Politik

Das Ende des Rechtsstaats: Willkür und Chaos treffen auch die Flüchtlinge

In der Flüchtlingskrise versinkt Europa in den Zustand der Rechtlosigkeit. Diese trifft auch die Flüchtlinge, wie ein Beispiel aus Österreich zeigt: Hier wird ein Flüchtling vor die Alternative gestellt, sich in ein Lager in der Slowakei transportieren zu lassen, oder abzureisen. Im entscheidenden Dokument fehlt in der arabischen Übersetzung das für den Flüchtling rettende Wort.
06.10.2015 00:31
Lesezeit: 5 min
Das Ende des Rechtsstaats: Willkür und Chaos treffen auch die Flüchtlinge
Die kurzfristig ausgehängte Transportliste nennt vornehmlich männliche Flüchtlinge für den Abtransport in ein slowakisches Aufnahmelager. Die Unkenntlichmachung erfolgte durch die DWN.

Ich bin stolz auf euch, ich bin stolz auf Wien, ich bin stolz auf Österreich“, jubelt am vergangenen Samstag der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer gemeinsam mit über 100.000 Menschen bei dem Konzert „Voices for Refugees“ am Wiener Heldenplatz. Die Kundgebung soll die österreichische Solidarität mit Nah Ost-Flüchtlingen bezeugen und der Welt ein Bild des flüchtlingsfreundlichen Landes Österreich verkünden.

Interessanterweise findet das Solidaritätskonzert nur eine Woche vor den Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen, am 11. Oktober 2015, statt. Gleichzeitig sind Flüchtlingslager in Österreich überfüllt, Flüchtlinge schlafen in Zelten, unter freiem Himmel und auf Bahnhöfen. Die Bürgermeister und ihre Wähler versuchen mit aller Kraft zu verhindern, dass Flüchtlinge auf ihrem Boden, wenn auch in Zelten, untergebracht werden. Am 26. September ist im größten und überfüllten Flüchtlingslager Traiskirchen ein sechs Wochen altes Baby gestorben.

Am vergangenen Freitag, den 2. Oktober, dem letzten Arbeitstag in der Woche, steckt die österreichische Asylbehörde einem syrischen Flüchtling, der vor zwei Wochen in Österreich angekommen ist, kein Deutsch spricht und das österreichische Asylgesetz nicht kennt, ein teilweise falsch übersetztes Dokument in die Hände: Er soll bereits am Montag, den 5. Oktober in die Slowakei abtransportiert werden. Dem 21-jährigen Syrer H.A. bleibt kein einziger Werktag über, sich nach seinem Recht zu erkundigen, Ratschlag und Hilfe zu suchen.

Auf dem Weg von seiner Heimatstadt Aleppo bis nach Wien wurde H.A. in keinem Land offiziell als Flüchtling aufgenommen und registriert. Am 15. September meldet sich der gelernte Informatiker bei der Polizei in Wien an und stellt den Asylantrag. Den 15. September und den darauffolgenden Tag verbringt der junge Syrer in einem polizeilichen Anhaltezentrum (Schubhaft) in Wien. Am 19. September landet er im Zelt-/Flüchtlingslager der Schwarzenbergkaserne in Salzburg-Wals.

Zwei Wochen später, am 2. Oktober wird H.A. ein Dokument des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ausgehändigt: „Gem § 29 Abs 3 AsylG wird Ihnen durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mitgeteilt, dass beabsichtigt ist, Ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen ( §§4,5 und 68 Abs 1 AVG) (§29 Abs 3 Z4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit Ungarn seit 25.09.2015 geführt werden (...)“

Am 3. Oktober wird auf der Informationstafel der Schwarzenbergkaserne eine „Transportliste“ von syrischen Flüchtlingen ausgehängt. Auf der Liste stehen jene Personen, die am 5. Oktober nach Gabčikovo, ein Dorf sechzig Kilometer südlich der slowakischen Hauptstadt Bratislava, abtransportiert werden.

Im slowakischen Gabčikovo werden seit Mitte September auf einem Campus der Technischen Universität syrische Flüchtlinge, die eigentlich in Österreich aufgenommen wurden, untergebracht. Es ist ein Deal, den die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und ihr slowakischer Amtskollege Robert Kalinak am 21. Juli 2015 beschlossen haben. Demnach übernimmt die Slowakei sowohl Unterbringung, Verpflegung, Reinigung, Versorgung mit Wasser, Strom und Gas als auch die lokalbehördlichen Auflagen und Genehmigungen. Österreich bezahlt die Betreuung und den Sicherheitsdienst.

Einige Versuche, Flüchtlinge von Kärnten und Traiskirchen nach Gabčikovo umzusiedeln, sind bereits gescheitert. Niemand will aus Österreich in ein slowakisches Dorf, in dem sich bereits 97% der Ansässigen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen haben.

Laut österreichischen Hilfsorganisationen wurden Asylwerber bereits gegen ihren Willen nach Gabčikovo gebracht. Das österreichische Innenministerium weist diese Vorwürfe zurück und begründet, laut österreichische Presseagentur APA, dass es laut Grundversorgungsgesetz keinen Anspruch auf eine Versorgung in einer bestimmten Betreuungseinrichtung gebe. Wenn der Transfer in ein Asylquartier verweigert werde, gebe es von Gesetzes wegen die Möglichkeit, diese Personen vorübergehend aus der Grundversorgung herauszunehmen.

Der 21-jährige Syrer H.A. kann weder verstehen, dass sein Asylantrag zurückgewiesen wird, noch, dass er Österreich verlassen muss. Auf dem Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl steht auf Deutsch, dass „beabsichtigt ist, den Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen.“ In der darunterliegenden arabischen Übersetzung steht allerdings, dass der Antrag „zurückgewiesen wurde“, sagt H.A.. Weil das Papier kein Bescheid sondern „nur“ eine Verfahrensanordnung sei, kann gegen die Entscheidung der Behörde kein Einspruch erhoben werden.

Wahrscheinlich weiß der junge H.A. nicht einmal, dass dieses Land eine lange und leider sehr schlechte Erfahrung mit Transportlisten hat. Der junge Syrer wird diese Wissenslücke bald auffüllen müssen. Das Land Österreich setzt die lange aufgesammelte Erfahrung mit Transportlisten von schutzlosen Menschen wieder ein. In überfüllten Lagern, in denen Menschen abseits jeder Würde und Respekt leben müssen, werden Abtransportlisten einfach ausgehängt. Ob die Betroffenen es tatsächlich erfahren und verstehen, dass sie in ein anderes Lager abtransportiert werden oder nicht, ist der Asylbehörde offensichtlich egal. Ob sie dort hin wollen oder nicht, fragt sie auch keiner.

Dass Österreich in solchen Angelegenheiten dank seiner enormen Erfahrung im zweiten Weltkrieg sehr effizient sein kann, ist wenigstens den Europäern bekannt. Ob wir darauf stolz sein sollten, ist eine andere Frage.

Am 2. Oktober wird der Syrer H.A. in der Verfahrensanordnung weiter informiert: „Gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG sind sie verpflichtet ein Rückkehrberatungsgespräch innerhalb drei Wochen ab Erhalt der Mitteilung in Anspruch zu nehmen. Folgende Organisation kann Sie über die Perspektiven einer freiwilligen Rückkehr während und nach Abschluss des Verfahrens beraten und unterstützen: Verein Menschenrechte Österreich – VMÖ (Human Rights Association Austria), Alser Straße 20/5 (Mezzanin), 1090 Vienna....“

In der Verfahrensanordnung, die H.A. bekommen hat, steht nicht, dass der vom Bundesministerium für Inneres geförderte Verein „Menschenrechte Österreich“ seine Geschäftsstelle auch in der unmittelbaren Nähe vom Zeltlager in der Schwarzenbergkaserne in Salzburg in der Jahnstraße 18 im ersten Stock hat. Auf dem Stückpapier steht auch nicht, dass sowohl die 300 Kilometer entfernte Beratungsstelle des Vereins in Wien als auch jene in Salzburg ihre Beratungszeiten von Montag bis Freitag haben. Also hat der junge Syrer keine Chance sich über sein Recht informieren und beraten zu lassen.

Die österreichische Beamtenschaft ist wegen ihrer Gründlichkeit bekannt. Auf jeden Fall, aber einem Mitarbeiter der Firma ORS, die das österreichische Innenministerium für die Betreuung von Flüchtlingen in Österreich engagiert hat.

Also, wenn ein Flüchtling, der Deutsch nicht versteht, per Aushang, natürlich in Deutsch, am Freitag informiert wird, dass er in drei Tagen, am kommenden Montag in ein anderes Lager, in ein anderes Land abtransportiert wird, ist es sehr unwahrscheinlich, dass es sich um ein Versehen handelt. Der Flüchtling steht vor einem existentiellen Dilemma.

Wenn der 21-jährige H.A. nämlich der Aufforderung der Behörde zustimmt, muss er Österreich verlassen und sich für die sogenannte „freiwillige Rückkehr“ vorbereiten; wenn er sich der Aufforderung widersetzt, wird er sofort mittellos und kann seine Zukunft im Grund vergessen.

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