Politik

Erdogan muss zittern: Niederlage bei Referendum möglich

Die Türken sind am Erdogan-Referendum relativ uninteressiert. Trotz der Polarisierung ist der Umbau zu Präsidialform für die meisten irrelevant. Ein wichtige Rolle könnten allerdings die Kurden spielen.
28.03.2017 00:39
Lesezeit: 2 min

[vzaar id="9698089" width="600" height="338"]

Die aktuellen Umfragen zum Referendum über den Umbau der Türkei zu einer Präsidialrepublik zeigen überraschend ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Gegner und der Befürworter. Bekir Ağırdır, Chef des türkischen Umfrageinstituts Konda, sagte der Hürriyet: „Wenn gleiche Bedingungen für alle herrschen würden und die Debatte auf den Inhalt der Veränderung fokussiert wäre, würden die Nein-Stimmen vor den Ja-Stimmen liegen.“ Aktuell sei es unmöglich, ein Ergebnis vorauszusagen, weil beide Lager etwa gleichauf liegen würden. Die Unentschlossenen würden am Ende den Ausschlag geben, sagte Ağırdır.

Interessant ist seine Begründung: Das Referendum komme nicht vom Volk, sondern von der Regierung und vom Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Daher gäbe es naturgemäß weniger Engagement in der Bevölkerung. Ağırdır: „Einem erheblichen Teil der Gesellschaft fehlt es an Information und Interesse. Und das Desinteresse ist berechtigt, da dieses Referendum nicht das Ergebnis von Forderungen der Gesellschaft ist. Die Leute reden nicht darüber – nicht, weil sie unwissend sind, sondern weil sie ihren Alltag nicht berührt. Deshalb waren die Leute von Anfang an nicht so begeistert. Die AKP hat dieses Problem erkannt und hat daher ihre Kampagne nicht auf die Substanz der Veränderungen bezogen, sondern auf Polarisierung gesetzt.“

Diese Polarisierung fand ihren Ausdruck unter anderem in zahlreichen verbalen Attacken der Regierung gegen die EU, andere europäische Staaten und Deutschland im Besonderen. Allerdings reicht das nicht aus, denn auch in der AKP ist laut Ağırdır ein Fünftel nicht überzeugt, dass das Präsidialsystem wirklich eine gute Veränderung sei. Auch in den Oppositionsparteien gibt es noch starke Skeptiker oder schon ausgeprägte Nein-Lager. Ağırdır glaubt, dass die „deutliche Mehrheit der Kurden gegen das Referendum stimmen wird“. Hier könnte, so Ağırdır, auch der Syrien-Krieg eine Rolle spielen: Spätestens seit dem Kampf um Kobane sei die „kurdische Identität“ gestärkt worden. Daher rechnet Ağırdır mit 70 Prozent Nein-Stimmen, obwohl die AKP bei den Wahlen bis 2011 etwa 60 Prozent der kurdischen Stimmen erhalten hatte.

In diesem Zusammenhang könnten auch Informationen eine Rolle spielen, wonach die USA bereit sein sollen, einem kurdischen Staat im Norden Syriens und des Irak zu begründen. Zuletzt hatte der von den USA unterstützte Kurden-Führer Massoud Barzani der italienischen Zeitung La Stampa gesagt, dass der Kurdenstaat im Norden des Irak nicht mehr verhindert werden könne. Die Aussicht könnte bei den kurdischen Wählern in der Türkei zu der Überzeugung führen, dass ein starker Präsident verhindert werden müsse, um eine Sezession verwirklichen zu können.

Ağırdır ist der Meinung, dass das Referendum die Spaltung in der Türkei in jedem Fall vertiefen werde: „Die rund 48 bis 49 Millionen gültigen Stimmen werden sich im Verhältnis 23 Millionen zu 25 Millionen aufteilen. Der rationale Verstand sagt, dass man etwas politisch nicht durchsetzen sollte, wenn 23 Millionen dagegen sind. Aber wenn man sich die Rhetorik der dominierenden politischen Akteure anschaut, wird die Regierung auch ohne Rücksicht, was die anderen 23 Millionen denken, an ihrem Ziel festhalten. Auf der anderen Seite: Wenn es 25 Millionen Nein-Stimmen gibt, wird dieses Lager feiern, ohne sich zu fragen, warum denn die anderen 23 Millionen mit Ja stimmen konnten. Das ist nicht nachhaltig, und die Polarisierung und Spannung wird sich fortsetzen.“

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen EU-Vermögensregister und Bargeldbeschränkungen: Risiko für Anleger

Das EU-Vermögensregister gehört derzeit zu den größten Risiken für Anleger. Daher ist es wichtig, sich jetzt zu überlegen, wie man...

DWN
Politik
Politik Bundestag stimmt über Verfassungsrichter ab – Politische Debatte um Mehrheiten
08.07.2025

Im Bundestag steht eine wichtige Entscheidung an: Drei Kandidatinnen und Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht sollen gewählt...

DWN
Technologie
Technologie Wettlauf der Supermächte: Wer gewinnt das Milliarden-Quantenrennen?
08.07.2025

Quantencomputer gelten als Schlüsseltechnologie der Zukunft – und könnten bestehende Sicherheitsstrukturen weltweit aushebeln. Der...

DWN
Politik
Politik Recht auf Schutz: Gericht bestätigt Anspruch afghanischer Familie auf Visa
08.07.2025

Trotz der Einstellung des Bundesaufnahmeprogramms für gefährdete Afghanen hat das Verwaltungsgericht Berlin eine klare Entscheidung...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Urlaub wird teurer: Flugkosten steigen auch bei Billig-Airlines
08.07.2025

Fliegen vom deutschen Flughafen ist deutlich kostspieliger geworden – und das nicht nur bei klassischen Airlines. Auch...

DWN
Politik
Politik Haushaltsstreit 2025: Klingbeils Pläne, Kritik und offene Milliardenlücken
08.07.2025

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat den Haushaltsentwurf für 2025 und die Finanzplanung bis 2029 in den Bundestag eingebracht....

DWN
Unternehmen
Unternehmen VW-Konzern behauptet Spitzenposition im deutschen E-Auto-Markt
08.07.2025

Der VW-Konzern setzt im deutschen E-Auto-Markt neue Maßstäbe. Die aktuellen Zahlen zeigen eine eindrucksvolle Entwicklung – doch der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft China frisst Europas Industrie und niemand wehrt sich
08.07.2025

Chinas Staatskonzerne zerlegen Europas Industrie Stück für Stück – doch Berlin, Brüssel und Paris liefern nur leere Worte. Während...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Dow schließt Chemieanlagen: Was das für Deutschland bedeutet
07.07.2025

Der US-Konzern Dow zieht sich teilweise aus Mitteldeutschland zurück – und das hat Folgen. Standorte in Sachsen und Sachsen-Anhalt...