Bundeskanzlerin Angela Merkel erweist sich in der Flüchtlings-Krise zunehmend als orientierungslos. Hatte sie noch vor wenigen Tagen den Deutschen lächelnd zugerufen, dass „wir“ das schaffen, sagte sie nun auf dem Verdi-Bundeskongress: „Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass wir nicht erfolgreich sein werden, wenn wir so tun, als würden wir alles schaffen.“
Danach war Merkel kurzzeitig beleidigt, weil so alle EU-Regierungschefs einhellig über sie hergefallen waren. Merkel hatte zum Kopfschütteln der anderen verkündet, dass Deutschlands Grenzen allen Flüchtlingen weit offen stünden. Wenige Tage später verkündete Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dass die Grenzen Deutschlands wieder kontrolliert würden. Merkel reagierte auf die Kritik mit der Aussage, dass sie sich nicht dafür entschuldigen wolle, dass Deutschland sein „freundliches Gesicht“ zeige.
Es war wiederum de Maiziére, der die Kanzlerin in einem anderen Punkt korrigieren musste: Am Sonntag schlug der Minister vor, eine Asyl-Quote für Europa festzulegen. Zuvor hatte Merkel gesagt, es gäbe keine Obergrenzen für Asyl.
Nachdem die Kanzlerin nun offenbar erkannt hat, dass die Flüchtlingskrise und ihr chaotisches Management durch die Bundesregierung und die EU auch mit moralischen Appellen und Forderungen an die Bevölkerung nicht zu lösen ist, hat sich die Kanzlerin nun offenbar für eine neue Strategie entschieden: Der Schwerpunkt der EU-Politik im Hinblick auf die Flüchtlinge soll in einem neuen Anlauf zum Schutz der Außengrenzen bestehen. Sie sagte bei Verdi laut Website der Bundeskanzlerin: „Wir sind eine Europäische Union, die die gleichen Werte vertritt. Die eine gemeinsame Asylpolitik hat. Die sich für offene Grenzen eingesetzt hat - offene Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten.“ Das bedeute auch, dass Europa jetzt gemeinsam handeln und gemeinsam Verantwortung tragen müsse, appellierte Merkel. Deutschland alleine könne diese Aufgabe nicht schultern. Es ist vielsagend, dass der Passus mit den Grenzen am Anfang des Exzerpts steht, welches Merkel auf ihrer Website veröffentlichen lässt.
Auf derselben Seite vermerkt das Bundeskanzleramt am Freitag:
„Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Ministerpräsident der Republik Kroatien, Zoran Milanović, haben in einem Telefonat über die aktuelle Flüchtlingssituation in Kroatien gesprochen.
Der Ministerpräsident berichtete der Bundeskanzlerin über die Anstrengungen Kroatiens, bei der Bewältigung der Situation seinen Verpflichtungen vollständig nachzukommen und dabei zu gewährleisten, dass alle Flüchtlinge weiterhin menschenwürdig behandelt werden.
Die Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident stimmten überein, dass das Problem an den Außengrenzen der Europäischen Union gelöst werden müsse.“
Diese Schwerpunktsetzung weist deutlich in die bisherige, gescheiterte EU-Strategie: Schon in den vergangenen Monaten, als sich abzeichnete, dass sich tatsächlich Millionen Menschen auf den Weg nach Europa machen könnten, haben Merkel und die EU-Politiker versucht, „das Problem“ in die an die EU angrenzenden Staaten zu verlagern. Das Konzept hat nicht funktioniert – obwohl Milliarden an Steuergelder sowohl in die Staaten mit Außengrenzen als auch in Nicht-EU-Staaten wie Serbien, Mazedonien und die Türkei geflossen sind.
Nachdem die verpflichtende Aufnahme-Quote gescheitert ist, dürften Merkel und Francois Hollande beim Flüchtlingsgipfel versuchen, die anderen EU-Staaten davon zu überzeugen, noch mehr Geld für Grenzbefestigungen und Polizeikontrollen an den Außengrenzen einzusetzen. Das Geld wird, wie fast bei jeder EU-Krise, vom europäischen Steuerzahler kommen. Aus Steuermitteln wird ja bereits die Mauer finanziert, die die Ukraine gegen Russland errichtet.
Der Plan wirft Fragen auf: Wer kontrolliert, was mit den Steuergeldern wirklich geschieht? In der Regel versickern erhebliche Beträge, wenn es um Bauvorhaben geht, die an lokale Netzwerke vergeben werden.
Wie schnell kann das Ganze realisiert werden? Tausende Flüchtlinge strömen immer noch über Ungarn und Kroatien nach Österreich und Deutschland. Auch über das Mittelmeer, welches in der aktuellen Debatte vergessen wurde, sind in am Wochenende mindestens 5.000 Flüchtlinge gekommen. Zahlreiche Menschen haben die gefährliche Fahrt mit ihrem Leben bezahlt.
Wie steht es eigentlich wirklich mit den europäischen Werten, auf denen die EU laut Merkel basiert? Enden diese Werte auf der anderen Seite der eigenen Grenzzäune? Müssen am Ende die Last jene tragen, die nicht zur EU gehören? Sind die Flüchtlinge dann „weg“, nur weil sie nicht mehr auf EU-Territorium gelangen können?
Die wichtigste Frage hat Merkel erneut ausgeblendet: Wie sieht es mit jenem Wert aus, für das die EU sogar stolz einen Nobelpreis entgegen genommen hat - dem Frieden? Merkel erwähnt auf ihrer Website die Notwendigkeit der „Bekämpfung der Fluchtursachen“ nur beiläufig.
Die Sicherung der Außengrenzen ist, wenn die EU wirklich eine Union sein will, zwar unerläßlich. Man kann sich nur wundern, dass man auf diese Idee nicht schon wesentlich früher gekommen ist.
Glücklicherweise haben Russland und die USA erkannt, dass sie gemeinsam versuchen müssen, die Lage in Syrien zu entschärfen. Ob die gegensätzlichen Interessen der beiden Großmächte aber wirklich soweit zurückgestellt werden, dass es zu einem Frieden kommt, kann niemand sagen.
In dieser Hinsicht setzt sich das Versagen der EU fort. Einzig Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier versucht, eine Art Vermittlerrolle einzunehmen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die beim Atom-Deal mit dem Iran eine gute Rolle gespielt hat, ist seit Wochen von der Bildfläche verschwunden.
Die EU wird die Flüchtlings-Krise und damit ihre eigene, tiefe moralische Krise nicht lösen, wenn sie versucht, die Biedermeier-Zone der eigenen Ungestörtheit etwas weiter nach Osten zu verschieben.
Flucht und Vertreibung sind kein Schicksal, sondern das Ergebnis brutaler regionaler und geopolitischer Kriege. Die EU und Deutschland wäre verpflichtet und in der Lage, eine globale Friedens-Mission zu ihrem Kerngeschäft zu machen. Denn „das Problem“, wie das Kanzleramt technokratisch-herzlos sagt, ist mit dem Schutz der Außengrenzen nicht zu lösen. Es wird nur verdrängt. Merkel sagte bei Verdi, dass die nächsten Schritte viel über die „Zukunftsfähigkeit Europas“ aussagen werde. Im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der EU-Politiker sollte man angesichts der ansteckenden Orientierungslosigkeit von Angela Merkel in weltpolitischen Fragen keine allzu großen Erwartungen setzen.