Politik

Egal wer gewinnt: Frankreichs Probleme sind Sprengsatz für die EU

Lesezeit: 11 min
16.04.2017 02:20
Frankreichs Probleme sind ein Sprengsatz für die EU. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass nur der Richtige die Wahl gewinnen muss.

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Frankreich steckt wie viele Euroländer in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sackgasse. Frankreich unterscheidet sich aber stark von den Periepherieländern, teilt dafür viele Gemeinsamkeiten mit Großbritannien. Die Krise am Arbeitsmarkt und die Energieproblematik sind spezifisch für Frankreich.

In wenigen Wochen sind Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Die Anhänger der EU erlitten in der zweiten Jahreshälfte 2016 ob des Rechts- und Linksrucks einen Schock. In der Brexit-Abstimmung wie in der Wahl von Donald Trump manifestierte sich ein tiefsitzendes Malaise, das zweifellos auch in Frankreich anzufinden ist. Diese Panik ist in den letzten Monaten angesichts der Wahlumfragen Zuversicht gewichen. Und doch: Vor der ersten Runde der Wahlen ist unklar geworden, wer in den entscheidenden zweiten Wahlgang einziehen kann. Gemäss den letzten Umfragen liegen vier Kandidaten nur wenige Prozentpunkte auseinander. Vor allem der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon, früher Mitglied und kurzzeitig sogar Minister des Parti Socialiste (PS), hat in den Umfragen wie in den sozialen Medien mächtig aufgeholt. Dabei reflektieren die Umfragen eine erhebliche Unsicherheit. Viele Wahlberechtigte, die Institute beziffern sie auf bis 30 bis 40% des Totals, haben sich noch nicht entschlossen. Ein Indiz dafür, wie gering die führenden Kandidaten getrennt sind, bildet die letzte Umfrage der Zeitung ‚Le Monde’ ab.

Aktuelle Umfrage-Ergebnisse für die französischen Präsidentschaftswahlen:

(Quelle: Le Monde, 14.4. 2017)

Reelle Chancen, in die zweite Runde einzuziehen, haben somit der frühere Investmentbanker und kurzzeitige Wirtschaftsminister Emanuel Macron; der Konservative Francois Fillon, der unter Präsident Sarkozy Premierminister war; Marine Le Pen, die Chefin des ‚Front National’; sowie eben Mélenchon. Die Anhängerschaft insbesondere von Macron und Mélenchon ist teilweise noch unsicher und fluktuierend, während Le Pen und Fillon auf eine hohe Treue ihrer respektiven Kernwählerschaft zählen können. Mélenchon hat reelle Chancen auf die zweite Runde, weil er noch erhebliches Potential vom Sozialisten Benoît Hamon hat. Dessen Wählerschaft ist sehr unsicher, und vom Programm her nahe bei Mélenchon. Hamon hat Mélenchon für den Fall einer zweiten Runde als seine Wahl empfohlen. Angesichts des Aufstiegs von Mélenchon könnten die Anhänger von Hamon dazu verleitet sein, schon in der ersten Runde ‚nützlich‘ zu stimmen.

Diese vier Kandidaten vertreten sehr unterschiedliche Positionen. Im Kern weisen Macron und Fillon einerseits, und Le Pen und Mélenchon andrerseits Ähnlichkeiten in wirtschafts-, aber nicht in gesellschaftspolitischen Fragen auf. Macron und Fillon wollen in der Europäischen Union und im Euro verbleiben. Sie wollen Frankreich in diesem Rahmen ‚reformieren‘ oder ‚modernisieren‘. Le Pen und Mélenchon wollen die Mitgliedschaft in der EU und im Euro aufgeben bzw. riskieren. Sie verfolgen mindestens einen Politikansatz, der einen klaren Bruch mit den bisherigen Spielregeln der Union und Einheitswährung repräsentieren würde.

Wie auch immer die ersten Runde ausgehen wird. Die Probleme der französischen Wirtschaft und Gesellschaft gehen tief. In einer kurzen Serie mit mehreren Beiträgen sollen die wichtigsten Punkte hervorgehoben werden. Zunächst starten wir mit einem zweiteiligen, rein deskriptiven Überblick. Im ersten Teil: Die Schwächen der französischen Wirtschaft anhand von sechs Merkmalen. Kausalitäten und Erklärungsmuster kommen erst später, wenn alle wichtigen Fakten auf dem Tisch liegen.

(1) Wachstumsverlangsamung / Stagnation: Frankreich wächst nur noch schwach, kaum mehr seit 2007. 2016 lag das reale BIP gerade einmal 4% über dem Stand von 2007. Wie markant der Wachstumsrückgang ist, zeigt das langfristige Bild des Bruttoinlandsprodukts und seiner Wachstumsrate. Dabei sind die jährliche Wachstumsrate gegenüber dem Vorjahr (blaue Kurve) sowie zwei Trendindikatoren aufgetragen. Die eine repräsentiert ein Gleitendes Mittel der vergangenen sieben Jahre (violette Kurve), die andere ein Gleitendes Mittel der vergangenen 10 Jahre der Wachstumsrate des realen BIP (lila Kurve). Die Aussagekraft beider unterscheidet sich kaum.

(Quelle: Ameco Datenbank, eigene Berechnungen)

Aus den drei Kurven geht deutlich hervor, dass das Trendwachstum bis 1974 bei rund 5% jährlich betrug. Das Trendwachstum ging bis Mitte 1980er Jahre auf rund 2 % zurück und blieb auf diesem Niveau bis 2008. Seither hat es sich auf noch knapp 0.7 Prozent pro Jahr zurückgebildet. Weil jetzt dann die guten Jahre 2006 und 2007 wegfallen, wird das Trendwachstum unter 0.5% zurückgehen.

Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone. Zusammen mit Deutschland bildet Frankreich deren Rückgrat, wie auch der Europäischen Gemeinschaft. Wenn eine Volkswirtschaft von diesem Gewicht stagniert, dann hat dies Rückwirkungen auf die Gesamtarchitektur.

Die Wachstumsschwäche Frankreichs ist umgekehrt aber kein isoliertes französisches Phänomen. Frankreich teilt diese Eigenschaft mit vielen Ländern und mit dem Durchschnitt der Eurozone wie auch der Europäischen Union.

(Quelle: Ameco Datenbank)

Die Graphik zeigt die relative Entwicklung des französischen und des deutschen BIP verglichen mit demjenigen der EU-15. Ein Wert von 100 impliziert identisches Wachstum wie die EU-15. Steigende Werte bedeuten stärkeres, fallende Werte schwächeres Wirtschaftswachstum als die EU-15. Die EU-15 ist identisch mit der EU in der Form von 1995 bis zur Erweiterung von 2004. Frankreich wächst seit 1995 praktisch identisch wie die EU-15, Deutschland dagegen zeigt erhebliche Abweichungen. Ein viel schwächeres Wachstum bis 2006, ein stärkeres seither. Wie viele Länder ist Frankreich der Wachstumsschwäche der Weltwirtschaft seit 2008 und vor allem den direkten und indirekten Effekten der Finanzkrise und der Eurokrise in Europa ausgesetzt. Zudem wirkt die von Deutschland und der Europäischen Kommission der Eurozone aufgezwungene Austeritätspolitik als Konjunktur- und Wachstumsbremse für Frankreich.

(2) Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit: Doch es wäre falsch, das französische Malaise nur externen makroökonomischen Faktoren zuzuschreiben. Frankreich hat deutlich an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Das Land hat eine richtiggehende Desindustrialisierung durchgemacht. Und zwar nicht erst seit 2008 wie Italien oder Spanien, sondern schon seit den 1980er Jahren, genau wie das Vereinigte Königreich. Die Beschäftigung in der französischen Industrie ist dabei in zwei Schüben zurückgegangen, einem ersten zwischen 1980 und 1995, mehr oder weniger parallel zur Amtszeit von Präsident Mitterand. Und einem zweiten in den 2000er Jahren. Ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit ist in der Eurodebatte vor allem den Peripherieländern zugeschrieben worden. Das ist die herrschende Auffassung, welche auch die wirtschaftspolitische Antwort in der Eurokrise bis heute geprägt hat. In Wahrheit haben die großen Peripherieländer wie Italien oder Spanien die industrielle Beschäftigung nach Einführung des Euro halten bzw. steigern können. Schon diese Analyse ist also kreuzfalsch. Sie ist von Nationalökonomen propagiert worden, die umfassend faktenresistent sind, und darüber hinaus Schwierigkeiten haben, eine Zahlungsbilanz professionell einigermaßen korrekt zu interpretieren. Genauso falsch und desaströs ist entsprechend und folgerichtig die wirtschaftspolitische Antwort seit 2011 in allen ihren Aspekten. Die Peripherieländer hatten bis 2008 im Vorfeld und nach der Einführung des Euro gerade nicht an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt, indem sie zu hohe Lohnsteigerungen hatten. Sie haben massive Verluste in den Austauschrelationen (terms of trade) erlitten. Vor allem der Erdölschock hat voll auf die Handels- und Leistungsbilanzen dieser Länder durchgeschlagen.

(Quelle: Ameco Datenbank, für das Vereinigte Königreich 1979-2015 gemäß VGR 2010, 1960-1978 interpoliert mit dem Index des ‚Employment in Manufacturing in the United Kingdom’, (Fredgraph).

Im gesamteuropäischen Kontext haben unter den großen Ländern oder Wirtschaftsräumen seit Einführung des Euro in Wirklichkeit Frankreich und das Vereinigte Königreich strukturell an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Die Handelsbilanz beider Länder ist stark defizitär geworden. Vor allem im Außenhandel mit Europa fährt Frankreich hohe Defizite in der Handelsbilanz ein. Seine Handelsbilanz mit den Ländern außerhalb der Europäischen Union und spezifisch mit den Erdölländern ist dagegen ausgeglichen geblieben.

Der Verlust an industrieller Wettbewerbsfähigkeit wird sich nicht rasch korrigieren, denn Frankreichs Export- und Binnenindustrien sind dezimiert, kriseln oder sind vernichtet. Die Desindustrialisierung ist ein historisches Fakt, und nicht mehr primär konjunkturbedingt. Die Schwäche betrifft nicht nur die verarbeitende Industrie, wo sie breit basiert und keineswegs auf einzelne Branchen beschränkt ist. Ein zweiter traditioneller Bereich, der enorm eingebüßt hat, ist die Landwirtschaft. Auch die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft hat dramatisch abgenommen. Es ist dies ein gesamteuropäischer Trend, aber in Frankreich doch sehr ausgeprägt.

Auch der französische Tourismus als traditionell wichtigste Dienstleistungs-Branche im Außenhandel hat an internationaler Wettbewerbsfähigkeit verloren, allerdings vor allem seit den 1990er Jahren. Frankreich war früher das wichtigste Tourismusland der Welt. Im Vergleich mit Wettbewerbern wie Spanien oder Italien, selbst mit Griechenland, Deutschland und Portugal hat Frankreich stagniert, ist auf einer relativen Basis deutlich zurückgefallen.

Die ‚France profonde‘ ist durch den Wachstumsprozess der letzten 30 Jahre ökonomisch zerstört worden. Hingegen hat Frankreich sehr erfolgreich einen modernen Dienstleistungssektor entwickelt, viel erfolgreicher als etwa Italien, Spanien oder andere Peripherieländer, auch erfolgreicher als Deutschland. Der Dienstleistungssektor bietet also ein durchaus gespaltenes Bild. Der traditionell starke Tourismus ist zurückgebunden worden, hingegen ist Frankreich vor allem in der Finanzindustrie, bei den Unternehmens-Dienstleistungen wie im Consulting oder in der Informatik erfolgreich - parallel zum Vereinigten Königreich, wo diese Tendenz noch ausgeprägter ist.

(3) Langwierige Investitionsschwäche: Die Desindustrialisierung und das Siechtum des Agrarsektors sowie die Wettbewerbsverluste im Tourismus finden anderswo ihren Niederschlag: In Frankreich gibt es eine ausgeprägte Investitionsschwäche des privaten Sektors. Die privaten Unternehmen des Landes investieren zu wenig, und dies seit Jahrzehnten. Es ist nicht so wie in den Peripherieländern der Eurozone (Spanien, Irland, Portugal, Griechenland), wo vor und nach der Einführung des Euro bis 2008 zu viel investiert wurde. Die Investitionen sind dort seither als Reaktion auf diese vorangegangene Phase der Überinvestition sowie wegen der Nachfrage-Kontraktion eingebrochen. Die Investitionsschwäche in Frankreich ist dagegen notorisch und schon seit Jahrzehnten feststellbar. Das wird einer gesonderten Erklärung bedürfen.

Das kann nicht ohne Folgen bleiben. Wenn die Investitionsquoten im privaten Sektor während Jahrzehnten weit zurückbleiben, sind gravierende Wettbewerbsverluste des privaten Sektors unvermeidlich. Vor allem ist die Investitionsschwäche ein Vorläufer weiterer Wettbewerbsverluste, welche so vorgezeichnet sind.

(4) Hohe strukturelle, verfestigte Arbeitslosigkeit: Nicht nur als Folge von Wachstumsschwäche und Wettbewerbsverlusten in den Jahren seit 2008, sondern strukturell hat Frankreich eine hohe und verfestigte Arbeitslosigkeit. Sie ist von rund 1 Prozent in den 1960er Jahren auf fast 9 Prozent Mitte der 1980er Jahre angestiegen. Sie liegt somit seit 30 Jahren (!!!) zwischen rund 7-10% und schwankt erstaunlich wenig im Konjunkturzyklus. Das ist eine hohe Arbeitslosigkeit. Sie liegt nicht so abscheulich hoch wie in Spanien oder Griechenland und einigen Ländern (Zypern, Kroatien), aber sie ist viel zu hoch.

(Quelle: INSEE)

Sie sinkt gegenwärtig kaum, trotz internationalem Konjunkturaufschwung. Das belastet natürlich die Sozialkassen. Noch erstaunlicher ist die Zusammensetzung der Arbeitslosigkeit. Anders als in vielen Ländern konzentriert sie sich nämlich strukturell auf die arbeitsfähigen, d.h. nicht in Ausbildung befindlichen Jugendlichen von 16 bis 25 Jahren. Deren Arbeitslosenquote liegt ebenfalls seit 30 Jahren zwischen rund 20-25%, also mehr als doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Ganze Generationen von französischen Jugendlichen haben während vielen Jahren den Einstieg in den Arbeitsmarkt und damit in eine normale Berufslaufbahn verpasst. Das ist eine Hypothek für das Produktivitätswachstum in der Zukunft. Für die Betroffenen signalisiert es Hoffnungslosigkeit und Bereitschaft, neue politische Lösungen wie den Front National oder umgekehrt Linkssozialisten wie Mélenchon in Betracht zu ziehen.

Die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit spiegelt schließlich die geschilderte Sektorenentwicklung. Die Arbeitslosigkeit ist besonders hoch in den alten Industrieregionen, in den Landwirtschaftsgebieten und teilweise in früheren Tourismus-Hochburgen. Grob gesagt ist sie im Norden/Nordosten und im Süden des Landes besonders hoch. Hingegen ist sie am niedrigsten in den Zentren des modernen Dienstleistungssektors wie in den Großräumen und Ballungszentren von Paris und Lyon, sowie sekundär bei prosperierenden Städten wie Nantes, Rennes, Grenoble, Bordeaux oder Toulouse. Von den Großstädten zeigen nur Marseille, Nizza (Süden) und Lille (Norden) ein davon abweichendes sehr negatives Bild.

(5) Anstieg der Staatsverschuldung mit hohen Risiken: Ungebrochen ist der Trend von Budgetdefiziten und einer stark ansteigenden Staatsverschuldung. Frankreich ist ein notorischer Budget- und Schuldensünder, um es in der moralin-getränkten Sprache deutscher Eurokritiker ausdrücken. Die Budgetdefizite übersteigen seit 2003 chronisch die Marke von 3 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts. Die Staatsverschuldung ist von unter 60% im Jahr 2002 auf rund 96% des BIP angestiegen. In einer längerfristigen Dimension zeigt sich die Dramatik der Entwicklung noch viel stärker:

(Quelle: INSEE)

Frankreichs Staatsverschuldung ist von knapp 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1973 auf 96 Prozent 2016 angestiegen. Von nahezu Null auf Hundert in 43 Jahren, notabene eine Friedenszeit in Europa, mit immer noch respektablen Wachstumsraten des BIP, und einem kräftigen Wachstum der Erwerbstätigenzahl durch die geburtenstarken Jahrgänge. Dieser Anstieg erfolgte nicht kontinuierlich, sondern in Schüben. Hauptsächlich sogar in zwei relativ kurzen Phasen, nämlich 1992-97 und 2008-2014. Der Ablauf war immer der Gleiche. Es gab einen Erdölschock, gefolgt von einer Phase sehr restriktiver Geldpolitik und Bankenkrisen. Im Gefolge von beiden schwächte sich das Wirtschaftswachstum rasant ab, es kam zur Rezession. In und unmittelbar nach der Rezession explodierten die Budgetdefizite, und die Staatsverschuldung stieg steil an. Sie stabilisierte sich dann während einiger Jahre bis zum nächsten solchen Schock. Ich lehne im Übrigen die deutsch geprägte Sprachweise (Budget- und Schuldensünder) vehement ab, weil sie die effektive Kausalität auf den Kopf stellt. Das wird noch zu dokumentieren sein.

Diese Dynamik ist ungebrochen, auf Jahre hinaus. Was zusätzlich wichtig ist: In Frankreich gibt es spezifische latente Risiken, welche die Staatsverschuldung in der weiteren Zukunft noch in eine ganz andere Größenordnung ansteigen lassen könnten. Allerdings gilt diese Aussage nicht nur für Frankreich, sondern genauso auch für Deutschland und eine ganze Reihe anderer Länder. Sie hängen in Frankreich vor allem mit den Kosten des Atomausstiegs zusammen.

(6) Die Ruinen von Frankreichs Atompolitik: Risiken schlummern in der Energieversorgung des Landes. Frankreich steht vor einem Energieproblem. Wie kein anderes Land in Europa oder sogar der ganzen Welt hat Frankreich seit Mitte der 1970er Jahren auf die Atomenergie gesetzt. Französische Atomtechnologie galt als führend. Frankreich hat Jahrzehnte (zu) billiger Energie gehabt. Die Differenz zu Deutschland in Bezug auf die Energiekosten für Unternehmen und Haushalte ist heute riesig. Innerhalb Europas ist Frankreich ein Land mit Anzeichen von Energieverschwendung. So wird in vielen Haushalten die mangelnde Isolation der Häuser und Wohnungen durch Elektroöfen mit viel zu hohem Stromverbrauch kompensiert.

Doch Frankreich wird bald ein Energieproblem der eigenen Art haben. Der Lebenszyklus der Atomkraftwerke neigt sich dem Ende zu, die ersten werden jetzt dann abgeschaltet. Die Produktionskapazität der Kernkraftwerke muss ersetzt werden, ein Unterfangen mit hohen Investitionskosten. Sollten es wieder AKW’s sein, wären diese inzwischen gigantisch. Zudem müssen die bestehenden Kernkraftwerke und der Atommüll entsorgt werden. Wie vielenorts gibt es gar keine oder wenig Rücklagen zum Rückbau der Atomkraftwerke und zur Endlagerung des radioaktiven Atommülls. Die Betreiberin, die staatlich beherrschte Eléctricité de France (EdF), ist heute wie die meisten Versorgungsunternehmen in Europa finanziell ausgehöhlt, fast pleite.

Die mit großen Erwartungen gestartete Deregulierung des Strommarktes droht wie diejenige anderer Sektoren - Banken, Versicherungen, Altersvorsorge - in ein Desaster zu münden. Der Staat und damit der Steuerzahler werden in der Zukunft diese finanzielle Last schultern müssen. Oder die Stromtarife werden steil ansteigen. Oder, die wahrscheinlichste Variante, eine Mischung von beidem wird kommen. Natürlich wird das Ganze, wie überall und in allen Bereichen in Europa und vor allem in der Eurozone, verschleiert und bis zum letzten Moment der Wahrheit hinausgezögert. Gefälligkeitsgutachten verheißen scheinbar günstige Lösungen. Den Scherbenhaufen überlässt man gerne der Nachwelt.

Das alles sind Negativpunkte, und sie erlauben, sich in düsteren Vorahnungen und Szenarien zu ergehen. Frankreich hat, um es ganz klar zu sagen, eine ganz andere Wirtschaftsentwicklung wie die Peripherieländer der Eurozone. Die Parallele ist viel eher mit dem Vereinigten Königreich.

Vor allem die massive Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die langfristige Desindustrialiserung wie auch die jahrzehntelange Investitionsschwäche teilt Frankreich mit dem Vereinigten Königreich. Die Investitionsschwäche datiert wie im Vereinigten Königreich weit vor die Einführung des Euro oder die Finanzkrise von 2008/09 zurück. Die Vernichtung des ländlichen Frankreichs ist durch die europäische Agrarpolitik eher begünstigt denn verhindert worden.

Mit Großbritannien teilt Frankreich die Entwicklung eines hochmodernen Dienstleistungssektors. Spezifisch französisch ist die Situation am Arbeitsmarkt, mit der jahrzehntelangen Jugendarbeitslosigkeit und der strukturell hohen Arbeitslosigkeit von rund 8-10 Prozent seit 30 Jahren. Die französische Atompolitik ist gescheitert. Sie wurde explizit so gestaltet, um mit konkurrenzlos niedrigen Stromtarifen der Industrie Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Doch die Industrie ist trotz unstreitig niedriger Tarife schwer unter die Räder geraten, auch dies eine Parallele zum Vereinigten Königreich.

Dass eine Wahl von Le Pen oder von Mélenchon dem Euro und der Europäischen Union ein Ende bereiten könnte, ist angesichts von deren Wahlprogrammen einsichtig. Wer hingegen glaubt, dass mit der Wahl von Emanuel Macron oder von Francois Fillon der Euro oder die Europäische Union gerettet sein würden, könnte sich ganz gewaltig täuschen. An den Märkten würde es wohl kurzfristig so interpretiert.

Die Probleme liegen jedoch viel tiefer. Sie sind mit dem bisher verfolgten Kurs französischer Regierungen, erst recht mit dem von Deutschland und Europa gepredigten Kurs der Austerität und Strukturanpassung nicht im Entferntesten zu lösen. Die Desindustrialisierung ist Tatsache. Die Industrien sind weg und werden nicht wiederkommen, jedenfalls nicht im Rahmen einer Einheitswährung mit Austeritätspolitik und Negativzinsen als Grundorientierung. Der Verlust an gesamtwirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit ist irreversibel, wenn nicht entscheidende Parameter neu gestellt werden.


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