Politik

Labour gegen Tories: Keiner weiß, wer die Renten bezahlen soll

Lesezeit: 15 min
08.06.2017 00:49
Für die nächste britische Regierung ist nicht der EU-Austritt das größte Problem, sondern die Finanzierung der Renten und des Sozialsystems. Überzeugende Lösungen haben weder Labour noch die Konservativen.

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Die Unterhauswahlen am 8. Juni sind die wichtigsten seit Jahrzehnten. Denn die neugewählte Regierung und Parlamentsmehrheit werden der Gesetzgebung des Vereinigten Königreichs für Jahrzehnte den Stempel aufdrücken können. Durch den Austritt aus der Europäischen Union werden viele europäisch geprägte Verfassungsartikel, Gesetze und Verordnungen hinfällig werden. Die neue Regierung wird sehr große Gestaltungsmacht haben.

Was sind die Pläne der Parteien? Die bisher regierenden Konservativen sind die Favoriten für die Wahlen, haben aber in den Wählerumfragen seit Ankündigung der Wahlen einen Großteil ihres Vorsprungs eingebüßt. Das hat mit einem missglückten Wahlkampf der Premierministerin Theresa May zu tun.

In den Wahlkampf sind die Konservativen zunächst mit einem Programm für einen harten ‚Brexit‘ gezogen. Sie wollen einen klaren Bruch mit der Europäischen Union, mit allen ihren Vorgaben und all ihren Institutionen. Priorität wird zunächst auf die Begrenzung der Einwanderung gelegt. Die Einwanderung soll auf weniger als 100.000 Personen pro Jahr begrenzt werden. Dieses Ziel ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Als Innenministerin in der Regierung Cameron hatte Theresa May von 2010 bis 2016 jedes Jahr ähnliche Prognosen oder Vorsätze veröffentlicht. Sie wurden immer deutlich verfehlt oder auch übertroffen.

Mit der Versteifung auf die völlige Abschaffung der Personenfreizügigkeit ist unweigerlich der Zugang zum Europäischen Binnenmarkt gefährdet. Denn in allen bisherigen Modellen der EU für die Partizipation am Binnenmarkt ist die unbeschränkte Personenfreizügigkeit ein integraler Bestandteil. Die Premierministerin hat angesichts dieser Ausgangslage eine sehr harte Haltung signalisiert. Für sie gilt, dass kein Abkommen besser als ein schlechtes Abkommen sei.

Auch in Bezug auf die Austrittszahlungen wollen die Konservativen hart bleiben. Den Vogel hat wie immer Außenminister Boris Johnson abgeschossen, der sogar davon sprach, die Union müsste Großbritannien für den Austritt entschädigen. Damit hat er in Brüssel für Heiterkeit gesorgt

Obwohl die Abstimmung vor einem Jahr das Land enorm polarisiert hat, ist die Umsetzung des Brexit nicht das Hauptthema der Wahlen. Der Fokus liegt vielmehr auf der Innenpolitik. Die konservative Premierministerin will nicht nur einen Bruch mit der Europäischen Union, sondern in gewisser Weise auch mit dem Thatcherismus. Sie will die Nation einen und hat dafür starke Worte gewählt. So will sie übertriebenem Individualismus ein Ende bereiten. Parallel dazu will sie eine Industriepolitik, welche dem Rückgang der Industrie begegnet.

Sozialpolitisch haben einige spezifische Punkte aus dem Programm der Konservativen im Wahlkampf für Aufsehen gesorgt. So will die Premierministerin die kostenlose Mittagsverpflegung für eine Million Schüler abschaffen und nur für einkommensschwache Familien beibehalten. Mittel- und selbstverständlich Oberklassekinder wären inskünftig ausgeschlossen respektive müssten dafür bezahlen. Dafür will sie das Morgenessen der Schüler subventionieren. Auf der gleichen Ebene ist auch die Abschaffung der Winter-Heizungszulagen, was pro Haushalt ungefähr 300 Pfund ausmacht. Nur in Schottland soll die Zulage beibehalten werden, weil angeblich dort das Klima viel rauer sei.

Den größten Effekt hatte aber die Ankündigung, dass künftig die Pensionierten selbst für die Kosten der Pflege aufkommen sollen – dies aber in einer besonderen Form. Der Staat würde die Pflegekosten vorschießen. Die Betroffenen könnten in ihren Häusern oder Wohnungen bleiben. Nach ihrem Ableben würde der Staat dann im Falle von Immobilienbesitz auf das Haus oder die Wohnung zurückgreifen, dieses konfiszieren und den Erlös einkassieren. Im Kern ist dies nichts anderes als eine hohe Erbschaftssteuer für die betroffenen Nachfahren, die als ‚dementia tax‘ prompt eine süffige, aber verengte Formulierung im Wahlkampf erhalten hat. Klar, dass dieser Punkt einen Sturm der Entrüstung selbst oder gerade in der Konservativen Partei ausgelöst hat. Die Premierministerin sah sich darauf zur Korrektur veranlasst, dass es eine Obergrenze für diese Form einer Erbschaftssteuer geben würde, ohne diese Grenze zu benennen. Die Kehrtwenden der Premierministerin kamen in der Öffentlichkeit gar nicht gut an. Sie wurden entweder als unehrlich oder opportunistisch empfunden.

Dieser sozialpolitische Teil lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das konservative Programm ist inkohärent. Das Grundproblem der britischen Wirtschaft, neben dem enormen Blutzoll in der Wettbewerbsfähigkeit, ist wie anderswo auch die Alterung der Gesellschaft. Die Demografie verschlechtert sich in Großbritannien fast schon wie in Deutschland rapide. Ohne Immigration, ohne Zunahme der Beschäftigung durch qualifizierte Einwanderer, lässt sich der übriggebliebene Wohlfahrtsstaat nicht finanzieren. Die Relation zwischen Leistungsempfängern und Beitragszahlen bei Steuern und Sozialversicherungen wird sich sonst dramatisch verschlechtern. Die Immigration quantitativ eng zu begrenzen, mag eine Anpassung an die aktuelle Grundstimmung im Vereinigten Königreich sein – vorausschauend ist es nicht. Wichtiger wäre die Immigration steuern zu können. Die Lohndrückerei durch billige Ausländer einerseits und die Inbesitznahme Londons durch reiche Ausländer andererseits müssten unterbunden werden. Vor allem müssten letztere anständig Steuern zahlen, statt noch von einem breiten Arsenal von Steuerschlupflöchern profitieren zu können. Doch davon ist bei den Tories keine Rede.

Die Einschränkung der Wohlfahrts-Leistungen wird so zwingend, wenn auf der Einnahmenseite nichts getan wird. Aber was und wie es getan wird, ist wiederum höchst diskutabel. Vor allem die Besteuerung des Vermögens bietet dafür Anschauungsunterricht. Im Prinzip ist es nur ehrlich, was May der Bevölkerung im Wahlkampf offenbart hat: Dass nämlich für die Pflegekosten in einer alternden Gesellschaft nicht genügend oder überhaupt kein Geld vorhanden ist. Anders als Donald Trump oder die Republikaner im Kongress lügt sie nichts vor. Diese hatten vor den Wahlen behauptet, sie würden eine Alternative zur Krankenversicherung ‚Obamacare‘ bieten, die umfassende Versicherung enthalte, billiger und besser sei. Im konkreten Vorschlag der Republikaner im Repräsentantenhaus werden rund 23 Millionen von der Versicherung ausgeschlossen, zudem die Unterstützungszahlungen für viele einkommensschwache Haushalte (Medicaid) drastisch gekürzt, und außerdem die Kosten für viele Versicherte angehoben.

Solches ist bei Mays Vorschlag nicht geplant. Die einkommensschwachen Haushalte würden bei der Altenpflege effektiv weiter unterstützt werden. Hingegen würde die Mittel- und Oberklasse zur Bezahlung der Kosten herangezogen – allerdings in völlig unterschiedlichem Ausmaß. Zunächst wären diejenigen betroffen, bei denen die zu Pflegenden über Eigentumswohnungen oder Häuser verfügen. Dann würden nur diejenigen Erben zahlen müssen, bei welchen die Alten effektiv Pflegeleistungen benötigen und beziehen. Konkret würde dies in vielen Fällen bedeuten, dass genau diejenigen Familien bestraft werden, welche bereits als Personen einen großen Einsatz für ihre Eltern erbringen. Es wäre in einem gewissen Sinne eine doppelte Bestrafung. Schließlich ist die Strafe sehr ungleich, weil die Vermögensverhältnisse ungleich sind. Für viele Familien ist Wohneigentum die hauptsächliche Form von Vermögen und Anwartschaft auf ein Erbe. Die Wohnungspreise sind im Vereinigten Königreich immens angestiegen in den letzten 25 Jahren. Die Erben der zu Pflegenden würden so den großen Teil ihres anwartschaftlichen Vermögens verlieren. Für wirklich reiche Leute sind die Pflegekosten der Eltern kein Problem. Sie müssten auf nichts verzichten. Im Kern ist die Idee der zusätzlichen Besteuerung von Wohneigentum nicht falsch, die konkrete Form aber wenig durchdacht. Diese Steuer könnte locker umgangen werden, indem die Eltern die Häuser bereits während der Pensionierung oder auch erst kurz vor dem Tod auf die Kinder oder Erben übertragen.

In Bezug auf die Wirtschaftspolitik steht neben dem Brexit die Finanzpolitik im Vordergrund. Auch dabei hat Premierministerin May nicht alle Karten auf den Tisch gelegt, aber die Richtung ist klar. Zwar hat sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, klassisches Instrument der Konservativen in der Vergangenheit, kategorisch ausgeschlossen. Die Mehrwertsteuer gilt als unsozial, weil sie einkommensschwächere Haushalte, die alles Einkommen für den laufenden Konsum ausgeben müssen, überproportional belastet. Dagegen hat sie eine Erhöhung der Einkommenssteuer offen gelassen. In der Realität bedeutet dies, dass eine solche wohl geplant ist. Auf der Ausgabenseite ist für weitere fünf Jahre Austerität angesagt. Das bedeutet, dass in Bezug auf Infrastruktur, Erziehungswesen und Gesundheitswesen (National Health Service, kurz NHS) keine größeren Ausgaben geplant sind – eher das Gegenteil. Bei den Unternehmenssteuern ist eine leichte Reduktion der offiziellen Steuersätze bis 2021 auf 17 Prozent vorgesehen.

Wesentliche Neuerungen dagegen würde es bei der Industriepolitik geben. Die Grundlagen dafür sind im Januar 2017 in einem Weißbuch (engl. ‚green book‘) der Regierung May dargelegt worden. Seit Margaret Thatcher war die konservative Industriepolitik von einer Logik oder Ideologie des privaten Sektors dominiert: von Privatisierung, Deregulierung und Freihandel. Nun soll der Staat direkt spezifische Sektoren unterstützen, die als wesentlich für die Wettbewerbsfähigkeit angesehen werden: Auto/emissionsfreies Fahren, Pharma- und Medizintechnik (life sciences), Flugzeugbau und Atomkraft. Dazu soll die Digitalisierung der Wirtschaft, welche viele oder alle Bereiche der Wirtschaft betrifft, mehrstufig unterstützt werden. Robotik, Künstliche Intelligenz, 5-G Internet und smarte Energietechnik sollen mit Forschungsbeiträgen unterstützt werden. Regionalpolitisch soll vor allem der ehedem industrielle Norden unterstützt werden. Die Staatshilfen können so hoch angesetzt werden, wie sie in der Europäischen Union nicht durchkämen. Bezüglich der Atomkraft hat May allerdings – übrigens unter dem Druck Chinas – eine Kehrtwende vollzogen. Zunächst hatte sie das unter Vorgänger Cameron geplante Atomkraftwerk Hinckley noch verworfen.

Wie sind das Programm der Konservativen und wie die Performance von Premierministerin Theresa May einzuschätzen? Die Entscheidung für einen harten Brexit wird von den meisten Kommentatoren als Fehler und als gravierend angesehen. Sie ist es aber nicht, sondern reflektiert wohl eine sehr gute Kenntnis der Handels- und Kapitalverkehrs-Dossiers. Das ist im Übrigen einer derjenigen Punkte, wo britische Expertise seit jeher herausragend ist. Hierzu würde ich keine Kritik anbringen, im Gegensatz zu fast allen Kommentatoren.

Ansonsten ist fast alles schief gelaufen, was falsch laufen kann. Schon die Ansetzung von Wahlen war problematisch. Die Premierministerin hatte seit dem Volksentscheid bei rund 6 Gelegenheiten klargestellt, dass es keine vorgezogenen Wahlen geben würde- zuletzt im März 2017. Einen Monat später hat sie aus heiterem Himmel das Gegenteil gemacht – und diese sehr kurzfristig angesetzt. Verschiedene Kommentatoren haben sie deshalb als wankelmütig charakterisiert. Wahrscheinlich ist dies eher als kaltblütiger Machtzynismus anzusehen. Nichts erkennen lassen, das Gegenteil von dem andeuten, was effektiv geplant ist, den politischen Gegner auf diese Weise einlullen und dann kurzfristig zuschlagen. Vertrauenserweckend ist das für Wähler nicht.

Nur ist das Manöver misslungen. Das innenpolitische Programm der Konservativen ist wenig durchdacht und ausgearbeitet. Es ist nicht wirklich ‚fürsorglicher Konservativismus‘, wie von May versprochen. Es ist eigentlich eine verpasste Chance für einen Aufbruch. Wirtschaftspolitisch ist nicht einzusehen, wie die britische Wirtschaft mit diesem Programm aus ihrer Stagnation und der Situation eskalierender Wettbewerbsverluste seit über einem Jahrzehnt herauskommen soll. Die Industriepolitik ist, nach Jahrzehnten kompletter Ignoranz, zu kleinmütig angelegt, um eine wirkliche Kehrtwende zu erzwingen. Die Stoßrichtung betrifft einige Sektoren der Spitzentechnologie. Insofern wäre sie – abgesehen von der Fokussierung auf Atomenergie – richtig, die angekündigten Summen aber sind zu gering. Klotzen, nicht kleckern, wenn eine Wüste wieder ergrünen soll. Neben der Forschungsförderung für Spitzenforschung müsste eine breit angelegte Weiterbildungs- und Qualifikations-Initative für die Maße der Beschäftigten erfolgen sowie ein großes, langfristig angelegtes Infrastruktur-Programm. Schließlich müsste der größte Mangel der britischen Wirtschaft, die unterfinanzierten Klein- und Mittelbetriebe angegangen werden. Die geplante Finanzpolitik ist eher ein Verwalten des Missstandes – mit wenig Perspektive auf mittelfristige Besserung. Warum bei Nullzinsen für ein weiteres Jahrzehnt gespart werden soll, ist makroökonomisch nicht einzusehen. Die Sozialpolitik geht sogar in die völlig falsche Richtung. Vor allem der Fokus auf die enge quantitative Begrenzung statt auf die bewusste Steuerung der Immigration ist restlos verfehlt – dies sowohl für Wettbewerbsfähigkeit wie für die Finanzierung der Vorsorgesysteme. Und die Alten sowie ihre potentiellen Erben, ihre Kernwählerschaft, mit einem unausgegorenen Pflegefinanzierung-Konzept kopfscheu zu machen, ist politisch unklug.

Der größte Missgriff von Premierministerin May war aber, hauptsächlich eine personalisierte Negativkampagne gegen den Spitzenkandidaten und Parteichef von Labour Jeremy Corbyn zu führen. Sie charakterisierte ihn als ungeeignet für den Posten, von den Parlamentariern der eigenen Partei abgelehnt und hob dagegen ihre eigene ‚starke und stabile‘ Führung hervor. Diese Personalisierung hat im Lichte der Terroranschläge der letzten Wochen und Tage eine heftige Gegenreaktion in der Öffentlichkeit ausgelöst. Diese Gegenreaktion könnte sie früher oder später den Job als Premierministerin kosten und im schlimmsten Fall den Konservativen ein ‚hung parliament‘ bescheren.

Ihr persönlicher Leistungsausweis als Innenministerin in der Regierung Cameron ist unter Beschuss geraten – und zwar von höchsten Polizeioffizieren und selbst vom Strategie-Chef von David Cameron, Steve Hilton. Dieser bezeichnete sie als persönlich verantwortlich für die Mordanschläge und verlangte ihren sofortigen Rücktritt. May hatte als Innenministerin 20.000 Polizeistellen (von 140.000) abgebaut – gegen den expliziten Rat höchster Polizeioffiziere. Der Abbau von einfachen Polizisten in den Quartieren, im Volksmund ‚bobbies’ genannt, wird von der Polizei als wichtigster Grund dafür angesehen, dass Informationen aus der Bevölkerung über Gefährde nicht mehr aufgenommen werden können.

Durch die unablässigen Angriffe auf ihn persönlich hat May Corbyn in der Öffentlichkeit unfreiwillig aufgebaut und zu ungeahnter politischer Statur verholfen, während ihr eigener Leistungsausweis wie auch ihr sicherheitspolitisches Urteilsvermögen als angeschlagen erscheinen. May hatte sowohl den Irak- als auch den Libyen-Krieg vorbehaltlos unterstützt – wie auch eine Syrien-Intervention. Zu Fehleinschätzungen kommen häufige und brüske Richtungswechsel hinzu, etwa bei der Pflegefinanzierung oder bei der Atomenergie. Das ist das Gegenteil von ‚starker und stabiler Führung‘. Schließlich hat die Weigerung, im Fernsehen in Debatten mit Corbyn aufzutreten, eher Unsicherheit verbreitet. Vor allem weil sie sich zusätzlich als wenig sattelfest erwiesen hat, wenn sie aufgetreten ist.

Angesichts des Wahlsystems und des Vorsprungs der Konservativen in den Umfragen könnte es überflüssig erscheinen, das Labour-Wahlprogramm kurz zusammenzufassen. Doch die Wahlen stellen, was auch immer der definitive Wahlausgang sein wird, einen erheblichen Erfolg für die Labour-Partei dar. Ihre Umfragewerte sind seit der Ankündigung der Wahlen am 18. April steil in die Höhe gegangen. Zudem gibt es eine allerdings kleine Rest-Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg von Labour. Dies hat mit der Demografie und dem Wählerverhalten zu tun.

Die Unterschiede zwischen Tories und Labour sind, anders als früher, nicht in erster Linie durch die soziale Verankerung in der Bevölkerung begründet. Großbritannien war und ist eine Klassengesellschaft, aber heute sind beide Parteien ungefähr gleich in den wichtigen sozialen Wählergruppen verankert. Die Daten der beiden folgenden Grafiken beruhen auf Umfragen vor der Ankündigung der Wahlen, sind aber nach wie vor repräsentativ.

Was die beiden Parteien hingegen fundamental unterscheidet, sind die Präferenzen gemäß Altersgruppen. Bei den Jungwählern liegt Labour sogar vorne, bei den 25- bis 49-Jährigen liegen beide Parteien ungefähr gleichauf. Bei älteren Beschäftigten und vor allem bei den Pensionierten trumpfen die Konservativen auf – bei den Pensionierten sogar ganz gewaltig. Dies ist auch deshalb wichtig, weil das Wählerverhalten dieser Altersgruppen erfahrungsgemäß unterschiedlich ist. Normalerweise gehen ältere Wähler sehr diszipliniert zur Urne, während Jüngere hohe Abstentionsraten aufweisen. An der Wählerdisziplin der Alten ist auch diesmal nicht zu zweifeln. Eine gewisse Unsicherheit gibt es darüber, ob die unerwartete Erbschaftssteuer (‚dementia tax‘) von Theresa May ihre Wahlpräferenzen effektiv verändert. Die große Unbekannte ist die junge Wählerschaft. Mit Labour haben sie eine Chance, auch nach einem Brexit Auslanderfahrung im europäischen Ausland zu sammeln – etwa eine Studiengelegenheit oder Beschäftigung zu finden. Für diese Generation ist dies die letzte Chance. Bei einem Wahlsieg der Konservativen mit ihrer Politik des harten Brexit käme diese Gelegenheit wohl für Jahrzehnte nicht mehr. Dies könnte ihr Wahlverhalten erheblich beeinflussen. Nur bei sehr hoher Wählerbeteiligung der jungen Wähler und gleichzeitig bei einer merklichen Präferenzverschiebung bei Alten dürfte Labour effektiv eine Chance auf eine Regierungsbildung haben.

Zum steilen Anstieg der Umfragewerte für Labour haben neben den Fehlern der Konservativen und ihrer Premierministerin drei Faktoren beigetragen. Erstens hat die Partei ein Wahlkampf-Manifest verabschiedet, das auf Beachtung gestoßen und diskutiert worden ist. Zweitens hat der von der Presse wie von den eigenen Abgeordneten, mehrheitlich New Labour Blairisten, angegriffene Parteichef Corbyn in den Debatten und Auftritten überraschend gut abgeschnitten. Drittens gibt es eine soziale Basis für diesen Erfolg. Seit der Wahl Corbyns zum Parteichef vor zwei Jahren hat sich die Mitgliederzahl der Partei verdoppelt: Sie ist von rund 250.000 auf rund 500.000 angestiegen. In der heutigen Zeit, wo klassische Volksparteien gleich welcher Couleur weltweit unter akutem Mitgliederschwund leiden, ist das eine ungewöhnliche Entwicklung. Viele der neuen Parteimitglieder sind junge Aktivisten, welche eben die Wahlkampagne aktiv getragen haben.

Das Labour-Manifest kann nicht mit einem Wort charakterisiert werden, es enthält verschiedene Schwerpunkte. Einer betrifft Investitionen. Anders als die Konservativen ist Labour bereit, ein wirklich groß angelegtes Infrastruktur-Investitionsprogramm aufzulegen. Dies geschieht mit einem 250 Milliarden Pfund schweren Nationalen Transformation-Fonds, einer Art Investitionsbank. Aus ihm sollen über 10 Jahre hinweg Infrastruktur-Investitionen im Transport-Bereich, bei Energieversorgern, im Kommunikations-Sektor sowie wissenschaftliche Forschung und staatliche Investitionen im Wohnungsbau gespeist werden. Klar ist, dass es für all diese Bereiche hohen Bedarf gibt. Das Vereinigte Königreich ist ein Infrastruktur-Museum. Die heutige Infrastruktur ist in mancherlei Hinsicht ein Rückblick auf 200 Jahre Industrialisierung und industrielle Blütezeit. Sie ist weit hinter moderne Standards zurückgefallen. In diesem Zusammenhang sollen verschiedene Sektoren wieder verstaatlicht werden, vor allem die Eisenbahnen (British Rail), dann in jeder Region mindestens ein großer Anbieter unter den Wasserwerken sowie die Royal Mail, die Post, und Energieversorger.

Die Privatisierung dieser Infrastrukturen unter der Regierung von Thatcher wie von Tony Blair war ein gigantischer Fehlschlag. Großbritannien war das erste Land mit Eisenbahnen. Heute hinkt es um Generationen hinter den Standards Chinas her, welches vor wenigen Jahrzehnten noch ein Eisenbahnsystem aus dem 19. Jahrhundert hatte. Die verschiedenen privaten Eisenbahngesellschaften im Vereinigten Königreich ermangeln jeglicher Koordination und Gesamtplanung. Darum hat man sie historisch praktisch überall verstaatlicht. Die Renationalisierung macht außerdem Sinn, weil die Bahnnetze bereits staatlich sind und die Lizenzen für die privaten Bahnbetreiber bald verfallen. Im Unterschied zur Nachkriegszeit müsste dann aber auch massiv in den öffentlichen Verkehr investiert werden. Bei den Wasserwerken betreffen die Klagen eher monopolistisch oder oligopolistisch überhöhte Tarife, zu geringe Investitionen und zu hohe Gewinnabschöpfung.

Das hätte man wahrscheinlich auch mit einer Veränderung der Gesetzgebung, welche die Gewinne abschöpft und die Preise festlegt, weniger aufwendig haben können. Die Verstaatlichung der Royal Mail leuchtet strategisch weniger ein. Die Post wird wohl durch das Internet viel von ihrem Reiz verlieren. Das Risiko besteht immerhin, dass wie in der Vergangenheit zu viel in alte Sektoren investiert wird, die von der technologischen Entwicklung überrollt werden. Die staatliche Finanzierung des sozialen Wohnungsbaues ist hingegen zu begrüßen. Denn in den letzten Jahrzehnten ist absolut gesehen viel zu wenig gebaut worden – und zudem viel zu teuer. Es gibt aufgrund der Verarmung weiter Bevölkerungskreise absolut den Bedarf nach billigem Wohnraum. Die Abschaffung des sozialen Wohnungsbaues war wie in vielen anderen Ländern ein Fehler mit gravierenden Folgen.

Bleibt das Fragezeichen der Finanzierung. Die Idee einer staatlichen Investitionsbank ist absolut korrekt. Das private Bankensystem hat über die letzten 20 Jahre restlos versagt, eine volkswirtschaftlich vernünftige Allokation der Mittel hervorzubringen. Viel zu viel ist in die Kreditvergabe für den privaten Wohnungskauf mit dem Effekt einer unglaublichen Inflationierung der Vermögenswerte vergeben worden, ohne dass wirklich viel gebaut wurde. Zudem wurde der schuldenfinanzierte Konsum gewaltig durch Eigenkapitalentnahmen aus dem Wohnungsbesitz angetrieben. Die Haushalte haben immer wieder die Belehnung an die gestiegenen Immobilienpreise angepasst und somit Konsumausgaben finanziert. Schließlich wurden zwar Unternehmens-Übernahmen jeglicher Größenordnung finanziert, aber wenig produktive Investitionen. Vor allem kleine und mittlere Betriebe waren oft ohne Zugang zum Kreditfenster. Angesichts der niedrigen Zinsen und des Anlagenotstandes ist die Finanzierung auf absehbare Zukunft kein Problem.

Der zweite Teil des Programmes betrifft die Umverteilung. Hier kann das Programm, wenn man bösartig ist, als klassisches sozialdemokratisches ‚Tax and spend‘-Programm bezeichnet werden. Alternativ kann man formulieren, dass anders als im Troy-Programm massiv in Bildung und Weiterbildung investiert wird. Was man dem Programm nicht vorwerfen kann, dass es nicht ausfinanziert ist und etwa auf rosigen Projektionen beruht. Es ist effektiv spitz durchkalkuliert. Im Kern sollen durchaus sinnvolle Ausgaben finanziert werden – Schulen, das staatliche Gesundheitswesen (‚National Health Service‘), leicht erhöhte Ausgaben für die öffentlichen Angestellten, deren Bezahlung seit Jahren hinterherhinkt. Auch sollen die drastisch erhöhten Universitätsgebühren wieder abgeschafft werden. Finanziert werden soll das durch höhere Einkommens- und Unternehmenssteuern.

Und hier beginnt das Problem. Denn Labour will die Steuersätze anheben. Das soll auf Niveaus geschehen, die mindestens bei den Einkommenssteuern als prohibitiv bezeichnet werden können. Bereits bei 80.000 Pfund Jahreseinkommen würde der Grenzsteuersatz auf 45 Prozent ansteigen, bei 123.000 Pfund auf 50 Prozent. Das Problem aber ist, dass im Vereinigten Königreich durch unzählige Steuerschlupflöcher ganz legal Steuern vermieden werden können. Diese gälte es effektiv zu schließen, denn sonst werden die wirklich Reichen gar nicht erfasst. Ganz besonders trifft dies für die reichen Ausländer zu, welche noch über legalen Status praktisch steuerbefreit agieren können. Davon ist, offenbar mangels Sophistizierung, aber keine Rede. Gleiches gilt für die Unternehmenssteuern. Im Moment, wo das Königreich aus der Europäischen Union ausscheidet, will Labour die Gewinnsteuersätze für Unternehmen deutlich auf 26 Porzent anheben. Damit würde sich Großbritannien nicht ins Abseits manövrieren, aber sicher einen Steuervorteil aufgeben. Auch bei den Unternehmen wäre viel wichtiger, die zahllosen Steuerschlupflöcher zu schließen. Gerade international tätige Gesellschaften können ihre Gewinne problemlos in Steuerparadiese verschieben.

So zahlen gemäß einer 2016 veröffentlichten Untersuchung 6 der 10 größten Unternehmen im FTSE 100 keine Steuern in Großbritannien. Da helfen auch höhere Steuersätze nicht. Auch bei den Ausgaben könnte man durchaus differenzieren. Warum sollen Studenten aus wohlhabenden Familien gratis studieren können, erst recht Ausländer und häufig Kinder von Reichen oder Superreichen aus Schwellenländern? Sicher ist die heute gültige Jahresgebühr von 9.000 Pfund prohibitiv für Jugendliche aus einkommensschwachen Schichten. Sie gälte es eher mit Stipendien zu unterstützen, als gleich die Gebühren für alle abzuschaffen. Das Problem ist also zu viel Gießkanne, zu wenig differenzierte Steuerpolitik. Erhöhte Steuereinnahmen sind absolut notwendig, aber nicht primär über höhere Standardsätze.

Der dritte Programmteil betrifft die Immigration. Labour verzichtet offen auf eine quantitative Begrenzung und begeht so den Fehler nicht, den die Konservativen machen. Doch der Ansatz ist eher, eine Lösung mit der Europäischen Union zu finden, als eine wirkliche gesteuerte Immigrationspolitik zu forcieren.

Der vierte Aspekt betrifft die Industriepolitik beziehungsweise den Mangel einer solchen. Das ist an sich erstaunlich. In der Vergangenheit (bis 1979) waren Labour-Regierungen immer mit Projekten beschäftigt, bestimmte Sektoren zu fördern. Dabei haben sie sich oft die Finger verbrannt und etwa in überteuerte (Concorde) oder nicht nachhaltige (Austin) Projekte investiert. Von daher ist an sich eine Zurückhaltung verständlich.

Doch heute ist die britische Industrie so am Boden, dass man nicht einfach mit den Marktkräften rechnen kann. Was als Kritik am konservativen Manifest formuliert wurde, trifft erst recht auf das Labour-Manifest zu. Es braucht ganz klar staatliche Anschubhilfen, um bestimmte Kernsektoren zu fördern. Mit dem Labour-Programm ist nicht klar, wie die verlorene Wettbewerbsfähigkeit wieder hergestellt werden soll. Allein mit einer verbesserten Infrastruktur, mit besseren Schulen und Universitäten, Weiterbildung sowie mit einem sanften Brexit mit Marktzugang in Europa wird das nichts.

Einer der wichtigsten Punkte wird weggelassen. Es gibt ein ganz klares Marktversagen - nicht nur im Vereinigten Königreich. Die Londoner City finanziert keine produktive Aktivität von Klein- und Mittelbetrieben sowie von Start-ups, sondern Großunternehmen, die sich verschulden und erhöhte Dividenden zahlen. Danach lechzen die Anleger im dauerhaften Anlagenotstand. Durch die Finanzkrise beziehungsweise die darauf folgenden Rettungsaktionen ist der britische Staat in den Besitz von Großbanken gekommen. Diese sollten klar verpflichtet werden, als Mission Start-ups, Klein- und Mittelbetriebe mit Investitionskredit zu versorgen, aber auch Großunternehmen über den Rahmen von M&A-Transaktionen hinaus zu finanzieren. Und dies nicht nur in ein paar Branchen der Spitzentechnologie, sondern breit basiert. Sektoren wie die Hotellerie und der Tourismus können nur aufblühen, wenn der Standard massiv angehoben wird. Auf diese Weise lässt sich der breit basierte Produktivitätsrückgang der britischen Wirtschaft umkehren und ein Trend zu verstärktem Wirtschaftswachstum erreichen.

Summa summarum enthält das Labour Programm einige attraktive Punkte, hat aber auch erhebliche Schwächen. Der Fokus auf staatliche Infrastrukturen ist richtig, auch der Ansatz, mit großem Geschütz und einer Investitionsbank aufzuwarten. Die Verschiebung der Einkommen von den sehr gut Verdienenden und Reichen zu Investitionen in Grundbildung, Forschung und Weiterbildung ist ebenfalls korrekt. Die Steuerpolitik hingegen müsste viel sophistizierter ausgestaltet werden und nicht primär mit einfallslosen Erhöhungen der Standardsätze. Schließlich ermangelt es Labour an einem industriepolitischen Konzept. Vor allem das, was auf der Hand liegt, nämlich die verstaatlichten Großbanken als Kreditgeber für Start-ups sowie Klein- und Mittelbetriebe zu verwenden. Das Positive am Labour-Konzept ist, dass es die Scheuklappen der Konservativen und von New Labour abgeworfen hat. Es ist aber unzureichend, eine nachhaltige Wiederbelebung der enorm hinuntergekommenen Industrie und der gesamten Wirtschaft hervorzubringen.

Sowohl eine konservative wie eine Labour-Regierung würden bei einem Wahlsieg zunächst mit der enormen Komplexität eines Brexit beschäftigt sein. Beide haben einzelne Punkte in ihrem Programm, die in eine richtige Richtung zielen. Die Demenzsteuer dürfte rasch in der Versenkung verschwinden. Angesichts der Herkules-Aufgabe Brexit ist zu befürchten, dass die Wahlprogramme rasch vergessen werden und dass noch mehr untergeht, was im Wahlprogramm überhaupt nicht enthalten ist. Man kann sich immer täuschen. Vielleicht legt der Austritt kreative Kräfte frei, die bisher nicht sichtbar sind.

Politisch haben die Wahlen eine Situation hervorgebracht, wo Erfolge eher unwahrscheinlich erscheinen. Die Premierministerin wird angeschlagen bleiben, auch wenn sie die Wahlen gewinnt. Treue Seelen wie Johnson, Gove und Fox werden bereits die Messer wetzen, um bei passender Gelegenheit zuzustoßen. Ein Labour-Wahlsieg ist unwahrscheinlich. Selbst wenn er zustande kommen sollte, wird der Parteichef mit einer Unterhausfraktion zu kämpfen haben, die ihn ablehnt – anders als die Parteimitglieder und die Wählerinnen und Wähler.


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