Die Ökonomin Sandra Quintela aus Rio de Janeiro beteiligt sich schon seit Jahren an Protesten gegen Sport-Megaevents in ihrer Stadt. Von Anfang an hat sie sich dem sogenannten „Volkskomitee gegen die WM“ angeschlossen: „Ich wollte nicht einfach dabei zuschauen, wie die Fußball-WM und andere Großveranstaltungen meine Stadt zerstören“, sagt Quintela. Die „Cidade Maravilhosa“ („Wundervolle Stadt“), so lautet Rios Beiname, verliert zunehmend ihre Seele. Viele arme Bewohner wurden bereits in die Peripherie verdrängt, weil sie unnötigen Großbauten im Wege standen oder sich die Mieten nicht mehr leisten können. Es herrscht eine militante Stimmung.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Warum beteiligen Sie sich an den sogenannten „Volkskomitees gegen die WM“?
Sandra Quintela: Meine Sorgen um Rio und seine Einwohner sind nicht neu. Das Jahr 2007 war ein Schlüsseljahr. Im Juli 2007 wurden hier die Panamerikanischen Spiele ausgetragen, Und in dem Jahr wurde Brasilien auch zum Gastgeberland der Fußball-WM 2014 auserkoren. Seitdem haben sich die Mieten verdoppelt, die Immobilienpreise vervierfacht. Wir ahnten schon 2007, dass es so kommen würde. Schon damals haben sich Protestgruppen gebildet, die forderten Gegenmaßnahmen zu treffen und die öffentlichen Ausgaben für diese Spiele genauer unter die Lupe zu nehmen. Schon damals merkten die Ökonomen unter uns, dass die Aufstellung der Kosten für diese Sportevents völlig intransparent, unvollständig und teilweise nicht öffentlich war. Viele Bürger hat das damals sehr genervt und sie haben damals die ersten Protest-Volkskomitees gebildet. Das PACS-Institut von Rio („Alternative Politik für die Südliche Halbkugel“), wo ich arbeite, hat sich von Anfang an, an den Protestaktionen gegen Korruption und für mehr Transparenz beteiligt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Fußball-WM reißt viele Menschen mit. Sie ist wohl das Sport-Event, das wirklich global verfolgt wird und das die meisten Menschen interessiert. Das ist doch eigentlich was Positives, was Schönes…
Sandra Quintela: Die Brasilianer würden ja gern ein globales Fußballturnier und ein globales Fußballfest feiern, aber sie fühlen sich abgeschreckt. Sie sind sauer auf die Fifa. Sie wollen es nicht hinnehmen, dass diese Organisation alles kontrolliert, nicht nur das Turnier selbst, sondern auch alle Geschäfte um das Ereignis herum. Die Fifa hat den Fußball und die Leidenschaft der Menschen gekidnappt. Unsere Proteste richten sich nicht nur gegen die Fifa, sondern auch gegen unsere Regierung, die auf alle Bedingungen der Fifa eingegangen ist. Unsere Regierung hat zugelassen, dass den Bürgern während der WM viele Rechte genommen wurden. Wir wurden beklaut von unserer Regierung und von der Fifa.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was meinen Sie mit beklaut? Was hat man den Brasilianern genommen?
Sandra Quintela: Die Fifa und die Regierung hat den Brasilianern die Stadien genommen, zum Beispiel das Maracanã. Dieses mythische Stadion, das den Bewohnern von Rio gehörte wurde an ein Privatunternehmen übergeben. Während der WM hat man auch die Kontrolle über die Eintrittskarten an die Fifa abgegeben. Man hat keinerlei Einfluss auf die Vermarktung der TV-Übertragungsrechte. Und viele in der Bevölkerung sind der Meinung, dass sie das nicht hinnehmen wollen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Aber einige Brasilianer werden auch von der WM profitieren, oder?
Sandra Quintela: Die versprochenen 3,6 Millionen neue Arbeitsplätze sind nicht geschaffen worden. Langfristig werden sogar Arbeitsplätze in der Stadt zerstört. Soweit zum Thema Arbeit. Aber auch der normale Fußball-Liebhaber aus Rio profitiert nicht von der WM. Als Zuschauer profitiert nur eine kleine Minderheit der weißen Oberschicht. Sie werden kaum Leute der Unterschicht oder Farbige in den Stadien sehen, weil sie sich die Eintrittspreise einfach nicht leiste können. Das liegt an den Vorgaben der Fifa. Sie wollen nur teure Sitzplätze und das entsprechende Publikum, das sich die Eintrittskarten leisten kann. Das Endspiel im Maracanã von Rio würden unter normalen Umständen 200.000 normale Leute, auch aus der Unterschicht, im Stadion sehen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Das Endspiel wird von 60.000 VIP-Besuchern gesehen, viele mit gesponserten Eintrittskarten. Das nehmen viele als Entfremdung des Fußballsports wahr. Der Fußball war ja, zumindest hier in Brasilien, auch der Sport der kleinen Leute war. Dazu kommt: Alle Brasilianer haben den Umbau des Maracanã-Stadions bezahlt: Dieser Umbau hat circa 400 Millionen Dollar gekostet und wurde mit Steuergeldern finanziert. Es ist verrückt: Dieselbe Firma die Millionen am Umbau des Stadions verdient hat, hat auch den Zuschlag bei der Bewerbung um den Betrieb des Stadions bekommen! Es ist wirklich verrückt.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Bringt die WM Impulse für die Ökonomie des Landes?
Sandra Quintela: Das Wachstum des Wachstums des realen BIPs ist in Brasilien im ersten Drittel des Jahres deutlich hinter den Erwartungen der Regierung weit zurück geblieben. Es kann aber sein, dass die WM in den nächsten Monaten für einen gewissen Aufschwung sorgt. Dieser Aufschwung wird aber – nach Ansicht der Experten – nur ein Strohfeuer sein und wird auch nicht bei der Masse der Bevölkerung ankommen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gibt es noch eine Chance für das Volk, die Kontrolle über die Stadien und den Sport zurückzubekommen. Oder ist es dafür schon zu spät?
Sandra Quintela: Unsere Proteste werden weitergehen! Die Menschen werden weiterkämpfen! Tausende wurden für dieses Fifa-Turnier von ihren Wohnungen vertrieben und in die Peripherie umgesiedelt. Einige Arbeiter haben beim Bau der Stadien ihr Leben verloren. Dazu kommt: die Vertreibungen gehen weiter. Circa 30.000 sollen ja noch für die Olympischen Spiele umgesiedelt werden. Die Angehörigen dieser Opfer und die Vertriebenen werden das so schnell nicht vergessen!
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie gehen die politisch Verantwortlichen und die Sicherheitskräfte mit den Angehörigen der Protestbewegungen um?
Sandra Quintela: Wir erleben tagtäglich eine Kriminalisierung der Protestbewegung. Und gleichzeitig erleben wir eine Militarisierung der Sicherheitskräfte. Die Bundesregierung Brasiliens hat in den letzen Jahren zusätzlich eine Milliarde Real für Sicherheitsmaßnahmen für die WM ausgegeben. Und die Stadt Rio hat über 30 Millionen Real für Gummigeschosse und Munition ausgegeben. Das sind offizielle Zahlen aus dem Staatshaushalt. Die Polizei wird mit immer mehr Waffen ausgerüstet. Die Polizei des Staates Rio de Janeiro, wo ich lebe, geht immer brutaler gegen Demonstranten der Protestbewegung vor. Das hat man auch letztens während des WM-Auftakts gesehen.
Das andere Tagebuch:
Teil 1: Die Revolution hat in Brasilien Feuer gefangen
Teil 2: Brasilien: Künstler protestieren gegen die Fußball-WM
Teil 3: Brasilien: Von der Fußball-WM profitieren Konzerne, Politiker und Banken
Teil 4: Weltmeister: Deutsche Waffen-Industrie verdient prächtig mit der Fußball-WM
Teil 5: Brasilien: Staudamm-Bau mit Methoden einer Militär-Diktatur
Teil 6: Wer ist die rätselhafte Dilma Rouseff?
Teil 7: Brasilien: Straßenkinder passen nicht ins Bild der WM – und verschwinden
Teil 8: Der ganz andere WM-Song: „Öffnet eure Augen, Brüder / die FIFA greift in unsere Taschen“
Teil 9: Brasilien: Fifa unterstützt Projekte gegen Kinderprostitution nicht
Teil 10: Lage in São Paulo eskaliert: Polzei knüppelt streikende U-Bahn-Fahrer nieder
Teil 11: Der Schwarze Block will marschieren: „20 Prozent der Brasilianer sind gegen die WM“
Teil 12: Korruption bei der Fifa: „Wer einmal die Hand aufhält, versucht es auch ein zweites Mal“
Teil 13: Brasilianischer Fußball: Der lange Weg zur Vielfalt der Kulturen
Teil 14: Fußball: „Für die Brasilianer ist die Fifa so böse wie der IWF“
Teil 15: Schriftsteller Zé do Rock: „Sepp Blatter wäre der ideale Präsident für Brasilien“
Teil 16: „Die Demonstranten haben das Image von Brasilien verändert“
Teil 17: Das Foto, das den Zorn der Brasilianer auf die Fußball-WM entfacht hat
Teil 18: Kein gutes Geschäft: Fußball-WM schadet Brasiliens Mittelstand
Teil 19: Brasilianische Militärpolizei stürmt WM-Partys in den Armenvierteln