Der deutsche Ausstieg aus der Atomenergie erzeugt Unmut in den Nachbarländern. Denn weil das eigene Übertragungsnetz nicht ausreichend ausgebaut ist, leitet Deutschland seine Stromüberschüsse verstärkt über die Netze seiner Nachbarstaaten. Diese beklagen die ungeplanten Stromeinspeisungen, weil dadurch die Gefahr eines Blackouts in ihren Netzen steigt. Zudem wird dort die heimische Energiewirtschaft geschwächt, die ihre Produktion drosseln muss, um einen Stromausfall abzuwenden.
„Wenn im Norden ein starker Wind weht, bekommen wir ihn ab, dann haben wir den Blackout,“ zitiert Politico Martin Povejšil, Tschechiens Ständiger Vertreter bei der EU.
An besonders sonnen- oder windreichen Tagen ist das deutsche Übertragungsnetz mit der produzierten Energiemenge überlastet. Die Behörden leiten die Überschüsse deshalb über die Netze der Nachbarländer nach Süddeutschland. Diese sogenannten Parallel- oder Ringflüsse (Englisch: Loop Flows) stellen die Netze der Nachbarländer auf eine harte Belastungsprobe. Als direkte Folge der Energiewende stieg die Belastung der Stromnetze in den Niederlanden, Tschechien, Polen, Belgien und Frankreich stark an. Dies geht aus dem Jahresbericht der Agentur zur Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) hervor. Die 2009 gegründete Behörde soll die Stabilität der europäischen Energiemärkte überwachen und regulieren. Die Behörde ist der Auffassung, dass „solche Ströme in den meisten Fällen eine Gefahr für ein sicheres und effizientes Funktionieren des internationalen Elektrizitätsmarktes darstellen“.
„Als es nur Kohle- und Kernkraftwerke gab, war das Energiesystem sehr berechenbar. Nun wird es immer weniger berechenbar, da mehr und mehr alternative Energiequellen ans Netz gehen. Dies kann zu einer Herausforderung in der Binnenmarktdebatte werden,“ sagte Joanna Maćkowiak Pandera vom deutschen Think Tanks Agora Energiewende gegenüber Politico. Der Think Tank steht den Grünen politisch nahe und setzt sich für eine Liberalisierung des europäischen Strommarktes und den Ausbau des grenzüberschreitenden Stromaustauschs ein.
Schon im Jahr 2011 kam ein Gutachten im Auftrag der Bundesnetzagentur zum dem Schluss, dass „Lastflüsse innerhalb Deutschlands Loop Flows auf Drittsystemen verursachen, wodurch diese gezwungen sind, ihre Nettoübertragungskapazitäten zu verringern.“ Bei einem Stromtransport von Nord- nach Süddeutschland entstünden solche Flüsse innerhalb von Deutschland und auch in den westlichen und östlichen Nachbarländern. Etwa 18 Prozent der übertragenen Leistung würden beispielsweise über die Niederlande, Belgien und Frankreich fließen, so die Gutachter.
Die Parallelflüsse werden jedoch auch durch grenzüberschreitenden Stromaustausch verursacht. So fließen beispielsweise nur etwa 78 Prozent des Austausches zwischen den Niederlanden und Belgien auf direktem Weg über die Grenze zwischen beiden Ländern. Die restlichen 22 Prozent bilden einen Paralellfluss durch Deutschland und Frankreich und erreichen Belgien aus südlicher Richtung. Während für den Stromtransport innerhalb Deutschlands also teilweise ausländische Netzgebiete genutzt werden, nehmen auch deutsche Übertragungsnetze Stromflüsse aus dem Ausland auf. Die Gutachter gelangen deshalb zu dem Schluss, dass Parallelflüsse „technisch unvermeidbar sind und gemäß EU-Recht akzeptiert werden müssen.“ Doch statt den Strom durchzuleiten oder zu verbrauchen, reagieren Deutschlands Anrainer mit Stromblockaden, um die eigenen Netze und die heimische Stromindustrie zu schützen.
„Wir haben den Deutschen gesagt: Entweder ihr baut euer Stromnetz aus, oder wir sperren euch aus!“ zitiert Politico einen EU-Diplomaten.
Polen will noch in diesem Jahr Phasenschieber an den Grenzen in Betrieb nehmen. Frankreich, die Niederlande und Belgien haben ebenfalls entsprechende Blockaden installiert. Und auch Tschechien kündigte an, Maßnahmen ergreifen zu wollen. Derzeit installiert das Land an der deutschen Grenze Phasenschieber, die im Jahr 2016 in Betrieb genommen werden. Damit wächst der Druck auf Deutschland, den Ausbau der Stromtrassen von den Produktionsorten im Norden zu den Industriestandorten im Süden zu beschleunigen. Doch die Bundesregierung schiebt eine Entscheidung über den Ausbau weiter auf.
„Wenn wir mehr erneuerbare Energie nutzen wollen, müssen wir das Netz ausbauen,“ zitiert Politico ACER-Vizepräsident Walter Boltz. Die einfachste Lösung für Deutschland wäre es, den Ausbau der Leitungen zu beschleunigen. Alternativ könnten Betreiber auch die Windenergie-Produktion an sehr windreichen Tagen herunterfahren, doch dem stünde die Politik im Weg. „Es ist ein unangenehmes Problem, das durch eine irrationale Politik verursacht wird, die es Deutschland verbietet, Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energie herunterzufahren“, so Boltz.
Da der Netzausbau jedoch nur schleppend vorangeht, hat Deutschland 2014 ein Abkommen mit Tschechien zur Regulierung der grenzüberschreitenden Stromflüsse getroffen. So soll das tschechische Stromnetz vor Überladung geschützt und die Blackoutgefahr begrenzt werden. Ein ähnliches Abkommen wurde zwischen Deutschland und Polen unterzeichnet. Zudem wurde im Juni ein Pakt zwischen Deutschland und seinen Nachbarstaaten zur besseren Integration der Energiemärkte und zur Vorbeugung von Überkapazitäten verabschiedet. Das ist auch im Sinne der EU-Kommission, die im Juli einen Plan zur Schaffung eines grenzüberschreitenden Energiemarktes veröffentlicht hat. Demnach soll in den Ausbau der Übertragungsnetze investiert werden, um dem steigenden Angebot an regenerativen Energien zu begegenen. Außerdem sollen 10 Prozent des EU-Stromnetzes bis 2020 miteinander verknüpft werden.
Dennoch wird die deutsche Energiepolitik wohl auch in Zukunft ein Streitpunkt bleiben. Laut Berechnungen von Agora Energiewende könnte die Einspeisung von Strom aus regenerativen Energien im Jahr 2030 „mitunter in einer Stunde um bis zu 14 Gigawatt steigen oder fallen“ wird – was in etwa der Leistung von 14 Großkraftwerken entspricht. Schon jetzt exportiert Deutschland einen Großteil des erzeugten Stroms in seine Nachbarstaaten – Tendenz steigend. Wie Telepolis berichtet, wurden im ersten Halbjahr 2015 etwa 25 Milliarden Kilowattstunden – rund acht Prozent des hierzulande erzeugten Stroms – ins Ausland exportiert. Im ersten Halbjahr 2014 waren es dagegen nur 19 Milliarden Kilowattstunden, ein Jahr zuvor sogar nur 15 Milliarden Kilowattstunden.
„Vor allem die älteren Steinkohlekraftwerke geraten durch die stark gestiegene Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien zunehmend unter Druck und müssen ihre Produktion immer öfter drosseln. Sie suchen ihr Heil aber auch im verstärkten Export“, sagte Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. „Unglücklicherweise verdrängt der Kohlestrom-Export in unseren Nachbarländern vor allem Strom aus klimafreundlicheren Gaskraftwerken, so in den Niederlanden oder – über die Transitländer Österreich, Frankreich und Schweiz – auch in Italien.“