Die vor kurzem präsentierten Leitlinien der EU für die Verhandlungen mit Großbritannien über den Brexit werden Brüssel in Verlegenheit bringen. Der Vergleich mit den Sanktionen gegen Russland drängt sich auf: Bei den Sanktionen gegen Russland wurde nicht überlegt, wie die Gemeinschaft reagieren soll, wenn Moskau sich nicht beeindrucken lässt und die Krim nicht aufgibt.
Jetzt setzt man die Briten unter Druck und weiß nicht, wie man mit einem Contra Großbritanniens umgehen wird. Ob oder in welchem Ausmaß der Austritt dem Vereinigten Königreich auf Dauer schaden wird, ist derzeit nicht abzuschätzen. Dass aber die Brexit-Verhandlungen mit der von den 27 verbleibenden Staaten beschlossenen Strategie zu einem Sprengsatz für die Union werden müssen, lässt sich bereits erkennen.
London soll zuerst seine Atouts abgeben und sich dann der EU unterwerfen
Die EU erklärt, zuerst müssen die Bedingungen für den Austritt geklärt, erst dann könne anschließend über die künftige Beziehung zwischen Großbritannien und der EU verhandelt werden. Im Klartext bedeutet diese Vorgabe, London soll zuerst alle Atouts aus der Hand geben und sich dann den Brüsseler Bedingungen unterwerfen. Ernsthaft kann man auf diese Weise keine Verhandlungen beginnen, zumal das vermeintlich schwache Großbritannien sich paradoxer Weise in einer Position der Stärke befindet.
Die Überweisungen der EU-Gastarbeiter finanzieren Regionen auf dem Kontinent
So soll London garantieren, dass die derzeitigen Rechte der in Großbritannien arbeitenden EU-Bürger auch nach dem Austritt unverändert gewahrt bleiben. Im Vereinigten Königreich arbeiten mehr als drei Millionen EU-Bürger. Eine wesentliche Rolle spielen die Überweisungen der Gastarbeiter in die Heimatländer, die einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Lebensstandards der Familien leisten. So würde beispielsweise in weiten Landstrichen Polens der Ausfall dieser Gelder katastrophale Folgen haben. Die polnische Regierung könnte eine derartige Entwicklung nicht hinnehmen. Demgegenüber arbeiten knapp eine Million Briten auf dem Kontinent. Brüssel will also ein Zugeständnis von London und nicht umgekehrt.
Für die verbleibenden EU-27 ist Großbritannien ein großer Absatzmarkt
Die EU will bis zu einer Neuregelung der Beziehungen Großbritannien als Drittstaat einstufen. Den britischen Exporteuren wird also der freie Zugang zum Binnenmarkt verwehrt. Dies muss naturgemäß der britischen Wirtschaft schaden. Nur: Die Lieferungen aus der EU übertreffen die britischen Ausfuhren in die EU bei weitem. Gegenseitige Zölle und Handelsschranken würden somit den verbleibenden Mitgliedern großen Schaden zufügen.
Zur Illustration: Deutschland liefert jährlich Waren im Wert von mehr als 90 Milliarden Euro, Großbritannien nach Deutschland weniger als 40 Milliarden Euro. Bei den Niederlanden beträgt die Relation über 40 Milliarden in die eine Richtung und etwas mehr als 20 in die andere. Der Handel mit fast allen EU-Staaten ist für London negativ.
Großbritannien erzielt zwar im Bereich der Dienstleistungen Überschüsse, doch sind diese nicht in der Lage das Minus im Handel auszugleichen: Das gesamte Leistungsbilanzdefizit gegenüber der EU ist von 35 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf derzeit 80 Milliarden Euro im Jahr angestiegen.
Großbritanniens wirtschaftliche Schwäche wird somit in den Verhandlungen zu einem starken Argument. Die Exporteure auf dem Kontinent werden ihren Absatzmarkt auf der Insel verteidigen und sich gegen eine harte Trennung wehren.
Wenn London nicht zahlt, tobt in der EU der totale Streit um das EU-Budget
Lautstark wird vor allem aus Berlin und Paris nach einer Abschlagszahlung der Briten gerufen. Bis vor kurzem war von 60 bis 65 Milliarden Euro die Rede, neuerdings stehen 100 Milliarden zur Debatte. Derzeit trägt London jährlich 14 Milliarden zum EU-Budget bei und nimmt an den verschiedenen Förderungsprogrammen in jährlich wechselnder Höhe teil, ist aber stets Netto-Zahler. Außerdem fallen bei den Importen aus Nicht-EU-Staaten Zölle an, die rund 3 Milliarden Euro jährlich betragen und ebenfalls nach Brüssel fließen.
Diese Mittel ergeben eines der stärkten Atouts für London. Nach derzeit weit verbreiteter Rechtsansicht sollten die EU-Kommission und das EU-Parlament in Abstimmung mit dem EU-Rat einen Vertrag mit London abschließen können. Die nationalen Parlamente wären nicht einzubinden. Weigert sich Großbritannien allerdings die geforderte Abschlagszahlung zu leisten, dann müssten alle 27 Parlamente über die weitere Finanzierung des EU-Budgets entscheiden. Schon jetzt erklären die verbleibenden Mitglieder, dass sie angesichts der eigenen Mittelknappheit nicht bereit sind, den durch den Brexit entstehenden Ausfall auszugleichen.
Aus London kam schon ein klares Nein zu den Geldforderungen, also müssen sich die 27 verbleibenden auf heftige Auseinandersetzungen einstellen: Unweigerlich wird dann nicht nur darüber gestritten, wer wieviel zahlt. Das EU-Budget selbst, also das Kernstück der Brüsseler Politik, kommt auf den Prüfstand. Dieses Thema ist purer Sprengstoff für die EU.
Durchsichtig sind die Motive für die Nennung der geforderten Beträge: Bei 60 bis 65 Milliarden wäre das EU-Budget etwa für weitere fünf Jahre gesichert, also bis zu einem Datum, an dem kaum einer oder eine der heute für den Brexit-Vertrag verantwortlichen Politiker noch im Amt sein wird. Die Summe von 100 Milliarden dürfte der Praxis auf einem Bazar entnommen sein: Man verlangt enorm viel und hofft, sich dann auf weniger, vielleicht auf 60 Milliarden, zu einigen.
Die britische Seite kann ihre Atouts – Gastarbeiter, Außenhandel und Budgetfinanzierung - nicht vorweg aufgeben. Diese Karten ergeben eine gute Ausgangsbasis, um auch für die Zukunft einen vorteilhaften Vertrag aushandeln zu können. Aber nicht nur London muss größtes Interesse haben, den Ausstieg aus der EU und das künftige Verhältnis unter einem zu verhandeln. Auch die EU wäre gut beraten, an die Zukunft zu denken.
Die Steuer-Vermeidung kann nur gemeinsam mit London bekämpft werden
Großbritannien spielt eine zentrale Rolle bei der Vermeidung von Steuern durch internationale Konzerne. Die Bemühungen der EU um eine weltweit gerechte Besteuerung sind zum Scheitern verurteilt, wenn London nur die bisherige Praxis beibehält. Als Nicht-mehr-EU-Mitglied könnten die gegebenen Möglichkeiten sogar ausgebaut werden. Jedenfalls ist zu erwarten, dass, nach einem Austritt ohne entsprechende Lösungen, unweigerlich Milliarden vom Kontinent zur Insel fließen werden.
Wie sehr man sich dieser Möglichkeiten in England bewusst ist, konnte man erst vor wenigen Tagen beobachten. Im Parlament stand ein Steuer-Reform-Gesetz zur Debatte, das auf Druck von Brüssel und der OECD eine Lücke schließen sollte. Knapp vor der Beschlussfassung wurden allerdings 70 Klauseln gestrichen, darunter die entscheidenden für internationale Konzerne. Man müsse über das Thema noch nachdenken.
Die Lücke besteht in dem Umstand, dass Unternehmen, die ihren Sitz nicht im Vereinigten Königreich haben, keine Gewinnsteuern zahlen. Und selbst wenn Firmen Service-Einrichtungen betreiben, so unterliegen nur die Ergebnisse dieser Betriebe der Körperschaftsteuer, nicht aber die Gewinne, die aus den verkauften Waren und Dienstleistungen erwirtschaftet werden. Diese Regelung wäre an sich noch kein Problem, würden die Firmen in ihren Heimatländern Steuern zahlen.
Hier kommen aber die Steueroasen ins Spiel, die zwar dem Vereinigten Königreich angehören, die Königin als Staatsoberhaupt haben, aber autonom agieren. Es sind immerhin neun: Cayman Islands, Bermuda, Jungferninseln als bekannteste, aber auch Anguilla, Montserrat sowie Turks & Caicos bilden so genannte britische Überseegebiete. Dazu kommen Guernsey und Isle of Man, die unmittelbar der Krone unterstehen und rechtlich kein Teil des Vereinigten Königreichs sind.
Die Bedingungen sind nicht überall gleich, weisen aber in die gleiche Richtung. Somit seien die Cayman Islands zur Illustration herangezogen: Auf diesen Inseln gibt es keine Körperschaftsteuer. Das Finanzamt verlangt auch keine Unterlagen mit dem Hinweis, dass keine Steuer zu berechnen ist. Die Gründung einer Firma ist ohne größere Probleme leicht durchzuführen. Die Folge: Cayman Islands gehört zu den führenden Finanzplätzen der Welt, hunderttausende Firmen haben dort ihren Sitz, Versicherungen, Banken, Hedge-Fonds sind in der Hauptstadt George Town gemeldet. Im Zuge der Diskussion über die Bekämpfung der Steuer-Vermeidung erklärten sich die Inseln bereit, mit den Behörden in Europa und in den USA zu kooperieren. Allerdings klingt die Erklärung wenig überzeugend, wenn das lokale Finanzamt von vornherein keine Unterlagen anfordert und daher keine Informationen hat.
Die dritte Säule in diesem System bildet die City of London, die seit dem Mittelalter Privilegien genießt, die im Laufe der Geschichte immer wieder bestätigt und erweitert wurden. Somit stellt die City eine Art Staat im Staat dar und kann in hohem Maße eigenständig agieren. Dies kommt den zahllosen Finanzinstitutionen zugute, die unter Nutzung des britischen Steuerrechts und unter Einschaltung der Steueroasen internationale Netzwerke bilden, die die oft kritisierten, minimalen Steuerleistungen der Großkonzerne ermöglichen.
Diese Steuervermeidung erfolgt somit im Rahmen der Gesetze und kann also nicht als Steuerhinterziehung bezeichnet werden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, die nicht akzeptiert, dass der kleinste Gewerbebetrieb stärker besteuert wird als ein Milliardenunternehmen, hat die britische Regierung sich vage zu einer Korrektur des Systems bekannt. In einem Grundsatzpapier wurde 2016 zu dem Thema Stellung bezogen, aber betont: „This is not tax avoidance, it is simply the way that Corporation Tax works“. (Das ist keine Steuerhinterziehung, das ist schlicht der Weg wie die Körperschaftsteuer funktioniert)
Fährt die EU einen harten Kurs, wird London kaum Konzessionen in der Steuerpolitik machen. Diese Perspektive ergibt sich nicht nur aus der vor wenigen Tagen erfolgten Korrektur der Steuerreform. Als Signal wurde bereits die Körperschaftsteuer von 20 auf 19 Prozent gesenkt.
Ohne EU können einfachere Regeln für Banken und Versicherungen beschlossen werden
Die Daten der Leistungsbilanz zeigen, dass Großbritannien industriell schwach ist, aber im Dienstleistungsbereich punktet. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Finanzsektor, der allerdings in der EU einer lähmenden Regulierung unterliegt. Diese hat dazu geführt, dass der Marktanteil der US-amerikanischen Banken im internationalen Geschäft zulasten der europäischen in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist.
Der Brexit bewirkt, dass Großbritannien in Zukunft eigene Rahmenbedingungen schaffen kann und ohne Zweifel die Banken-Regeln Basel III und die Versicherungs-Bestimmungen Solvency II adaptieren dürfte. Die Institute wären in der Folge konkurrenzfähiger als die Mitbewerber auf dem Kontinent. Es wäre dann – im Widerspruch zu den von Brüssel vertretenen Argumenten ¬ attraktiv, in London eine Bank oder Versicherung anzusiedeln oder zumindest Teile des Geschäfts auf die Insel zu verlagern. Selbstverständlich hat auch die Brüsseler Sicht ihre Berechtigung: Bei einer kompromisslos scharfen Trennung, hätten Banken und Versicherungen Probleme bei der Bearbeitung des EU-Binnenmarkts.
Ohne Kompromisse wird der Brexit für die EU zum Desaster
Welcher Seite eine harte Trennung ohne Kompromisse langfristig den größeren Schaden zufügen würde, ist derzeit nur schwer abzuschätzen. Sicher aber ist, dass die derzeit in Brüssel gepflegte Meinung, der Brexit würde nur Großbritannien treffen und die EU sei bei den Verhandlungen allein in der Position der Stärke, falsch ist.
Der Vergleich mit den Sanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim kommt nicht von ungefähr. Die Maßnahmen der EU belasten die russische Wirtschaft tatsächlich in hohem Maße, immer deutlicher zeigt sich aber, dass die Sanktionen der EU selbst und die russischen Gegenaktionen auch die EU hart treffen.
Ohne eine für Großbritannien wie für die EU tragbare Einigung über
- die Gastarbeiter in UK
- den Außenhandel
- den Dienstleistungsverkehr
- die Finanzierung des EU-Budgets
- die Bekämpfung der Steueroasen
- die Wettbewerbsgleichheit im Finanzsektor
wird der Brexit zum Desaster für Brüssel. Die Machtdemonstrationen der EU-Spitze weisen in Richtung einer kapitalen Selbstbeschädigung der Gemeinschaft. Dass auch Großbritannien leiden wird, kann für überzeugte Europäer kein Trost sein.
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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.