In faktisch allen EU-Staaten beobachten wir schwere Ausfälle gegen Flüchtlinge und Asylanten. Man muss von der allgemeinen Verfassung der politischen Klasse in Europa schockiert sein. Denn die Mandatsträger überbieten sich mit barbarischem Verhalten. Man schreckt nicht einmal mehr vor wüsten Aktionen gegen konkrete Menschen zurück.
Österreich: FPÖ-Funktionäre stellen sich mit «Nein»-Plakaten vor Migranten, die in ein Heim einziehen wollen. Viel schlimmer geht es nicht: Bisher hat man die Ausländer gehasst, wenn man im Wirtshaus unter sich war. Nun bauen sich aktive Politiker vor Kindern (!) auf und knallen ihnen die Botschaft vor die Nase, dass sie nicht willkommen sind.
Bayern: Die aktuelle Entwicklung bringe Bayern an den Rand seiner finanziellen und personellen Möglichkeiten, klagt der bayrische Finanzminister Markus Söder. Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber kosteten in diesem und im nächsten Jahr bis zu drei Milliarden Euro. «Mit drei Milliarden Euro könnte man fast 50 000 Lehrerstellen finanzieren oder 460 000 Studienplätze schaffen», schreibt der CSU-Politiker für die Bild-Zeitung und beigt sich damit auf eine Stufe mit der Argumentation des seinerzeitigen österreichischen Wirtshaus-Politikers Jörg Haider.
Österreich: Die konservative Innenministerin Johanna Mikl-Leitner stoppt alle neuen Asylverfahren. Nicht, weil sie Zweifel an der Rechtmäßigkeit hat – Mikl-Leitner will «auf EU-Ebene Druck für eine Asyl-,Entlastung‘ Österreichs.. erzeugen», wie der Standard berichtet. Das ist eine grobe Verletzung der Menschenrechte, weil der Antrag eines Flüchtlings ein individuelles Recht ist und man Flüchtlinge nicht in Geiselhaft nehmen kann, um politische Spiele zu betreiben.
Italien: Der Gouverneur von Venedig fordert «schnellstmöglich» alle Migranten aus dem Sichtbereich von Touristen-Attraktionen zu entfernen. Der Anblick der Migranten sei verheerend für das Geschäft, man befürchtet massive Umsatz-Einbrüche.
Italien: Die italienischen Behörden registrieren die Flüchtlinge nicht, sondern geben ihnen Nummern zu ihrem Foto – um zu verhindern, dass die Migranten in Italien um Asyl ansuchen könnten.
Polen: Polen erklärt sich für generell überfordert und ist maximal bereit, 100 Flüchtlinge im Jahr 2016 aufzunehmen.
Estland: Der Parlamentsausschuss für EU-Angelegenheiten unterstützt «im Konsens» der wichtigsten Parteien die Position der Regierung der Tallinn und gibt ihr die Vollmacht, verbindliche Quoten bei den anstehenden Treffen auf EU-Ebene abzulehnen.
Lettland kann nach Einschätzung des Innenministeriums in Riga nur etwa 50 Flüchtlinge aufnehmen – alles andere sei logistisch nicht machbar.
Spanien stellt sich gegen den EU-Verteilungsschlüssel. «Ich bin mit den gewählten Kriterien nicht einverstanden», sagt Außenminister José Manuel García-Margallo. Die Pläne berücksichtigten die Arbeitslosenquoten der Länder nicht ausreichend.
Frankreich stellt sich taub und nimmt nur einen Bruchteil der Flüchtlinge auf, die dem Land per Quote zugemutet würden. Frankreich gibt aber gute Ratschläge: In den am stärksten betroffenen Ländern sollten Flüchtlingen nach gemeinsamen Kriterien Hilfe bekommen, illegale Einwanderer rasch zurückgeschickt werden, fordert Paris.
Großbritannien wertet jede Abwehr zusätzlicher Einwanderung als Erfolg - lediglich der Flüchtlingsrat hat die Regierung aufgefordert, freiwillig hilfsbedürftige Flüchtlinge aufzunehmen.
Tschechien lehnt Flüchtlingsquoten grundsätzlich ab. «Quoten würden illegale Migranten, die Europa nicht in ihre Heimatländer zurückzuschicken in der Lage ist, noch ermuntern», kritisiert Ministerpräsident Bohuslav Sobotka.
Ungarn streitet ebenfalls vehement gegen die Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten. «Wir wollen, dass niemand mehr kommt, und die, die schon hier sind, nach Hause gehen», sagt Ministerpräsident Viktor Orban. Der «absurde» Quotenplan grenze «an Wahnsinn», weil er einen Anreiz für Zuwanderung schaffe.
Litauen sagt, das Boot sei voll.
Die EU insgesamt verschiebt die Diskussion über eine sinnvolle Verteilung der Flüchtlinge auf nach dem Sommer. Erst einmal muss Urlaub gemacht werden.
Das sind also die Europäische Union und ihre stolzen Mitgliedstaaten, die im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis entgegen genommen haben. Der Punkt ist, dass es hier nicht um die dahinter liegende geopolitische Fragestellung geht, wie man das Flüchtlings-Problem in den Griff bekommen kann. Hier stehen konkrete Menschen vor der Tür – mit leeren Händen. Das alte Europa, das auf seine humanistische Tradition so stolz ist, steht vor der Entscheidung: Schiebt man den Panzer der bürokratischen Ignoranz an die Grenzen und behandelt die Menschen wie Insekten, gegen die man sich mit einem Fliegengitter schützen muss? Oder hilft man selbstlos und großherzig?
Wo sind eigentlich die ganzen Moral-Apostel hin? Wohlgemerkt: Es sind nicht irgendwelche rechtsradikalen Randgruppen, die sich hier so schäbig verhalten. Es sind die honorigen Politiker, die im Wahlkampf von Vielfalt und Solidarität sprechen.
Es geht hier um ein Minimum an Menschlichkeit, das jeder Politik innewohnen muss, wenn sie nicht zum totalitären Ideologie verkommen will. Auch der hedonistische Egoismus kann eine totalitäre Ideologie sein. Die Unterwerfung der Politik unter das Diktat der „einfachen Lösung“ ist totalitär – „einfach“ heißt in diesem Fall, dass man die Flüchtlinge einfach nicht hier haben will, obwohl sie da sind.
Immerhin kann an dieser Stelle gesagt werden, dass Deutschland - wie auch Schweden - eine Haltung an den Tag legt, die sich positiv abhebt von dem unwürdigen Treiben in Europa, sieht man einmal von dem oben erwähnten Ausritt Bayerns ab. Beispielhaft die Position der Bundesagentur für Arbeit (BA):
«Wir erwarten, in diesem Jahr 350.000 Flüchtlinge, die sich für den Arbeitsmarkt bewerben», sagte BA-Chef Frank-Jürgen Weise am Freitag in der lettischen Hauptstadt Riga. Etwa 200.000 davon könnten Rat bei den Arbeitsagenturen und Jobcentern suchen, sagte er nach einem Treffen der Chefs europäischer Arbeitsagenten.
Nach Weises Überzeugung kann Deutschland von den Flüchtlingen profitieren. «Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften in Deutschland. Wir benötigen Fachkräfte von außerhalb», sagte Weise. Flüchtlinge aus Syrien oder anderen als unsicher geltenden Ländern verfügten im Durchschnitt über eine hervorragende Ausbildung. Deshalb seien sie in Deutschland sehr willkommen. Gelinge es, dass die Flüchtlinge Deutsch lernten, könnten sie in den Arbeitsmarkt integriert werden, meinte Weise.
Warum ist diese Haltung im Rest Europas so gut wie nicht anzufinden? Wozu braucht Deutschland die EU, wenn es über die Minima Moralia keinen Konsens gibt?
Die Erosion des Humanen in Europa ist auch das Ergebnis der Fehlkonstruktion der EU: Verantwortung wird hin- und hergeschoben. Jede Ebene versucht, andere als Sündenböcke zu opfern. Die politische Klasse in der EU – und zwar auf nationalstaatlicher wie auf supranationaler Ebene – ist zu einem Lobbyisten-Anbetungsverein verkommen. Die Abgeordneten beten ihre eigenen Karrieren an. Sie sind wie die arroganten Neureichen, die in der Stadt die Bettler nicht mehr sehen – geschweige denn daran denken, ihnen Geld zu geben.
Die europäischen Politiker sind Marionetten im großen Welttheater des Opportunismus: Sie recken ihre wendigen Hälse nach denen, von denen sie Vorteile erwarten.
Die Flüchtlinge haben der politischen Klasse nichts zu bieten: Die Flüchtlinge können nicht als Steuerzahler oder Wähler dienen. Was soll man mit solchen Lebewesen anfangen? Doch eine politische Elite, die den Schwächsten gegenüber nur Ignoranz aufbringen kann, hat ihre Legitimität verloren.
Darin besteht die als Bedrohung empfundene Macht, die die Flüchtlinge über die politische Klasse in Europa haben: Sie sind das lebende schlechte Gewissen, das die satten Eliten daran erinnert, dass Mensch-Sein unabhängig ist von Status-Symbolen, Sicherheits-Kordonen, Dienstwägen, Fahrern, TV-Auftritten, Diäten und Prominenz.
Die Flüchtlinge, die Tag für Tag in Europa ankommen, haben nichts von alldem. Genau deshalb sind sie eine existenzielle Herausforderung für unsere satte Gesellschaft, die den Blick und den Instinkt für das Wesentliche verloren hat.