Die Reaktionen des westlichen Bündnisses auf den Abschuss eines russischen Kampfbombers zeigen, dass die Nato sehr nervös ist. Sie ist drauf und dran, die Kontrolle über Russland in Syrien zu verlieren. Der türkische Ausritt, der mit großer Wahrscheinlichkeit von den Geheimdiensten geplant worden ist, trägt mehr den Charakter einer ratlosen Symbolhandlung als einer durchdachten Kommando-Operation. Der russische Botschafter bei der Nato, Alexander Gruschko, nannte das Statement ein Schattenspiel.
Der Grund für die Suche der Nato nach einem schattigen Versteck liegt in Putins Feststellung, dass jene, die das russische Flugzeug abgeschossen haben, Komplizen der Terroristen seien. Die Türkei ist ein Nato-Staat: Erstmals sieht sich das Bündnis dem offiziellen Vorwurf des Terrorismus ausgesetzt. Bis jetzt hat die Nato immer nur andere mit dem Etikett versehen. Doch die Nervosität hat handfeste militärische Gründe.
Der Nato und den Geheimdiensten schwimmen in Syrien die Felle davon: US-Präsident Barack Obama fährt seit Monaten für einen anderen politischen Kurs, als dies die Nato und die Dienste gerne sehen würden. Obama will aus dem Syrien-Krieg aussteigen. Er räumt ein, dass die Mission gescheitert ist – und mit ihr das Modell des «regime change» zumindest schwer beschädigt. Obama hat mit Russlands Präsident Wladimir Putin vereinbart, dass die Russen das Thema IS übernehmen. Das war für die Neocons, die Nato und die Dienste eine verheerende Demütigung.
Danach hat Russland begonnen, auch Terroristen zu bekämpfen, mit denen sich die US-Militärs verbündet haben. Putin hat sich von Anfang an gegen den Wunsch der westlichen Militärs gestellt, ihre Machenschaften in Syrien zu decken. Nun sind der IS und die Militärberater der Türkei und des Pentagon knapp vor der Niederlage in Syrien.
Das weiß auch US-Präsident Obama. Seine Botschaft an Putin ist daher auffallend diplomatisch: Bei einem «Strategiewechsel» Moskaus gebe es «große Möglichkeiten» zur Kooperation, sagte Präsident Barack Obama nach einem Treffen mit Frankreichs Präsident François Hollande im Weißen Haus. «Russland ist willkommen, Teil unserer breiten Koalition zu sein.» Es ist Obamas halbherziger Versuch, der Nato das Gefühl zu geben, sie könne Russland unter Kontrolle bringen.
Doch warum sollte Russland ausgerechnet jetzt seine Strategie wechseln? Die Russen haben mehrfach gesagt, dass sie sich nur militärisch in Syrien engagieren, weil die Nato versagt hat. Das ist glaubwürdig, weil die Russen wissen, dass ein Kampf gegen die Terror-Nester alles andere als einfach ist. Um nicht wie die Amerikaner im Niemandsland zu landen, haben die Russen geschickte Allianzen mit dem Iran, dem Irak und China geschlossen und haben sogar Israel in den Informationsfluss einbezogen.
Die militärischen Erfolge der vergangenen Wochen bringt die Söldner-Truppen des Westens in ernsthafte Bedrängnis. Der Zusatz Obamas zu seiner Einladung an die Russen ist der wahre Grund, warum die Nato so nervös ist. Obama sagte, vor einer engen militärischen Kooperation müsse Moskau sich bei Luftangriffen in Syrien aber auf den IS als Ziel statt auf die gemäßigten Rebellen konzentrieren und einen politischen Wandel in Damaskus unterstützen.
Den Wandel in Damaskus unterstützt Russland seit Wochen: Moskau hat mehrfach gesagt, nicht auf Assad als Präsident auf Dauer zu bestehen. Die Russen sagen aber, es müsse eine Entscheidung des syrischen Volkes sein. Diese Position teilt auch der Iran. Russland hat außerdem einen Übergangsplan vorgelegt, wie in Syrien binnen 18 Monaten eine neue Verfassung entworfen werden kann und Neuwahlen stattfinden können. Wenn hier jemand einen Strategie-Wechsel vollziehen muss, dann ist es die westliche Allianz, die politischer außer dem Schlachtruf „Assad muss weg!“ kein Konzept vorgelegt hat.
Doch die Hauptsorge der Nato und der Türkei im Besonderen liegt in der Gefahr, dass ein russischer Sieg die Machenschaften offenlegen könnte, wie der Westen und vor allem die türkische Regierung mit Terroristen in der Region kooperiert. Es wird sich dann auch die Flüchtlingsdiskussion in einem anderen Lichte zeigen, wenn nämlich klar wird, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Flüchtlinge in zynischer Weise als Faustpfand für seine Ambitionen missbraucht hat. Es wird sich außerdem zeigen, dass der Krieg Erdogans gegen die PKK ein völlig unverhältnismäßiger Krieg ist, in dem die Zivilbevölkerung der Kurden brutal attackiert wurde. Man wird zugleich erkennen, dass der Westen mit dieser türkischen Regierung und mit Saudi-Arabien als einzige Verbündete in der Region zwei islamistische Regierungen hat.
Noch kann Erdogan die völlig unfähige EU und eine total überforderte deutsche Kanzlerin erpressen – indem er Milliarden an Schutzgeld für die Flüchtlinge fordert. Doch wenn es den Russen tatsächlich gelingt, Syrien zu befrieden – und zwar so, dass ein Großteil der Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren kann – dann hat Erdogan auf einmal schlechte Karten. Die Türkei unter Erdogan ist natürlich völlig ungeeignet, in die EU aufgenommen zu werden. Das weiß auch in Brüssel jeder. Auch die Visa-Freiheit ist eine groteske Idee: Täglich werden neue Vorfälle bekannt, wie mit gefälschten türkischen Pässen Geschäfte gemacht werden - und zwar vornehmlich in der Türkei. Bleiben drei Milliarden Euro, die Erdogan von den europäischen Steuerzahlern für die Flüchtlinge fordert. Was würde denn mit dem Geld geschehen? Integration der Flüchtlinge in der Türkei? Bessere Unterbringung in den Lagern? Keine Korruption, volle Transparenz?
All diese Aussichten rechtfertigen aus Sicht der Regierung Erdogan und der Geheimdienste den Abschuss eines russischen Kampfjets. Sie brauchen die Eskalation, weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Das macht in diesem Konflikt auch Erdogan zum eigentlich Unberechenbaren. Er hat viel zu verlieren.
Die dpa-Meldung zur Nato-Erklärung zur Abschuss haben wir hier veröffentlicht, aus Dokumentationsgründen. Sie belegt, dass militärische Einheiten nicht zum Denken erfunden wurden.