Politik

Lösungen statt Parolen: Flüchtlings-Politik braucht Vernunft und Humanität

Lesezeit: 14 min
18.09.2015 02:32
Die Diskussion über die Flüchtlinge wabert zwischen Hass, Naivität, politischer Hilflosigkeit und politischem Zynismus. Es ist höchst an der Zeit, die Debatte zu versachlichen und die politisch Verantwortlichen daran zu erinnern, dass sie das Problem nicht mit großkoalitionärem Populismus lösen kann. Dazu gehört die Einsicht, dass es kein Entweder-Oder geben kann.
Lösungen statt Parolen: Flüchtlings-Politik braucht Vernunft und Humanität

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Spontane Hilfe, Hass, Blauäugigkeit, politisches Versagen

Das Flüchtlingsproblem offenbart etwas, was ich nach dem Debakel mit der Europa- und Euro-Rettungs-Politik nicht für möglich hielt: Ein noch größeres Ausmaß an politischem Versagen, an Inkompetenz, Dummheit, Leichtfertigkeit und Feigheit vor den Problemen, schon vor ihrer offenen Diskussion! Ebenso erleben wir eine völlig verkantete mediale Wahrnehmung und gesellschaftliche Diskussion im Sinne einer Entweder-Oder-Haltung, die vernünftige Lösungen unmöglich macht. War es beim Griechenland-Problem die totale und völlig einseitige Schuldzuweisung an „die Griechen“ auf der einen Seite, die fast spiegelbildlich unkritische Verteidigung der „Griechen“ auf der anderen, eher linken Seite, so gibt es auch in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion augenscheinlich nur Ja oder Nein, Pro oder Contra. Das kann aber verheerende Folgen haben. Kaum einer der Beteiligten geht von den realen, praktischen aktuellen und zukünftigen Problemen aus. Ein Beispiel: Die These „Wir können nicht alle Elenden der Welt bei uns aufnehmen“ ist in der Regel bösartig und fremdenfeindlich gemeint im Sinne des Ebner-Eschenbach-Aphorismus „Man kann nicht allen helfen, sprach der Geizige – und half keinem“; aber unbestreitbar ist diese These wahr und müsste eigentlich bei allen Beteiligten nun eine sachliche Debatte entfachen, wie viele es denn nun auf Dauer sein können und sollen – und natürlich auch wer!? Aber da herrscht Schweigen bei den meisten Beteiligten, bei Hassern, Kritikern und Willkommens-Vertretern stattdessen berechtigtes und notwendiges, aber so erst einmal nur wohlfeiles, Verurteilen des rechten Mobs.

Auf der einen Seite: Die entsetzlichen Neonazis und ihr dumpf-gehässiges Mitläuferpack (ja, da hat Herr Gabriel recht) sind doch nicht nur im Unrecht, weil sie generell und auf übelste Weise fremdenfeindlich sind, sondern weil sie auf widerliche Weise die Betroffenen attackieren, statt Politik und Verantwortliche anzusprechen, wenn sie Probleme sehen. Unerträglich! Auf der anderen Seite: Die eher verbalen „Willkommens-Vertreter“ drücken sich bisher vor der Beantwortung der Frage nach den Grenzen der Zuwanderung, den numerischen, den finanziellen, den sozialen, den kulturellen Grenzen. Dabei ist nichts klarer als die Notwendigkeit, jetzt diese Fragen zu stellen – und in absehbarer Zeit zu beantworten! Das nicht zu sehen, nenne ich blauäugig! (Ich trenne hier die verbalen von den „praktizierenden“ Willkommens-Vertretern ab, von der ungewöhnlichen Masse der Bürger, die jenseits aller Diskussionen spontan und praktisch „vor Ort“ einfach helfen! Aber das ist keine Dauerlösung, wird es auch immer weniger sein, wenn die Politik weiterhin so versagt, wie bis jetzt.) Das zusammen (Hass, Blauäugigkeit und dazwischen eine versagende Politik) ergibt eine Gemengelage, vor der mir zunehmend bange wird. Und wenn jetzt Frau Merkel, die bisher tat, was sie immer tut: abwarten, wie der Wind sich dreht, die Sache dann plötzlich zur Chefsache macht, werde ich noch unruhiger, denn betrachtet man alle bisherigen Probleme, die sie zur Chefsache machte, muss man leider feststellen, dass dies bei ihr in der Regel eine Beerdigung erster Klasse ist. Verräterisch ist auch hier, dass bei ihrem Statement vom 31.08.2015 dann auch wieder kein Halbsatz an Konkretem folgte, außer „Wir schaffen das!“ So können wir das Problem aber nicht weiter traktieren. Wozu das führt, haben wir eine Woche später bei der Wiedereinführung der Grenzkontrollen gesehen, wo es dann plötzlich hieß: „Wir schaffen das doch nicht!“

Einige grundsätzliche Einsichten zur Versachlichung der Debatte

Es wäre gut, wenn wir uns für das weitere Verfahren im Interesse einer Versachlichung auf ein paar simple Tatsachenfeststellungen einigen könnten. Das würde bei allen – bis auf wirklich hirnlose Dumpfbacken – zu einer Entemotionalisierung und Versachlichung der Auseinandersetzung führen können, die dringend geboten ist.

1. Jeder flüchtet aus harten Gründen. Jeder von uns, der in der Situation der Flüchtlingen steckte, würde ebenfalls alles daran setzen, abzuhauen, einen besseren Ort zu finden (Bremer Stadtmusikanten: Ein besseres Los als den Tod finden). Es ist also schon mal übel, in unserer relativ komfortablen Situation Vorwürfe an die Flüchtlinge zu erheben, zum Beispiel den abstrusen der Sozialschmarotzerei, wie er zum Beispiel in dem Etikett „Wirtschaftsflüchtling“ deutlich wird. Allein die Zustimmung zu diesem Statement würde schon sehr viel Gift aus der Sache nehmen.

2. Deshalb funktioniert Abschreckung so wenig. Wer die Gründe der Flüchtlinge auch nur ansatzweise kennt, weiß, dass wohl alle Zäune der Welt sie nicht hindern, ihrer Not, ihrem Elend, ihrer Hoffnungslosigkeit, ihrer Gefahr für Leib und Leben zu entkommen. Der ungarische Zaun ist übelster Populismus der rechtsgerichteten Regierung, aber nicht einmal in ihrem Sinne eine Problemlösung. Wir müssen – unter anderem! – geordnete Wege der Zuwanderung finden, auch, weil wir sie brauchen.

3. Wir produzieren das verbrecherische Schleuser-Unwesen. Wir brauchen eine solche Zuwanderungsregel auch, um die Schleuser-Kriminalität wenigstens einzudämmen mit ihren oft entsetzlichen Folgen. Es ist hier fast dasselbe Problem wie mit den Drogen, wo Grenzen und Verbote die Kriminalität erst begründen – zumindest dramatisch verstärken. Gezielt oder zufällig einen Schleuser (Rangstufe 5 im Urheberkartell) vor Ort zu fassen, ist wichtig, aber letztlich heiße Luft, mehr auch nicht!

4. Politische Problemverleugnung als Problemverstärker. Wer jahrzehntelang verleugnete, dass wir ein Einwanderungsland sind, wer in den 80er/90er Jahren, wie Kohl/Schäuble/Merkel zusammen mit der BILD, jahrelang die sogenannte Asylantenflut bekämpfte, wer, wie aktuell vor allem die CSU, mit grenzwertigen Parolen die Lösung der Probleme eher belastet, wer sich seit Jahren blind stellt vor der absehbaren(!!!) Entwicklung, wer noch bis fünf Minuten vor zwölf ein ordentliches Einwanderungsgesetz entweder für überflüssig hält oder überhaupt nicht will, kann jetzt keine Bonuspunkte ernten, wie Frau Merkel das gerade wieder versucht – leider wieder einmal erfolgreich mit Hilfe einer ergebenen Presse! Dummheit, Blindheit und/oder Ignoranz sind strafbare politische Fehler, im Zweifel in der Folge politische Verbrechen (das gilt hier genauso, wie für die Merkel/Schäuble-Griechenlandpolitik). Aber keiner sollte gehindert werden, klüger zu werden und die Zeichen der Zeit doch noch zu erkennen.

5. Fluchtgründe – auch von uns mitverursacht. Keines der Probleme, ich betone: KEINES, vor dem die Menschen diese barbarische und teure (wie passt das eigentlich zum Sozialschmarotzer-Anwurf?) Flucht auf sich nehmen, ist ohne unser Zutun entstanden! Wir ernten jetzt, was wir über drei bis fünf Jahrhunderte gesät haben: Kolonialismus und Sklavenhandel vor allem, auf denen unter anderem unser heutiger Reichtum gründet, und was beides im neuen Gewand einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung erneut gesät wird! Kriege, Hunger, Klimakatastrophen, Wassermangel, Terror, Gewalt, politischer Despotismus, Korruption – kratze, wo Du willst: Ohne unser Zutun gäbe es das alles heute so und in diesem Umfang nicht! Wer Betroffenheit kundtut, aber gleichzeitig den Waffenhandel forciert, wie Frau Merkel, heuchelt auf eine unerträglich verlogene Art. Diese Erkenntnis verweist auf das, was wir auch nach außen tun müssen, in der Anlage unserer Politik, in der Hilfe für die Länder, die wirklich unter „Flüchtlingsproblemen“ zu leiden haben! (Ich konzentriere mich hier aber auf die innerdeutsche bzw. innereuropäische Situation.)

Die Auflösung von Blockaden, Tabus und Leerfeldern

All das bisher Gesagte kann aber erst einmal nur eins bewirken: dass wir redlicher werden, dass wir konkreter werden, dass wir vor allem jede feindliche Haltung gegen die Menschen, die hier ankommen, ablegen. Mit Hass und persönlichen Anwürfen lösen wir gar nichts. Aber nun, auf dieser zuerst einmal akzeptierenderen, verständigeren Haltung gegenüber den Menschen, die hier landen, folgen unausweichlich die weiteren Fragen, vor denen sich die ganze Politiker-Riege und leider auch viele Emigrationsbefürworter drücken. Es geht um eine zweite, konkretere Stufe von Tatsachenfeststellungen, die wir akzeptieren bzw. auf die wir uns einigen müssen, wenn wir die Probleme „in den Griff“ kriegen wollen. Und gerade hier ist die aktuelle Debatte erschreckend flach bzw. von Leerstellen durchsetzt.

6. Das Wohnungsproblem – bedrückend für Deutsche und Flüchtlinge. Ich nenne das meines Erachtens bisher fast gar nicht diskutierte, aber drängendste Problem zuerst: das Wohnungsproblem. In Hamburg haben wir bald alle freien Wiesen, Areale, Hallen und so weiter schon belegt oder verplant. Jedem, ich betone JEDEM, müsste eigentlich klar sein, dass ein weiterer und wohl noch steigender Zustrom im Rahmen unserer Möglichkeiten in spätestens einem Jahr an harte Grenzen stößt. Egal, wie viel Flüchtlinge wir zurückschicken, es wird ein harter Kern verfassungsrechtlich geschützter Asylbewerber bleiben, und selbst dieser Kern wird absehbar an die oder in die Millionen gehen. Ein Blick auf unseren Globus und die eifrigst von uns mitorganisierten bzw. mitzuverantwortenden Krisenherde politischer, wirtschaftlicher und/oder ökologischer Art zeigt uns: Dies wird zumindest absehbar, also in den nächsten Jahren ein Dauerproblem. Diese Leute, die, wie rigide auch immer wir sie ablehnen oder abschieben, dann anerkannt werden, dürften wohl zum größten Teil bleiben – denn ich sehe keine politische Kraft, die ihre Herkunftsländer so verändern würde, dass ihr Asylgrund formal oder mental entfällt. Diese Menschen brauchen Wohnungen, Kindergärten, Schul- und Studienplätze, Berufsausbildung, aber auch Krankenhaus- und absehbar Heimplätze. Aber zuerst einmal brauchen sie Wohnungen! Und da wird das Problem politisch handgreiflich brisant.

Hunderttausende junger deutscher Familien suchen seit Jahren, vor allem in den Großstädten, bezahlbaren Wohnraum; hunderttausend Obdachlose wurden bisher auch nur notdürftig mit Betten in Obdachlosenasylen „unterstützt“ – und da ist kein mitmenschlicher Sturm, der ihnen half oder hilft, auch kein politisches Wollen! Im Gegenteil: Der rot-grüne Senat in Hamburg hat gerade verkündet „Wir verlieren die Obdachlosen nicht aus dem Blick“, und einige hundert zusätzliche Container-Schlafplätze für den Winter versprochen. Während nebenan tausende Containerplätze für Flüchtlinge entstehen, gibt es für Obdachlose meistens nur Bettplätze in Asylheimen – und diese nur nachts! Und wie ergeht es unseren jungen Familien, die eine bezahlbare Bleibe suchen? Das bisschen Mietbremse ist doch, wie fast alles, was unsere Politiker (und die EU-Politiker) in den letzten Jahren hinkriegten, lobby-verdünnte Placebo-Sauce auf den grundsätzlichen Problemen des neoliberalen Turbo-Kapitalismus. Egal, wie wir jetzt Zuzug/Aufnahme/Abweisung regeln, wir brauchen für uns und für die Flüchtlinge sofort ein gigantisches Wohnungsbauprogramm. Sonst erleben wir einen bitteren und sozial grausamen Krieg um Wohnungen – und all das gute „Willkommen“ ist rascher weg, als es entstand! (Frau Merkel und ihre neoliberalen Helfershelfer haben zum Beispiel in den letzten ca. zehn Jahren dafür gesorgt, dass die Sozialwohnungen bei uns von 2,5 auf 1,5 Millionen gesunken sind.) Das setzt aber eine organisierte Kraftanstrengung und zig Milliarden Investitionen voraus, das setzt voraus, was Frau Merkel jetzt als „deutsche Flexibilität“ anmahnt, das setzt vor allem voraus einen zumindest vorläufigen Abschied von der „schwarzen Null“ und von der „Schuldenbremse“ und vom rein kapitalistischen Wohnungsmarkt. Wenn unsere Große Koalition dazu nicht bereit ist, sollte sie die Sprüche lassen, dann wird sie, werden wir bedrückenden Zeiten entgegen gehen.

Und noch einmal: Das alles wäre auch nötig ohne Zuwanderung! Dieses neoliberale Musterland behandelt einen wachsenden Teil seiner eigenen Bevölkerung schlecht und zunehmend schlechter! Zunehmend ist, wie gesagt, das Verfassungsrecht für deutsche Bürger, hinreichenden, sicheren und bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, bei uns außer Kraft gesetzt. Ich erwarte, dass die Politiker dieses Problem endlich erkennen und anerkennen. (Auch die aktuellen Pläne der SPD zur Flüchtlingsproblematik sparen das weitgehend aus oder verteilen Pflaster – 40.000 neue Sozialwohnungen in den nächsten Jahren – und zeigen so wieder einmal, dass die Führungsriege dieser Partei kaum noch etwas begreift – wie ja auch schon in der Europa- und Europolitik.) Ich erwarte, dass unsere Politiker vor allem erkennen, welch explosive Gemengelage bei uns entsteht, wenn die zunehmend bei uns Unterpriviligierten nun auch noch von den Notwendigkeiten der Asylpolitik an die Wand gedrückt werden.

Dass genau dies Strategie sein könnte, nämlich die Schwachen und die Schwächsten aufeinander zu hetzen, so dass „die da oben“ ihre skrupellose Bereicherungspolitik ungestört fortsetzen können (hinter einem medialen BILD-Schirm), wage ich erst einmal kaum zu glauben! Nein: Bis jetzt sehe ich eher unverantwortliche Dummheit, Blindheit und politische Feigheit am Werke. Nebenbei: Auch freistehenden Wohnraum endlich im Sinne des Eigentumsbegriffes des Grundgesetzes einer entsprechenden Nutzung zuzuführen, ist endlich geboten – bisher eine weitere neoliberale Feigheit der politisch Verantwortlichen. Das heißt aber auch, dass die kleineren, oft schrumpfenden Gemeinden stärker ran müssen, dass also Schluss ist mit dem Berechnungsstarrsinn bei der Verteilung nach Einwohnerzahl, was die Großstädte übermäßig belastet. Noch mal in aller Klarheit: Ein neoliberal organisierter, das heißt ausgezehrter Staat – und das sind wir, keine „soziale Marktwirtschaft“ – kann und wird das Problem nicht „verfassungskonform“ lösen können! Hier heißt es, „über den Schatten zu springen“. Als es 2009 um die Bankenrettung ging und den Wirtschaftseinbruch, konnte sich Frau Merkel – zumindest unter tätigem Druck der SPD – von heute auf morgen mit Keynes anfreunden, was sie leider schnell wieder „vergaß“.

7. Infrastrukturelle Defizite ohne und mit Flüchtlingen. Dass parallel zum Wohnungsproblem alle anderen angrenzenden Probleme der Infrastruktur, zum Beispiel Kindergärten, Schulen, Gesundheitseinrichtungen, Sporteinrichtungen aufgestockt werden müssen, gehört auch zu den endlich zu akzeptierenden Fakten. Gleich hier ein Wort zum Geld: Da alles dies auch Notwendigkeiten sind, die auch ohne das Flüchtlingsproblem anstehen, gehört als politischer Akt Nummer Eins, ohne den das alles illusorisch ist, dass die „Schuldenbremse“ zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt wird. Das Geld ist ja da bzw. wäre aktuell zu fast Null Zinsen zu leihen. Wann, wenn nicht jetzt, müsste und könnte unser Land eine gewaltige Investitionsanstrengung hier und in vielen anderen Gebieten unternehmen, die ich in meiner eben genannten kritischen Auseinandersetzung mit der Schuldenbremse aufgelistet habe. Natürlich müssen wir dann auch über Arbeitsplätze reden. Hier gilt dasselbe wie bei den Wohnungen. Schon heute ist unser Staat nicht in der Lage oder willens, für seine Bürger das Recht auf Arbeit einzulösen. Entgegengesetzter Jubel beruht auf statistischem Schwindel. Die reale Zahl derer, die Arbeit brauchen und suchen, liegt bei uns über fünf Millionen. „Die Wirtschaft“ redet nur von denen, die sie gut gebrauchen kann und die nach dieser Messlatte für sie – und natürlich auch für uns – nützlich sind. Und der Rest? Und die politisch brisante Gemengelage, die auch auf dem Gebiet der Arbeitsplätze entstehen kann? Auch das Arbeitsplatzproblem fordert (europaweit!) eine gigantische mehrjährige Investitions-Initiative! Und auch dieses längst, auch ohne das aktuelle Flüchtlingsproblem! Geht nicht, gibt’s nicht! Auch dazu muss man natürlich über den neoliberalen Schatten springen.

8. Diese ganzen Probleme gehen vor allem den Bund etwas an. Es ist schon beschämend bis staatsgefährdend, wie Herr Schäuble „seine“ Haushaltsüberschüsse preist und die notleidenden Gemeinden in der Flüchtlingspolitik und unseren hausgemachten anderen sozialen Problemen bis auf Almosen sozusagen im Dreck versinken lässt. Da wird dann zusätzlich eine Milliarde Euro zugesagt. Als die Banken krachten, war man rascher und großzügiger. Allein die Skandalbank HRE bekam von Frau Merkel (das heißt von uns Steuerzahlern) auf Anhieb 26 Milliarden Euro in den Rachen geworfen. Es ist so elend beschämend gegenüber der Not vieler Deutscher und der Not vieler Flüchtlinge, wie unsere „schwäbische Hausfrau“ hier agiert – übrigens, wie schon bei der Euro-Krise, bar jeder Einsicht in politisch mögliche oder gar drohende Verwerfungen!

9. Ein soziales Europa – auch wegen der Flüchtlinge. Es ist natürlich gerade bei den Punkten 6, 7 und 8 klar, dass hier eine EU-Politik gefordert ist. Es geht eben nicht nur um Quoten, es geht um ein soziales Europa, um einen Abbau der unerträglich hohen Arbeitslosigkeit in fast allen EU-Staaten und um ein europäisches soziales Investitionsprogramm. Da fieseln Schäuble und seine Europa-Kollegen an überwiegend bösartigen „Strukturreformen“ für andere Länder und lassen die gigantischen gesamteuropäischen Aufgaben liegen – oder sollen es wieder einmal „die Märkte“ richten? Angesichts dieser Aufgaben, die durch das Flüchtlingsproblem – ich betone es noch einmal zur Versachlichung – ja nicht hervorgerufen, wohl aber auf dramatische Weise verschärft werden, entpuppt sich die europäische Politikerriege allerdings als ein ziemlich jämmerlicher Haufen. Aber auch hier kann ja noch Einsicht einkehren oder gar Rückgrat wachsen! Nur 50 Prozent jener Beherztheit, mit der Merkel/Schäuble anderen Ländern sogenannten „Reformen“ aufs Auge drückten für eine entsprechende Europa-Politik – welcher Segen könnte daraus entstehen!? (Ich erinnere hier noch einmal an die eingangs gemachten Bemerkungen zu einer „humanisierenden“ EU-Außenaktivität, gerade angesichts des Punktes 5.) Ich formuliere, damit das als praktische Aufgabe fassbar wird für alle Verantwortlichen, meine zweite „Conditio sine qua non“-Behauptung, neben der Unmöglichkeit, die neoliberale Glaubenslehre weiterhin wie bisher zu befolgen: Ohne ein zumindest vorübergehendes Aussetzen der „Schuldenbremse“ bei uns (und in der EU) ist das Problem nicht zu lösen! (Ich behaupte ja, dass diese „Schuldenbremse“ generell abzuschaffen ist.) Wer das nicht akzeptiert, betreibt Programmlyrik oder Augenwischerei! Das kann Frau Merkel ja hervorragend, aber hier sind Aufgaben zu gewaltig und mögliche Unterlassungsfolgen zu gefahrvoll, um sich vor diesen politischen Konsequenzen zu drücken.

10. Belastbarkeitsgrenzen – ein problematischer aber notwendiger Diskursbegriff. Und zum Schluss das „delikateste“ Problem: Zur leider problemlösungs-gefährdenden Verkantung der Flüchtlingsdiskussion in ein fast totales Entweder-Oder, und dazwischen einer hilflosen Notprogramm-Flickschusterei der Verantwortlichen, gehört auch, dass so gesellschaftliche Probleme, die unabweisbar mit der Flüchtlingsfrage verknüpft sind, nicht oder nicht unbelastet diskutiert werden können. Da werden zum Beispiel soziale bzw. soziologische Bedenken über die Belastungsgrenzen von sozialen Gemeinschaften, und zwar im materiellen, vor allem aber im weitesten Sinne im soziokulturellen Bereich, die ganz natürlich, auch ungewollt mit einem so dramatischen Zustrom von Menschen aus anderen Kulturkreisen, anderen Religionen, anderen sozialen Gefügen auftauchen, einfach weggebügelt mit der Feststellung, wir hätten nach dem Kriege auch Millionen von Ost-Flüchtlingen integriert. Wer so alt ist wie ich, weiß, dass das auch nie ohne „mentale“ Probleme ging, vor allem aber sollten wir wissen, dass das damals eine ganz andere Situation war und dass das heute durch die völlig andere Art von Flüchtlingen eine ganz andere Dimension hat! Dieser kurzschlüssige Vergleich ist auch ein Teil der von mir kritisierten Blauäugigkeit. (Außerdem erinnere ich an die fortdauernden Probleme nach der Wiedervereinigung mit den sogenannten Ossis und Wessis!)

Leider hat Thilo Sarrazin seinerzeit mit seinen unsäglichen Thesen die Erörterung dieser Probleme vergiftet – aber es gibt sie! Und sie haben zuerst einmal gar nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern mit ganz normalen, ganz menschlichen Verhaltensformen, Regeln, Üblichkeiten, mit denen sich menschliche Gemeinschaften bilden, um menschlich zu leben, auch zu überleben. Das ist auf der ganzen Welt so! Deshalb ist ja auch Integration für beide Seiten (!) überhaupt ein Problem! Darüber kann allerdings Hamburg-Blankenese hinweg sehen, solange sich die Probleme in Hamburg-Wilhelmsburg ballen. Schwieriger wird dieses Problem noch, wenn, was unabdingbar notwendig ist, alle Gebietskörperschaften sich beteiligen müssen, sinnvollerweise auch gerade jene, die durch überproportionalen Wegzug in den letzten Jahren „Ansiedlungsmöglichkeiten“ bieten. (Auch hier wird natürlich deutlich, dass dies jeweils genuin deutsche, französische, italienische Probleme des sozialen Ausgleichs im eigenen Lande sind, die endlich angepackt werden müssen. Sonst brodelt es!) Es zeigt sich, dass Integration ein ganz anstrengender, langer, hilfsbedürftiger Prozess ist, der viel guten Willen aller Beteiligten und natürlich auch viel materielle Abfederung braucht. Was dieser Prozess auf keinen Fall braucht, sind dumpfbackige CSU-Parolen. Leider hat die Feigheit der Verantwortlichen die Diskussion dieser sicher nicht einfachen Problematik den Populisten aller Schattierungen überlassen.

Für eine offenere Problemlösungsstrategie

Jedenfalls gilt für mich, auch, wenn ich mir hier jetzt nicht unbedingt Freunde mache, dass ein großer Teil der Aussagen von Politikern und Bürgern, die im massenhaften Zustrom von erst einmal doch „Fremden“ nur Bereicherung sehen, für mich schon ziemlich blauäugig sind. Gerade, wenn Integration uns ein neues, bunteres und belebenderes Miteinander bringen soll, sind Behutsamkeit und beharrliche Anstrengungen nötig, nicht nur auf privater, sondern vor allem auf der öffentlichen Ebene. Und was klar ist und sein muss: das kostet! Und das geht nur, wenn die unteren 50% der Gesellschaft nicht sehen, dass das nur zu ihren Lasten geht! (Und das wird es bei neoliberaler Politik natürlich!) Noch mal: Die Blauäugigkeiten von vielen „bessergestellten Bürgern aus feineren Vierteln“ helfen uns da nicht weiter. Statt es toll zu finden, dass Frau Merkel nun auch einmal im „Ghetto“ von Duisburg war oder in einer problembeladenen Aufnahmeeinrichtung, sollte eigentlich Empörung darüber herrschen, dass sie dort erst jetzt war und das bisher nur einmal (so, wie sie und Schäuble ja auch nur zweimal zu einem gepanzerten Blitz-Besuch in Griechenland waren!). Statt medialem Jubel („die Kanzlerin redet jetzt Klartext“) sollten Journalisten und wir Bürger fragen: „Wo bleiben die konkreten Antworten, Frau Merkel?“

Grölende Nazis und Pegida-Dumpfheiten dürfen uns nicht verbieten, darüber zu reden, dass es reale Schwierigkeiten gibt, wenn „fremde“ Zuzüge in dieser Masse und in diesem Tempo in bestehende soziale, politische, religiöse, kulturelle Gemeinschaften stattfinden, und dass diese Schwierigkeiten „explosiv“ werden können, wenn diese Prozesse aus Ignoranz, Zynismus, neoliberaler Staatsauszehrung nicht politisch-organisatorisch und materiell abgesichert – vor allem, wenn sie nicht offen kommuniziert werden! Und natürlich gibt es neben der Pflicht zur Hilfe, neben dem unabdingbaren Recht auf Asyl, auch das Recht einer (staatlichen) Gemeinschaft, Grenzen zu setzen, Zuzug zu kanalisieren, ja sogar auch ab einem bestimmten, offen kommunizierten Punkt zu verweigern! Auch dies scheint mir eine notwendige Anerkennung eines realen Faktums zu sein. Das zuzugeben und offen zu diskutieren gehört zur unumgänglichen Ehrlichkeit von Verantwortlichen. Wer hier schweigt oder gar die Notwendigkeit gar nicht sieht oder einfach alles laufen lässt aus Feigheit oder Bequemlichkeit – und das ist mein Eindruck von aktueller deutscher und europäischer Politik – „organisiert“ eine elende, wenn nicht gar explosive Gemengelage!

Gerade, weil diese Fragen so schwierig zu diskutieren sind, so rasch falsch verstanden werden, aber real im gesellschaftlichen Alltag „vor Ort“ zu Problemen führen (können), die auch mit materiellem Einsatz nicht wegzubügeln sind, bedarf es der offenen Diskussion, bedarf es vor allem in den Medien Beispiele gelungener Integration, bedarf es der steigenden Einsicht, dass, wie ich es oben schrieb, der Zuzug Fremder auch ein „neues, bunteres, belebenderes Miteinander“ bedeuten kann. Auch auf dem Dorf! Es ist ja der Vorwurf gegen die Fremdenhasser nicht nur der, dass sie unmenschlich sind und in der Regel feige, sondern dass sie gerade dort auftreten, wo es kaum Fremde gibt. In der Bundesrepublik gibt es jedenfalls auch viele Orte, Viertel, Quartiere, Regionen, die den Zuzug Fremder seit der „Gastarbeiterzeit“ gut verkraftet haben und inzwischen als Bereicherung empfinden. So geht es auch mir mit den „bunten“ Vierteln in Hamburg, so ging es mir in den 60er Jahren in meinem damals etwas miefigen Heimatort Gütersloh – der ja, wie viele andere Orte im Westen, schon durch den Zuzug der Flüchtlinge nach dem Krieg auf wohltuende Weise Türen und Fenster öffnen musste. Und das Gegröle von „deutsch“ und „deutscher Kultur“ bekommt schon einen üblen Beigeschmack, wenn es aus Birnen kommt, die von deutscher Kultur, deutscher Sprache, deutscher Geschichte kaum etwas wissen. Dies nur, um hier keine falschen Schubladen aufzumachen.

Das bedeutet: Belastungsgrenzen sind in der Regel weiter als geglaubt, sind vor allem erst zu definieren im Erfahrungsprozess. Deshalb habe ich meine Eingangsthesen formuliert, damit an diesen Erfahrungsprozess offen herangegangen wird. Aber die Chance muss bleiben „Stopp“ zu sagen! Jedenfalls ist es kein gutes Unterfangen, von vorne herein generelle Grenzen, Zahlen oder Schlüssel festzuschreiben. Die tagtägliche Erfahrung von mitmenschlichem Miteinander, „wenn man sich erst mal kennengelernt hat“, macht ja Mut. Das ändert nichts daran, dass „im Versorgungsbereich“ (Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur) klare materielle und organisatorische Vorgaben gemacht werden müssen. „Der Markt“ gebiert hier sonst Ungeheuer. Helfen, helfen, JA !!! Aber nicht, ohne offen in der Politik und in der Gesellschaft darüber zu diskutieren, was das kostet, was an politischen, rechtlichen und organisatorischen Änderungen notwendig ist (und das rasch), und wo die Grenzen der Belastbarkeit sind. Dass diese Grenzen aktiv beeinflussbar sind, ist klar nach dem bisher Gesagten aber so zu tun, als gäbe es die Notwendigkeit zu dieser offenen Diskussion nicht, kann verheerende Folgen für Deutschland und Europa haben.

***

Reinhard Crusius, geboren 1941 in Gütersloh; viele Jahre Arbeit als Schriftsetzer; Studium über Zweiten Bildungsweg in Hamburg; Diplom-Volkswirt, Dr. rer. pol.; Habilitation an der TU Berlin. Diverse Aufsätze, Rundfunkbeiträge und Veröffentlichungen.

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