen Geld- und Finanzpolitik und ihre Konsequenzen für Dollar-Zinsen und für den USD-Wechselkurs bestimmt.
– Preishausse der 1970er Jahre: Real tiefe Zinsen im USD, schwacher Dollar
– Preiscrash in der ersten Hälfte der 1980er Jahre: Rasch steigende USD-Realzinsen, rapider Anstieg und sogar Überschiessen des USD.
– Steigende Rohstoffpreise in der zweite Hälfte der 1980er Jahre: Tiefe Zinsen, Fallender Dollar.
– Leicht fallende Rohstoffpreise in den 1990er Jahren: Tiefe Zinsen , steigender US-Dollar
– Preisexplosion der 2000er Jahre: Sehr niedrige US-Realzinsen, stark fallender US-Dollar auf historische Tiefstände.
– Preisanstieg der Rohwaren seit 2011: Nominelle Nullzinsen, neuer Dollar-Bullenmarkt.
Doch die Phase der Null-Zinsen im Dollar scheint sich ihrem Ende zu nähern. Die verbesserte Arbeitsmarktlage in den USA hat die US-Notenbank veranlasst, eine leichte Straffung der Geldpolitik zu signalisieren. Sie dürfte im September 2015 einen ersten Zinsschritt machen.
Der Markt erwartet aber nur, dass die Politik von einem extrem expansiven Kurs aus leicht korrigiert wird. Der Future-Strip sieht den Satz für Federal Funds im Interbankenmarkt bis im vierten Quartal 2016 auf 1% ansteigen. Diese Erwartung der Zinssteigerung begünstigt ceteris paribus einen Rückgang der Rohstoffpreise, kann aber den Preiszerfall allein niemals erklären.
Viel wichtiger ist die begleitende Dollarhausse. Diese ist nur teilweise durch die erhöhten Zinserwartungen im Dollar verursacht. Sie wird zusätzlich durch die ausgeprägte Währungsschwäche des Euro und des Yen erklärt, der beiden hauptsächlichen Alternativwährungen im globalen Kontext. In beiden Räumen spielt eine Wachstumsschwäche, kombiniert mit einer Politik extrem tiefer Zinsen eine Rolle.
Hinzu kommt die Schwäche des Canada- und Aussie-Dollars und der Währungen vieler Schwellenländer. In diesen Ländern schwächt sich das Wirtschaftswachstum markant ab. Ihre Währungen fallen teilweise wegen der Baisse spezifischer Rohstoffpreise, hauptsächlich aber auch aufgrund einer veränderten Risikoeinschätzung. Der Markt sieht massive politische Risiken etwa im Rubel, im brasilianischen Real, auch im südafrikanischen Rand.
Insgesamt wird die amerikanische Geldpolitik erheblich gestrafft. Diese Restriktion, eine mid-cycle Adjustierung, wird weniger über die Zinsen als über einen starken Dollar ausgelöst. Sie begünstigt eindeutig eine Abschwächung der Rohstoffpreise – erklärt aber keinen Preisfall wie seit einem Jahr.
Um diesen verstehen zu können, sind Angebots- und Nachfrageelemente einzubeziehen.
In vielen Rohwaren-Industrien haben hohe Investitionen während der Phase der Knappheit und sehr hoher Preise, dazu generöse Finanzierungsbedingungen das Angebots markant ausgeweitet. Technisch bedingt sind im Rohwarenbereich die Reifungszeiten der Investitionen sehr lang. Bis neue Erdölquellen oder Minen samt Transportwegen erschlossen sind, kann es viele Jahre dauern. Heute kommt auf den Markt, was vor fünf bis zehn Jahren entschieden worden ist. Typisch für Rohstoffe sind deshalb lange Zyklen, mit überschießenden Reaktionen der Investitionen.
Der langfristige Kondratieff-Zyklus ist ein klassischer Rohstoffpreis-Zyklus. Damit sei nicht behauptet, dass wir bereits in einer langen Abschwungphase stecken. Denn die Rohstoffpreise werden seit der Jahrtausendwende durch neue Akteure mitbestimmt. In der Nachkriegszeit drehte sich alles um die USA. Jetzt spielen auch China und andere Schwellenländer eine Schlüsselrolle.
Angesichts der starken Angebotsausweitung wirkt sich verheerend aus, dass ausgerechnet jetzt die Nachfrage aus China sich abflacht oder sogar regelrecht einbricht. In der ersten Jahreshälfte 2015 sind die Importe Chinas, ausgedrückt in USD, um rund 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen. Das ist sehr bedeutsam. Denn China ist zusammen mit den USA die größte Volkswirtschaft der Welt geworden. China hat aber viel höhere Export- und Importquoten als die Vereinigten Staaten. Dadurch ist das Land gerade für die Weltnachfrage in vielen Rohwaren zum Motor oder dominierendem Faktor geworden.
Die Zukunftsaussichten Chinas haben sich stark eingetrübt. Die Exporte leiden nicht nur wegen der schwachen Absatzdynamik in vielen Ländern. Die massive Aufwertung des Dollars, die im handelsgewichteten Wechselkurs nur unzureichend zum Ausdruck kommt, trifft gerade China voll.
Gegenüber einzelnen Ländern beträgt die Aufwertung des Dollar 30 bis 50 Prozent.
China kettet seine Währung an einen Zielkorridor im Dollar und fixiert ihn de facto. Dadurch verteuert sich das Land als Produktionsstandort, hat aber anders als die USA viel stärker preissensitive Exportprodukte. Hinzu kommen mit fast 10 Prozent wachsende Nominallöhne aufgrund eines ausgetrockneten Arbeitsmarktes. China steht vor einem kombinierten Aufwertungs-, Kosten- und Absatzschock auf den Außenmärkten. Das wird den Export hart treffen. Hinzu lahmt die Baukonjunktur. Die sehr hohen Leerbestände im Wohnungsbau wie teilweise im kommerziell-gewerblichen Bau belasten die Bautätigkeit. Die Kredite an Immobilien-Entwickler wurden eingefroren. Eine harte Landung ist nicht garantiert, aber je nach Reaktionsweise der Behörden möglich. Vorderhand deutet alles auf eine weitere erhebliche Abschwächung der Wachstumsdynamik hin.
Im Ergebnis ist der Preisverfall bei den Rohstoffen somit das Ergebnis von vier verschiedenen Faktoren: Die erwartete Straffung der Geldpolitik in den USA, der Anstieg des US-Dollars, die verzögert wirkenden Angebotsausweitung im Rohstoffsektors und der markante Wachstumseinbruch in China, dem wichtigsten Markt für viele Rohstoffe. Dieser Trend ist nicht vorbei und nicht abgeschlossen. Alle Faktoren sind weiter wirksam und weisen vorderhand in die gleiche Richtung.