Die ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs, Carla del Ponte, hat die russischen Militärschläge in Syrien ausdrücklich gutgehießen. Del Ponte ist Mitglied der UN-Kommission zur Menschenrechtslage in Syrien. Sie ist eine angesehene, unabhängige Juristin und über jeden Verdacht erhaben, russische Propaganda zu betreiben. Del Ponte sagte: „Generell finde ich, dass Russlands Intervention gut war. Denn endlich attackiert jemand all diese terroristischen Gruppen wie Daesch (Islamischer Staat) und Al Nusra“, sagte sie am Montag in einem Interview mit dem französischsprachigen Schweizer Rundfunk und Fernsehen (RTS). Sie fügte allerdings hinzu, dass die Russen augenscheinlich nicht ausreichend zwischen Terroristen und anderen Milizen unterscheiden würden.
Die Schweizerin sprach sich in dem Interview außerdem dafür aus, dass der syrische Präsident Assad in Friedensverhandlungen einbezogen werden sollte: „Wenn man einen Waffenstillstand anstrebt, wenn man Frieden will, dann muss man zuerst mit der Regierung verhandeln“.
Russland hat dazu einen konkreten Vorschlag für einen Waffenstillstand an Washington gerichtet. Die TASS zitiert den russischen Außenminister Sergej Lawrow, der sagte, der Vorschlag liege bei der US-Regierung zur Überprüfung. Er sei einfach und schnell umzusetzen. Allerdings müssten die US-Verbündeten in der Region aufhören, den Sturz von Assad zu fordern, bevor man über einen Waffenstillstand sprechen könne. Lawrow nannte keinen konkreten Staat, seine Aussage dürfte sich im Grunde aber vor allem auf Saudi-Arabien beziehen. Die Saudis hatten am Montag ihre Bereitschaft erklärt, mit einer Elite-Truppe in Syrien einzumarschieren.
Tatsächlich scheint es jedoch in einer zentralen Frage eine Absprache zwischen der US-Regierung und Russland zu geben: Die kurdische YPG soll an den Verhandlungen beteiligt werden. Die YPG hatte als eine der wenigen regionalen Gruppen stets gegen die Terror-Miliz gekämpft. Lawrow erwähnte ausdrücklich den Dissens zwischen der Türkei und den USA: US-Außenamtssprecher John Kirby hatte gesagt, die Partei der Demokratischen Union (PYD) - die wichtigste Partei der Kurden in Syrien - sei aus Sicht der USA „keine Terrororganisation“. Die Unterstützung der USA für die Kurden in Syrien erfolgte maßgeblich unter dem Gesichtspunkt, den Kampf gegen die Terror-Miliz Islamischer Staat (IS) zu unterstützen. Die türkische Regierung bezeichnet die PYD und die YPG als „terroristische Organisationen“ und bekämpft die Organisationen mit derselben Härte wie sie im eigenen Land gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeht.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bereits in der vergangenen Woche wegen eines Besuchs des US-Sondergesandten Brett McGurk bei den Volksverteidigungseinheiten, die die Stadt Kobane im Norden Syriens kontrollieren, die Facon verloren. Erdogan stellte fassungslos die Frage, ob er eigentlich der Partner der USA sei oder „die Terroristen von Kobane“.
Als weitere Eskalation hat die Türkei den US-Botschafter in Ankara einbestellt. Dem Botschafter sei das „Unbehagen“ Ankaras angesichts der Äußerungen Kirbys ausgesprochen worden, berichtete die Zeitung Hürriyet am Dienstag unter Berufung auf diplomatische Quellen.
Die syrische Regierung will sich nicht auf Provokationen der von Saudi-Arabien gegründeten „Opposition“ einlassen, die die Genfer Friedensgespräche desavouiert hatte. Vorschläge für einen Waffenstillstand kämen von den Staaten, die die Aufständischen unterstützten, sagte die Präsidenten-Beraterin Buthaina Schaaban der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag. Mit dem Gerede von einem Waffenstillstand durch diese Gruppen solle die Hauptaufgabe verhindert werden, nämlich „den Terrorismus zu bekämpfen“. Ziel der Offensive der Armee sei, „die Städte und Dörfer zu befreien, die dreieinhalb Jahre lang von Terroristen kontrolliert wurden“. Dies gelte auch für Aleppo. Außerdem solle die Grenze zur Türkei wieder gesichert werden.
Die Beraterin des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad bezeichnete die Türkei als Haupteinfallstor für die Terroristen. Über die türkische Grenze führt eine der Hauptnachschubrouten der Rebellen. Auch Russland bezichtigt die Türkei der Kooperation mit den IS-Terroristen.
Syrien und Russland können mit dem Westen aus einer Position der Stärke verhandeln: Mit der von russischen Luftangriffen unterstützten Offensive ist es der syrischen Armee und den mit ihr verbündeten Milizen in den vergangenen Wochen gelungen, die Rebellen in den Provinzen Latakia und Aleppo zurückzudrängen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel scheint in der aktuellen Lage etwas den Überblick verloren zu haben: Sie hatte bei einem Besuch in Ankara gesagt, Russland sei schuld an einer neuen Flüchtlingswelle. Belege dafür hat Merkel nicht vorgelegt, sie wiederholte die Aussagen der türkischen Regierung, die als Kriegspartei nur eingeschränkt glaubwürdig ist. Merkel möchte aber Erdogan unbedingt unterstützten, damit er für sie im Gegenzug das europäische Flüchtlingsproblem löst. Die EU hat in dieser Frage höchst fahrlässig auf Erdogan gesetzt - einen bekanntermaßen unsicheren Kantonisten, der die hilf- und planlose EU-Führung bei einer Verhandlung im November regelrecht vorgeführt hat.
Merkel will die Nato mobilisieren, um die Türkei zu unterstützen – offiziell im Kampf gegen die Schlepper. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Berichterstattung der Bild-Zeitung: Die Zeitung ist nach den Unternehmensgrundsätzen des Springer-Konzerns auf „die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses“, also der Nato, verpflichtet.
Die Zeitung schreibt in einem höchst alarmistischen Leitartikel unter dem Titel „Warum in München (mal wieder) Europas Untergang beginnen könnte“, dass der Westen in Syrien gegenüber Assad und Putin - in Anspielung auf Hitler und Chamberlain - kein „Appeasement“ betreiben dürfe. Die Zeitung attackiert Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, CSU-Chef Seefhofer und den CDU-Chef von NRW, Armin Laschet, und wirft ihnen vor, „die Politik Angela Merkels“ zu „hintertreiben“. Die Bild plädiert unverhohlen für einen Nato-Einsatz und schreibt: „Putins Ziel in Syrien ist es, den Schlächter Assad an der Macht zu halten. Durch eine ,politische Lösung‘, von der auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier immer noch träumt, ist das nicht möglich. Bleibt die militärische Lösung. Putins Plan für Syrien ist ein Friedhofsfrieden. Er wird seine Luftwaffe nicht ruhen lassen, bevor alle Gegner Assads tot oder vertrieben (also als Flüchtlinge auf dem Weg zu uns) sind.“
Die Syrien-Krise steht folgerichtig im Zentrum des Treffens der Nato-Verteidigungsminister am Mittwoch und Donnerstag in Brüssel. Die Ressortchefs werden dazu über eine Anfrage der USA beraten, mit Awacs-Aufklärungsflugzeugen auszuhelfen. Die Vereinigten Staaten haben eigene Awacs-Maschinen über Syrien im Kampf gegen die Extremistenmiliz IS im Einsatz und erhoffen sich nun von den Verbündeten in der Heimat Entlastung. Sollte dies geschehen, könnten auch Flugzeuge mit Besatzungen der Bundeswehr in die USA aufbrechen. Der Bundestag müsste in diesem Fall nicht darüber entscheiden, ob deutsche Soldaten am Syrien-Einsatz teilnehmen. Alle Nato-Staaten sind Teil der Anti-IS-Koalition.
Die Militärallianz selbst ist am Einsatz im syrischen Bürgerkrieg noch nicht beteiligt. Nun läuft der Nato - wie auch den US-Neocons und Angela Merkel - die Zeit davon, sie droht im Nahen Osten ins Abseits zu geraten. Sogar die US-Nachrichtenagentur Reuters ist skeptisch, ob eine militärische Involvierung der Nato sinnvoll sei und schreibt: „Ein solcher Einstieg ist umstritten, zumal Russland dort seit Monaten Luftangriffe fliegt.“ Und genau dafür erhält Russland nun mit der Aussage von Del Ponte Rückendeckung - worüber im Nato-Hauptquartier keine besonders große Freude herrschen dürfte.