Die Wirkungen der langen Dauer der Niedrigzinsphase
Entscheidend ist vor allen anderen Faktoren die Dauer der Niedrigzinsphase. Diese hat 2009 mit niedrigen Sätzen begonnen, also vor acht Jahren. In der Folge, vor allem ab 2013, kam es laufend zu weiteren Reduktionen bis jetzt Null- und Negativzinsen an der Tagesordnung sind. Zu fragen ist nach den Konsequenzen.
Auf dem Anleihen-Markt kommt den Zehn-Jahres-Papieren eine dominante Rolle zu. Anleihen aus der Periode der hohen Zinsen vor 2009 nähern sich der Tilgung. Aber auch die Papiere aus den ersten Jahren der Niedrigzinsphase kommen in die Jahre. Nicht zuletzt, weil viele Anleger kürzere Fristen bevorzugt haben, in der Hoffnung, dass doch wieder höhere Zinsen bezahlt werden. Dass das genaue Gegenteil eingetreten ist, hat kaum jemand erwartet.
Diese Umstände haben dramatische Konsequenzen:
- In den Vermögen sinkt die Rendite gegen Null, weil die im Gefolge der Tilgungen frei werdenden Mittel nicht Ertrag bringend wieder veranlagt werden können. Viele Kapitalsammelstellen, wie Fonds oder Versicherungen, müssen die ihnen anvertrauten Mittel veranlagen und sind daher in der Verlegenheit, auch Anleihen mit geringem oder negativem Ertrag zu kaufen.
- Während der ersten Etappen der Niedrigzinsphase ist der Kurs der älteren, höher verzinsten Anleihen gestiegen. Dies ergibt sich durch den Marktmechanismus: Eine Ausschüttung von 5 Euro bei einem Kurs von 100 entspricht 5 Prozent. Die 5 Euro entsprechen aber in der Niedrigzinsphase dem jeweils aktuellen Satz auf dem Markt, beispielsweise 2,5 Prozent. Und dieser Faktor lässt den Kurs der betreffenden Anleihe auf 200 ansteigen, damit die Anleihe marktkonform auch eine Rendite von 2,5 Prozent aufweist. Die Korrekturen erfolgen nicht immer lupenrein genau nach der Formel, doch stimmt die Tendenz und somit erleichterten nicht nur die höheren Zinsen, sondern auch Kursgewinne die Bewältigung der Niedrigzinsphase.
- Der hohe Kurs verschwindet aber je näher man sich dem Tilgungstermin nähert: Bei der Tilgung werden nur die 100 Einheiten zurückgezahlt und Zinsen fallen naturgemäß keine mehr an. Durch die lange Dauer der Niedrigzinsphase werden nach und nach alle Anleihen mit höheren Zinsen getilgt und folglich lösen sich die Kursgewinne und die Zinsen auf. Dieses Phänomen bestimmt hier und jetzt den Finanzmarkt.
Aktienkurse und Immobilienpreise werden in die Höhe getrieben
Vermögensverwalter können dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Dies gilt für private Anleger genauso wie für Fonds, Versicherungen oder andere Kapitalsammelstellen.
- Schon bisher haben die niedrigen Zinsen die Anleger immer stärker Aktien und Immobilien kaufen lassen, wodurch auch die Preise in diesen Bereichen extrem gestiegen sind.
- Durch das Auslaufen der höher verzinsten Papiere wird dieser Zug noch extrem verstärkt. Man muss also mit einem weiteren Anstieg der Aktienkurse und der Immobilienpreise rechnen.
- Bereits jetzt betonen viele Analysten, dass viele Aktien viel zu teuer sind, wenn man das Kurs:Gewinn-Verhältnis und im Besonderen die Ausschüttungen betrachtet. Gleiches wird für Mieterträge betont. Diese Argumente haben wenig Gewicht, wenn die Anleihen keine Zinsen bringen, da ist auch ein in Relation zum Kaufpreis bescheidener Ertrag besser als der Null- oder Minus-Zins einer Anleihe.
- Die Niedrig- und Nullzinsphase produziert eine immer ärgere Überhitzung in den anderen Anlagekategorien. Derartige Entwicklungen führen unweigerlich zu einem Crash, wenn den Anlegern bewusst wird, dass sie keine realen Werte kaufen.
- Niemand kann vorhersagen, wann diese genau Erkenntnis eintritt und einen Kurssturz auslöst. Dieser Termin wird von der Massen-Psychologie der Börsianer bestimmt.
In dieser Markt-Situation ist die Spekulation besonders reizvoll. Wetten auf noch höhere Kurse liegen nahe, wobei die in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten entwickelten Derivate zahlreiche Möglichkeiten eröffnen. Dass die überzogenen Wetten die Finanzkrise 2008 ausgelöst haben, rückt in den Hintergrund.
Anleger, die weder zu teure Aktien noch zu teure Immobilien kaufen wollen und auch die Spekulation meiden, finden sich dennoch im Risiko wieder: Nachdem die Anleihen der entwickelten Staaten nicht mehr interessant sind, rücken die Papiere von großen Unternehmen und von weniger prominenten Staaten in den Vordergrund, die einen höheren Ertrag abwerfen, weil sie auch weniger sicher sind.
Somit stellt sich die Frage nach den möglichen Maßnahmen, die die schon im Gang befindliche und an Tempo zunehmende Überhitzung der Finanzmärkte korrigieren könnte.
Die Rückkehr zu höheren Zinsen ist extrem schwierig
Im Vordergrund stehen naturgemäß die Abkehr von den niedrigen und die Rückkehr zu den üblichen Zinssätzen. Allerdings ist diese Korrektur nicht einfach durchzuführen. Angesichts des geschilderten Zusammenhangs zwischen den niedrigen Zinsen und den Preisen in allen anderen Anlagesparten, hat jede Zinsanhebung dramatische Konsequenzen: Unweigerlich müssen die Preise für Aktien und Immobilien fallen. Durch die lange Dauer haben sich die hohen Preise etabliert und bilden nun die Basis für viele Vermögen, die dramatisch an Wert verlieren würden.
Möglich – und auch das ginge nicht ohne Risiko – ist eine vorsichtige Anhebung der Sätze in kleinsten Schritten, sodass der Markt sich ohne größere Brüche umstellen kann. Diesen Weg geht die Präsidentin der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve Board, Janet Yellen. Genauer: Diesen Weg möchte sie gehen, eine kleine Korrektur ist schon im Dezember 2015 erfolgt. Der Umstand, dass der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, an den Null- und Minuszinsen festhält, erweist sich als Bremse: Heben die USA die Zinsen weiter alleine an, treibt dies den Dollar in die Höhe und belastet die US-Exporte. Die nächste Sitzung der Fed findet kommenden Mittwoch, am 21. September, statt und die Finanzwelt wartet gespannt, ob das US-Zentralbankgeld, das derzeit zwischen 0,25 und 0,50 Prozent kostet, teurer wird.
An den eingangs geschilderten Phänomenen wird sich im Moment auf jeden Fall wenig ändern. Die Fed kann bestenfalls auf 0,75 Prozent anheben, doch rechnen viele mit einem kleineren Schritt und vielleicht sogar mit einer Verschiebung auf Dezember. Ebenso könnte die EZB, sollte sie sich zu einer Korrektur entschließen, auch nur in Mini-Schritten die Zinsen anheben. Also bleibt es bei dem niedrigen Zinsniveau und den geschilderten Konsequenzen, die die Voraussetzungen für einen Crash schaffen.
Die Negativzinsen sorgen für absurde Kapriolen
Die Negativzinsen sorgen nicht nur für Unverständnis, weil man als Anleger weniger zurückbekommt als man investiert hat, sondern auch für absurde Kapriolen:
- Ein österreichisches Gericht verurteilte vor wenigen Tagen eine Bank, einem Kreditkunden Zinsen zu zahlen. Der Referenzkurs, nach dem sich die Verzinsung des Kredits vertragsgemäß zu richten hat, war ins Minus gerutscht.
- In der Schweiz, wo die Negativzinsen besonders stark eingesetzt werden, um die Flucht aus dem Euro in den Franken zu bremsen, boomt das Geschäft mit Safes. Das Geld wird gehortet und nicht angelegt. Die Safe-Versicherungen weisen enorme Wachstumsraten auf.
- Als die Notenbanken und insbesondere die EZB vor kurzem erklärten, sie würden den bislang betriebenen, großzügigen Ankauf von Anleihen drosseln, schlugen die Börsenhändler zurück. Die Kurse der Anleihen mit Minuszinsen wurden so gedrückt, dass diese Papiere nun einen positiven Ertrag aufweisen. Wer heute diese Papiere kauft, bekommt trotz der Minuszinsen mehr zurück als er eingezahlt hat. Für die ursprünglichen Käufer der Anleihen bedeutet diese Aktion einen gigantischen Verlust.
Die möglichen Alternativen werden kaum genutzt
Auswege gäbe es, doch diese werden erstaunlicherweise nicht einmal diskutiert.
Die niedrigen Zinsen sollten die Unternehmen und die Privathaushalte zur Aufnahme von Krediten animieren und so die Investitionstätigkeit und den gehobenen Konsum beleben.
Dass dies nicht erfolgt, wird vielfach mit Erstaunen quittiert: Dass Basel III und eine Reihe anderer Vorschriften die Vergabe von Krediten extrem bremsen, wird schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Somit ist auch nicht von einer Lockerung der Bremse die Rede. Die meisten Banken resignieren, nehmen die Reduktion ihres Geschäftsvolumens zur Kenntnis und schließen reihenweise Filialen.
Die Politik der Belebung der Wirtschaft über eine Geldschwemme zu niedrigen Zinsen war in den USA recht erfolgreich, wobei immer zu beachten ist, dass in Amerika der Anteil der Kredite an der Unternehmensfinanzierung nur 25 Prozent beträgt, in Europa hingegen bei 75 Prozent liegt. Zudem wurde Basel III in den USA nicht in der strengen Ausformung umgesetzt wie dies in Europa der Fall ist, sodass das Regelwerk nicht in gleicher Weise als Kreditbremse wirkt. Auch in den USA treiben die niedrigen Zinsen die Preise in den anderen Anlage-Kategorien in die Höhe, doch sind die Auswirkungen nicht so dramatisch.
Die Crash-Gefahr ist so dominant, weil in Europa die Milliarden an verfügbaren Geldern nicht in der Realwirtschaft ankommen und daher zu Aktien, Immobilien und Spekulationen fließen.
Bemerkenswert ist auch, dass der Markt in Europa kaum Alternativen entwickelt.
- Von Basel III nicht behindert wären Anleihen, deren Erlöse kleineren und mittleren Unternehmen zugutekommen. Die Mittelstands-Anleihen spielen aber in der Praxis nur eine kleine Rolle.
- Der Ausbau des ebenfalls von Basel III verschonten Leasing wäre möglich: Auch hier könnten Anleihen für die Finanzierung sorgen, Anleihen, die einen attraktiven, aus den Erträgen der Unternehmen bezahlten Zinssatz aufweisen würden.
- Die Entwicklung von Beteiligungskapital für mittelständische Unternehmen wäre ebenfalls in der Lage, den Anlegern Alternativen zu bieten, die den drohenden Crash vielleicht nicht unbedingt verhindern, aber entschärfen könnten.
Neuerdings wird Crowd-Funding als Wundermittel angepriesen: Mit einem Schlagwort und einer Mode-Erscheinung wird man den in Europa dramatischen Mangel einer funktionierenden Finanzierung der mittelständischen Wirtschaft nicht korrigieren.
Die Politik hat mit der Niedrigzinspolitik und Basel III die funktionierenden Strukturen der in Europa überwiegend auf Krediten beruhenden Unternehmens-Finanzierung ruiniert. Die Privatwirtschaft schafft es bislang nicht, entsprechend rasch andere Strukturen aufzubauen.
Die Politik ist nicht an einer Kurskorrektur interessiert
Von der Politik kann man auch keine Kursänderung erwarten, weil das System, das die Wirtschaft gefährdet, den Staaten nützt:
- die niedrigen Zinsen erleichtern die Finanzierung der Staats-Budgets,
- in Basel III und dem parallelen Regelwerk für die Versicherungen, Solvency II, sind die Ausleihungen an Euro-Staaten als risikolos eingestuft und müssen daher nicht mit Kapital abgesichert werden, während bei alle anderen Anlage-Kategorien hohe Kapital-Unterlegungen vorgeschrieben sind.
Die Chance, dass die Faktoren, die in den Crash führen, korrigiert werden, ist gering.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.