Der Verhandlungsstil der Syriza-Regierung ist indiskutabel und unprofessionell. Sie hat Papiere mit ihren Vorschlägen immer erst kurz vor oder während der Sitzung geliefert, so dass eine echte und seriöse Vorbereitung für die Finanzminister der Eurogruppe gar nicht möglich war. Dreimal in den vergangenen acht Tagen haben diese sich getroffen, jedes Mal praktisch ohne vorher Unterlagen erhalten zu haben. Damit vergrätzte die griechische Regierung auch potentiell wohlwollende Unterstützer wie Österreich. Offenbar war die Agenda der griechischen Seite, die ganze Verhandlung auf die politische Ebene, d.h. die Ebene der Staats- und Regierungschefs, zu heben. Die Troika und die Eurogruppe, wo Finanzminister Varoufakis völlig isoliert stand, sollten überspielt werden. Was auch immer dahinter steckte, ob solch politisches Kalkül oder ob pure Unfähigkeit, leicht machte es die Regierung Griechenlands den Verhandlungspartnern nicht. Oder eben doch.
Denn möglicherweise wird auf der Seite der Troika auch ein ganz anderes Spiel gespielt. Durch einen (gezielten) Leak ist das Papier der Troika im Original publik geworden, welches diese am Donnerstag-Nachmittag den Finanzministern der Eurogruppe vorstellten. Während Wochen war für die Öffentlichkeit nie ganz klar, wer eigentlich was in den Diskussionen in den Vordergrund rückt, wer im Detail für welche Position steht.
Dies erlaubte es der Presse in Deutschland wie auch der internationalen Presse, die griechische Regierung kollektiv als reformfeindlich darzustellen und ihre Exponenten abzukanzeln oder zu verunglimpfen. Das vollmundig als Reformen bezeichnete Papier der Institutionen, vom IWF offensichtlich im Detail vorbereitet, reißt nun die Maske vom Gesicht und enthüllt die wahre fachliche Kompetenz und Stoßrichtung der Vorschläge der Institutionen. Das Papier enthält effektiv Punkte, die nur noch als Programm zur vollständigen Vernichtung von Kernsektoren der griechischen Wirtschaft bezeichnet werden können. Zuvorderst steht dabei die Erhöhung der Mehrwertsteuer gezielt für den Tourismus im Rahmen einer generellen Vereinfachung des Systems der Mehrwertsteuer.
Dieses System der Mehrwertsteuer bestand bisher aus einem Normalsatz von 23%, einem reduzierten Satz von 13% für Restaurants, Grundnahrungsmittel, Energie und öffentlichem Transport sowie einem super-reduzierten Satz von 6.5% für Hotels und Medikamente. In der Struktur entspricht dies ungefähr der EU-Norm und ist nicht fundamental von anderen Ländern verschieden. Die Inseln hatten zusätzlich um 30% reduzierte Sätze von 16%, 9% und 5%. Weil auf den teilweise weit vom Festland entfernten Inseln alle Produkte per Luft- oder Seetransport herangeschafft werden müssen, sind die Produktpreise dort ohnehin schon wesentlich verteuert. Die Vorschläge der Institutionen beinhalten Folgendes: Der Satz für Hotels soll von 6.5 auf 13%, derjenige für Restaurants von 13% auf 23% angehoben werden. Die allgemeinen Sätze für die Inseln, welche bisher stark reduzierte Sätze hatten, sollen in einem Schlag auf die beiden Standardsätze von 13% bzw. 23% angehoben werden und somit jegliche Ausnahmen für sie abgeschafft werden.
Im ersten Memorandum Griechenlands mit der Troika von Mai 2010 war die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit noch als wesentliches mittelfristiges Ziel bezeichnet worden. Man hatte damals im Fokus, über eine Steigerung der Exporte und durch eine durch Exporte und Investitionen getragene Konjunktur die Bedienung und Rückzahlung der Auslandschuld zu ermöglichen. Die interne Abwertung war die Strategie, welche das Land wieder auf Vordermann bringen sollte. Die scharfe Anhebung der Mehrwertsteuersätze hatte aber unbeabsichtigte Effekte auf die Exportindustrie. Man schonte zwar die Hotels mit einer Erhöhung von 4.5 auf 6.5%, traf aber Restaurants und Bars mit einer schockartigen Verteuerung von 9 auf 23%.
Schon im zweiten Memorandum von 2012 wurde alles dem obersten Ziel Budgetausgleich untergeordnet. Damals schon war die fiskalische Konsolidierung ungeachtet aller konkreten Rahmenbedingungen oberste Priorität geworden. Deshalb wurden im zweiten Memorandum vom März 2012 vor allem auch die Steuersätze und Ausnahmen für den Tourismus, konkret die Inseln, anvisiert. Der Effekt der Mehrwertsteuer-Erhöhung für den Tourismus war desaströs. Die Tourismusindustrie hatte 2012 einen Kollaps. 2013 erklärte der griechische Hotelier-Verband (Greek chamber of hotels), dass bis zu 80% der Hotels seiner Mitglieder vor dem Bankrott stünden. Aus diesem Grund reduzierte die Regierung Samaras 2013 den Satz für Restaurants wieder von 23% auf 13%. Die Tourismusindustrie erholte sich wieder, wobei sie auch vom Ausfall der nordafrikanischen Mittelmeerländer als Tourismus-Destinationen profitierte.
Das jetzt für Samstag als letztes Angebot bezeichnete Reformpaket gibt sich nicht einmal mehr Mühe, den Anschein irgendeiner Logik zu enthalten. Nun wurde jegliche gesamtwirtschaftliche Zielsetzung fallengelassen. Als Paket ist es für jede griechische Regierung unakzeptabel, die nicht Selbstmord begehen will. Die Tourismus-Industrie ist neben der Handelsschifffahrt die zweite wichtige Export-Branche des Landes. Sie hat eine große gesamtwirtschaftliche Bedeutung, weil sie direkt und indirekt viele Personen beschäftigt. Vor allem für die Inseln ist sie absolut dominant. Die Troika hat die Erfahrung mit Mehrwertsteuer-Erhöhungen, aber auch mit reduzierten Sätzen für diese Branche.
Die erste drastische Erhöhung von 2011 sandte den Tourismus in eine Katastrophe, welche Hotels und Restaurants 2012 nahe an den Kollaps brachte. Jetzt wird eine Dosis derselben Medizin in ein Dokument hinein gesetzt, welche um ein Vielfaches stärker ist. Auf den Inseln würden die Hotels von einer Anhebung des Mehrwertsteuersatzes von 5 auf 13% geschlagen, die Restaurants von 9 auf 23%. 2011/12 war die Anpassung der Mehrwertsteuer für den Tourismus keine isolierte griechische Angelegenheit. Auch andere Peripherieländer in der Krise mussten solche Maßnahmen auf sich nehmen. Diesmal träfe es Griechenland isoliert. Dies in einem Umfeld, wo die benachbarte Türkei mit viel tieferen Sätzen und der Abwertung der Lira extrem kompetitiv da stünde. Und die Hotels und Restaurants in Griechenland sind immer noch so schwer angeschlagen, dass es sich in enorm hohen Quoten fauler Kredite für diesen Sektor ausdrückt. Die Erfahrung mit diesen erhöhten Mehrwertsteuersätzen ist nur negativ. Sie fördert nur die Flucht in den informellen Sektor. Außerdem würde sie gemäß dem Dokument per 1.7. 2015 in Kraft treten, quasi zu Beginn der touristischen Hauptsaison. Viele Akteure müssten sofort große Verluste hinnehmen.
Hier braucht man mehr über mangelnde Expertise zu diskutieren. Sicher hat die Verhandlungstaktik der griechischen Regierung zum Scheitern des ganzen Verhandlungsmarathons mit beigetragen. Doch wer so verantwortungslos wie die Institutionen operiert, muss den Hauptteil der Schuld auf sich nehmen.
Europa hat eine Verantwortung gegenüber der griechischen Bevölkerung, nicht nur gegenüber einer unliebsamen linken Regierung. In deutschen Medien wird gerne über Luftschlösser geschrieben, welche die Syriza-Regierung produzieren würde. Nun, darin stehen ihr die Institutionen in nichts nach. Gemäß den alles dominierenden Budgetzielen sollen die Primärüberschüsse im laufenden und in den nächsten Jahren wie folgt ausfallen:
Geplante Primärüberschüsse:
2015: 1%
2016: 2%
2017: 3%
2018: 3.5%
Dieses Zahlenwerk ist nicht nur unsinnig, sondern ein Scherz. Vor dem Hintergrund der dramatischen Depositenabzüge und der damit verbundenen Liquiditätskrise sind solch drastische Maßnahmen widersinnig. Sie würden die in Bezug auf die Beschäftigung wichtigste Exportindustrie in eine flächendeckende Konkurswelle treiben. Natürlich würde die Steuerflucht noch verstärkt, es wäre ja eine Frage des Überlebens für Hotels und Restaurants.
Die Einnahmen würden mittelfristig zurückgehen und nicht steigen, wie dies die in einer Buchhalter-Mentalität vorgenommenen Modellsimulationen anzeigen. Die Rückkoppelungseffekte würden genau gegenteilig ausfallen. Was dazu zu sagen ist: Europa hat sich vom IWF über die letzten fünf Jahre in Bezug auf Griechenland in eine ausweglose Sackgasse hineinmanövrieren lassen. Seit dem ersten Memorandum differieren Prognosen des IWF und effektive Entwicklung in eine gegensätzliche Richtung. Einen solchen Humbug wie das finale Angebot als Gütesiegel für eine neue Runde von größeren Zahlungen zu machen, zeigt, wie den Euro-Rettern das Dossier über den Kopf gewachsen ist.
Zum Schluss noch ein Hinweis, warum die von deutschen Ökonomen propagierte Lösung („Der Grexit ist die Rettung“) für Griechenland wie die Gläubigerländer nicht aufgehen wird. Griechenland hatte in den 1980er Jahren eine große Abwertung der Drachme. Vorher hatte das Land wegen der überragenden Bedeutung der Handelsschifffahrt die Drachme gegenüber dem Dollar stabilisiert. 1983 wurde sie gegenüber dem Dollar um 15% abgewertet, was eine lange Talfahrt auslöste. Für die Handelsschifffahrt als größte Exportindustrie brachte dies nichts, weil auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite fast alles in USD denominiert ist.
Doch auch der Tourismus profitierte nicht und würde auch jetzt bei einem Grexit nicht profitieren. Der Tourismus in Griechenland hat einen im internationalen Vergleich einzigartigen Saison-Charakter. Die Tourismus-Saison konzentriert sich traditionell auf wenige Sommermonate. In den Monaten Mai bis Oktober fanden im Jahr 2014 94% aller Übernachtungen in Hotels, Restaurants und Pensionen statt, in den Monaten Juni bis September 75% aller Übernachtungen. In diesen Monaten ist die Kapazität voll ausgelastet. Für die restlichen Monate des Jahres sind die Betten praktisch leer, viele Hotels geschlossen. Auch in anderen Mittelmeerländern hat der Tourismus einen Saison-Charakter, aber nie in einem vergleichbaren Ausmaß wie in Griechenland.
Eine Abwertung wird weder die Auslastung in der Hochsaison deutlich erhöhen können noch Touristen im Winter in die stürmische Ägäis bringen. Mit einem Grexit ist unweigerlich eine instabile Währung, sind hohe und volatile Zinsen verbunden. Damit wird nichts in eine neue Kapazität investiert werden. Der Tourismus in Griechenland hat immer Boomzeiten gehabt, wenn die Währung stabil war, und hohe Investitionen in neue Hotels erfolgten. Das war in den 1970er Jahren und wieder in den 1990er und 2000er Jahren der Fall. Dagegen genau nicht in den 1980er Jahren. Die Vorstellungen von Hans-Werner Sinn basieren nicht auf Fakten, sondern auf einfachen Grundstudiums-Lehrbuchmodellen ohne konkreten Sachbezug. Für Griechenlands Tourismus wichtig wären ein Verbleib im Euro, eine Rekapitalisierung des Bankensystems, ein Wiederherstellen des Kreditangebots, und der Verzicht auf solch widersinnigen Mehrwertsteuer-Experimente.