Aleppo, November 2016. Der Zorn der Aleppiner Geschäftsleute auf den Nachbarn Türkei ist groß. Betritt man die Industriekammer in der nordsyrischen Stadt, überquert man zunächst ein auf dem Boden gespanntes Transparent, das den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zeigt. Täglich laufen viele Schuhsohlen über den „neu-osmanischen Sultan“, wie Erdogan in Syrien auch oft genannt wird. Zeigt man in der arabischen Welt mit seinen Schuhsohlen auf jemanden, tritt oder wirft man gar damit, ist das ein starkes Zeichen für Verachtung.
Grund für die Verachtung, die Erdogan am Eingang der Aleppiner Industriekammer entgegengebracht wird, ist die Rolle die die Türkei bei der Plünderung und Zerstörung der Industrie von Aleppo gespielt hat. Die Aleppiner Geschäftsleute sind von der Verantwortung der Türkei überzeugt und haben eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen das Nachbarland eingereicht.
Besonders hart getroffen hat es die Industriezone Scheich Najjar, rund 20 km nordöstlich von Aleppo. Mit mehr als 900 Fabriken im Textil- und Nahrungsmittelbereich, chemischer und medizinischer Herstellung, Plastik, Eisen- und Stahlprodukten war Scheich Najjar das Flaggschiff der syrischen Wirtschaft.
Im Dezember 2012 marschierten die Kämpfer dort ein und übernahmen etwa 80 Prozent der Fabrikanlagen. Gezielt wurde geplündert, Maschinen, Fahrzeuge, Computer und Wertstoffe wurden in die Türkei abtransportiert. „Die Grenze war ungeschützt, heute ist das doch in aller Welt bekannt. Die Kämpfer konnten über die Grenze aus der Türkei kommen und wieder zurückgehen, niemand hat sie gestört, niemand hat sie aufgehalten.“
Das Wissen über den Wert von Maschinen besorgten sich die Diebe von mitgebrachten Maschinenbauexperten. Manche dieser Ingenieure kamen aus türkischen Firmen, die zuvor mit den syrischen Geschäftspartnern kooperiert hatten. „Es wurde sehr gezielt gestohlen“, sagt Bassel Nasri, stellvertretender Präsident der Industrie- und Handelskammer in Aleppo. „In manchen Fabriken wurden nicht die Maschinen, sondern die Computer gestohlen, in denen die gesamte Produktion einprogrammiert war.“ Das Diebesgut sei nach Gaziantep, Kilis und in die Provinz Hatay verschleppt worden. Die Aleppiner Geschäftsleute haben Beweise gesammelt, umfangreich dokumentiert und dem Gericht vorgelegt. Bisher sei allerdings noch nichts geschehen, räumt Nasri ein. „Die Vorgänge bei Gericht verlaufen sehr langsam.“
„Die Industriezone Scheich Najjar war vor dem Krieg eine von 17 Industriezonen in Aleppo“, sagt Bassel Nasri, der das Komitee für Betriebe der Kunststoff- und Plastikindustrie bei der Kammer leitet. „Nageln Sie mich nicht auf den Dollar genau fest, aber jeden Morgen wurden allein aus Scheich Najjar Waren im Wert von rund 5 Millionen US-Dollar in alle Welt exportiert.
Früher seien die Beziehungen zur Türkei „fast perfekt“ gewesen, erinnert er sich. Auf wirtschaftlicher Ebene sei es zwar keine „Win-Win“ Situation gewesen, weil die türkischen Geschäftsleute bessere Geschäfte gemacht hätten, als die syrischen. Dennoch seien die Geschäfte von Jahr zu Jahr besser geworden. „Ich weiß nicht, warum sie Syrien zerstören wollen und besonders Aleppo“, seufzt er.
Vor dem Krieg, 2010, sei Aleppo unter den Industriestädten im Mittleren Osten „nicht die Nummer Eins, aber die beste Stadt für den Export“ gewesen. „Wir haben in alle Welt exportiert“, fügt er hinzu und zitiert eine besondere Redensart über die Bedeutung der Stadt: „Aleppo exportiert nach China!“ Auf diese Charakterisierung seiner Heimatstadt ist Nasri besonders stolz. China, dessen Produkte in den Regalen in aller Welt zu finden seien, billig doch qualitativ hochwertig, dieses China kaufte in Aleppo ein.
2014 wurde die Industriestadt von der Armee zurückerobert. Heute werden die Zugänge vom Militär kontrolliert, doch Scheich Najjar wirkt wie eine Geisterstadt: verwüstet, zerstört, verbrannt. „Wir brauchen Frieden. Im Krieg funktioniert nichts. Nicht für uns, nicht für sie“, sagt der Industrielle Bassel Nasri im Gespräch mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten Ende November. „Im Frieden können wir alle Probleme lösen, im Krieg verlieren wir alle.“ Die Aleppiner Geschäftsleute wollen sich nicht unterkriegen lassen, sagt Bassem Nasri. Einige hätten angefangen, ihre Betriebe wieder aufzubauen. Die Wirtschafts- und Finanzsanktionen, die von der Europäischen Union und den USA gegen Syrien verhängt worden seien, behinderten das allerdings. Rohmaterial und Ersatzteile seien schwer zu bekommen.
Der Geschäftsmann verlor selber seine Fabrik für PVC-Granulat in Al Belleramoon, einem anderen Industrieviertel in den östlichen Teilen der Stadt. „Alle Maschinen in meiner Fabrik waren aus Deutschland“, sagt Bassel Nasri. „Battenfeld, Engel, Papenmeier“ zählt er auf. Regelmäßig sei er nach Düsseldorf auf die K-Messe gefahren, international die wichtigste Messe der Kunststoffindustrie. Wenn er jetzt Ersatzteile aus Deutschland kaufen wolle, wäre das „ein Problem“ wegen der Sanktionen. Er könne auf chinesische Hersteller ausweichen, die sich nicht an dem Sanktionsregime gegen Syrien beteiligen würden. Die Qualität sei natürlich eine andere, aber „wir könnten das hinkriegen“. Ein anderes Problem sei die Bezahlung von bestellten Waren. Bezahlen könne man über Privatbanken, doch für syrische Einkäufer gäbe es keinen „Laissez Passer“, ein Transportdokument, das die Waren begleiten muss. Die Sanktionen seien „unfair“, sagt Nasri. „Sie bestrafen alle Syrer und alle syrischen Firmen. Alle, ob groß oder klein, alle sind betroffen.“ Ein einfaches Beispiel sei, dass niemand mehr seine Kreditkarten benutzen könne. Der Kreditkartentransfer sei blockiert, jede private Person sei davon betroffen: „Warum machen Sie das?“
„Die Europäische Union sollte nach Syrien kommen und mit unserer Regierung an einer Lösung arbeiten. Das, was aktuell an Lösungsvorschlägen kursiert, ist unakzeptabel.“ Man dürfe die syrische Regierung und die Geschäftsleute in Syrien nicht als „Kriminelle“ bezeichnen, das größte Problem – nicht nur für Syrien sondern für die ganze Welt - seien „die Terroristen“. Seine Hoffnungen auf Deutschland hat Bassel Nasri noch nicht aufgegeben. Wenn die Bundesregierung etwas tun wolle, solle es auf die Syrer achten, auf alle Syrer, sendet der Unternehmer seine Botschaft von Aleppo nach Berlin. „Die Syrer sind sehr freundliche Menschen, seien auch Sie freundlich zu uns. Verhalten Sie sich gentlemenlike.“