Politik

Merkels große Krise: Das Vertrauen der Deutschen ist weg

Angela Merkel will die Zeit um einige Jahre zurückdrehen, wenn sie könnte. Doch was würde sie ändern? Das Problem sind nicht die Flüchtlinge: Das Problem ist eine Politik, die sich dauerhaft überschätzt – und den Wählern dann Märchen über die Welt und die Realität erzählt. Doch die Leute sind misstrauisch geworden - und wehren sich mit einem einfachen Kreuz im letzten Rückzugsraum der Demokratie, der Wahlzelle.
20.09.2016 01:22
Lesezeit: 4 min

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Angela Merkel sprach am Montag bei ihrer Analyse der jüngsten Wahl-Niederlagen davon, dass sie in der Flüchtlingskrise die Zeit gerne um einige Jahre zurückdrehen würde, um sich dann besser vorzubereiten auf das angeblich so überraschende Phänomen einer unkontrollierten Massenflucht.

Doch Merkel irrt, wenn sie glaubt, dass die massive Ablehnung der Politik von CDU und SPD nur darauf zurückzuführen sei, dass man den Deutschen nicht ausreichend erklärt habe, dass sich ihr Land ändern müsse. Ihre Versicherung, man werde das Grundgesetz stets achten, klingt wie eine leere Formel. Denn nicht erst in der Flüchtlingspolitik hat die Bundesregierung die Gesetze gebeugt, ja in vielen Bereichen direkt gebrochen.

Das Unbehagen begann mit der Euro-Krise: Mit Milliarden wurden Banken gerettet, damit ein System am Leben bleibt, das gegen jede ökonomische Vernunft ist: Man kann eine gemeinsame Währung nur in einem Raum haben, in dem es eine gemeinsame Transfer-Union gibt. In den USA funktioniert der Finanzausgleich, ebenso in Deutschland der Länderfinanzausgleich. In der EU gibt es kein solches System. Stattdessen gibt es den Maastricht-Vertrag, der vor Jahren bereits von Deutschland und Frankreich gebrochen wurde. Statt sich kraftvoll und intelligent für eine europäische Wirtschaftsunion einzusetzen, haben schließlich alle Regierungen den Weg des geringsten Widerstands gewählt – und sich hemmungslos weiter verschuldet. Die EZB ist in die Bresche gesprungen und hat die Fiktion aufrechterhalten, dass man sich nur Zeit kaufen müsse, damit das Problem verschwindet. Doch es gibt kaum noch Zeit auf den Märkten – weil dort wie bei den Wählern das Vertrauen geschwunden ist. Spekulanten trieben die Euro-Zone vor sich her, bis es kracht. Das haben viel mehr Deutsche durchschaut, als es der Kanzlerin lieb sein kann.

Die Folge von Gesetzesbeugung und Rechtsbruch ist notwendigerweise immer der Vertrauensverlust. Der hat sich in Europa in einer beispiellosen, neuen Zerstrittenheit manifestiert: Die Griechen, die Polen, die Ungarn, die Briten, die Türken – sie sind in der politischen Wahrnehmung zu unsichereren Kombattanten geworden, um es freundlich auszudrücken. Der nächste fundamentale Streit steht mit Italien ins Haus, wie die jüngsten Attacken von Matteo Renzi gegen Bundesbank-Präsident Weidmann erahnen lassen.

Neben den innereuropäischen Rivalitäten hat sich dann die Bundesregierung gegen Russland positioniert – obwohl die Mehrheit der Deutschen Russland noch bis vor kurzem eindeutig als Partner und nicht als Bedrohung gesehen hat. Die Sanktionen wurden durchgesetzt und werden laufend verlängert – obwohl die deutsche Wirtschaft die Folgen zu tragen hat. So kann man kein Vertrauen aufbauen.

Und schließlich die Flüchtlinge: Merkel sagte, „wir“ seien keine „Weltmeister in der Integration“. Was soll das eigentlich heißen? Bis vor kurzem ist Deutschland ohne extrem rechte Partei ausgekommen, haben sich Millionen von Deutsch-Türken völlig problemlos in Deutschland integriert. Jetzt fordert man von diesen Leuten „Loyalität“ und bringt sie in einen Rechtfertigungsdruck – obwohl noch vor wenigen Jahren die herausragenden Beiträge der „Gastarbeiter“ zum Wirtschaftswunder gewürdigt worden waren.

Der größte Irrtum Merkels bei ihrer vermeintlichen „Selbstkritik“ liegt darin, dass sie die Aufgeklärtheit der Deutschen unterschätzt. In ihrer überwältigenden Mehrheit sind die Deutschen keine Ausländerfeinde, sondern hilfsbereit und tolerant. Sie haben jedoch einen sicheren Instinkt dafür, dass die Fluchtursache der „Fluch der bösen Tat“ ist, wie der Journalist Peter Scholl-Latour sein letztes Buch genannt hat: Die Vertreibung von Millionen Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten ist die direkte Folge eines vom Westen und den Golfstaaten angezettelten Kriegs um Öl, Gas und Pipelines.

Das Chaos im Irak, in Libyen und in Syrien wäre nicht entstanden, wenn der Westen an seiner Haltung festgehalten hätte, keine Angriffskriege gegen souveräne Staaten oder Umsturzversuche gegen andere Regierungen zu tolerieren. Heute aber bombardieren dänische und britische Einheiten gemeinsam mit den US-Militärs die syrische Armee mitten im Waffenstillstand. Und dann beklagt man die mangelnde „europäische Solidarität“ bei der „Verteilung“ der Flüchtlinge und reibt sich die Augen, dass sich wieder tausende Menschen auf den Weg machen, um dem Krieg zu entkommen.

Hinzu kommen, wie Merkel richtig angemerkt hat, lokale „Probleme“: In Berlin war das das unvorstellbare Milliarden-Desaster beim Großflughafen, für das bis heute kein einziger Politiker die Verantwortung übernommen hat – obwohl die Aufsichtsräte von eben diesen Politikern kontrolliert werden. Von diesem Versagen hat Merkel nicht gesprochen – und es hat die Berliner sicher mehr aufgeregt als die „Flüchtlingskrise“, die in Berlin im Grunde überhaupt kein soziales Problem ist – auch, weil sich viele Freiwillige allen Widrigkeiten zum Trotz immer noch vorbildlich um Flüchtlinge und Migranten kümmern und sich die meisten Neuankömmlinge unauffällig verhalten.

Wenn Merkel beklagt, sie könne gegen die „postfaktischen“ Gefühle nicht sachlich argumentieren, wird hier eine Umkehr der Beweislast vorgenommen, und das noch mit einer subtilen, moralischen Überheblichkeit. „Postfaktisch“ ist die Politik der Bundesregierung, die sich in vielen komplexen Problemlagen immer wieder überhoben hat – sei es durch Machtworte, Halbwahrheiten oder technokratische Sturheit wie bei der Energiewende.

Dieses Grundgefühl ist faktisch nichts anderes als ein fundamentaler Vertrauensverlust. Das Problem, das Merkel mit ihrem „Wir schaffen das!“ liegt nicht darin, dass die Zivilgesellschaft zweifelt, ein paar hunderttausend Migranten und Flüchtlinge zu integrieren. Ein erheblicher Teil der Gesellschaft zweifelt vielmehr daran, ob es diese Bundesregierung, die fortgesetzt zum Rechtsbruch, zum latenten Notstand und zur immer penetranteren Propaganda neigt, schaffen wird, die vielen Krisen zu meistern.

Nicht „die Deutschen“ haben ihre Haltung aufgegeben. Die Bundesregierung hat den Halt verloren, weil sie einem umfassenden Machbarkeitswahn aufgesessen ist. Statt immer neuer metaphysischer Anwandlungen müsste die Bundesregierung zu einer rein pragmatischen Politik übergehen. Ideologien, Parteienherrschaft und das dauerhafte Ausspielen von gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander vertiefen die Spaltung in der Gesellschaft – und lösen kein einziges Problem.

Die Suche nach Sündenböcken und Schuldigen verfängt beim Wähler nicht mehr. Die neue Kultur der Publikumsbeschimpfung erzeugt unangenehme Gefühle – und am Ende finden die Wähler in der Abgeschiedenheit der Wahlkabine ihr letztes Refugium, wo sie ihren rational wohlbegründeten Gefühlen mit einem einzigen Kreuz freien Lauf lassen können.

Noch haben wir in Deutschland keine wirkliche Krise. Doch diese kann, wegen der vielen uneinlösbaren Versprechen und Versprechungen, jederzeit ausbrechen. Merkel sagte, jeder müsse angesichts der kommenden Herausforderungen über sich hinauswachsen. Die Aufgabe der Politik wäre es, dafür mit Nüchternheit, Ehrlichkeit und ohne Ansehen der Parteizugehörigkeit den Rahmen zu schaffen. Pathos gehört in die Kirche. Realismus bei in der Einschätzung der eigenen Möglichkeiten wäre das Gebot der Stunde für die Bundesregierung. Das und nicht mehr wird von Merkel verlangt. Das und nicht mehr kann sie schaffen.

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