Die europäischen Bahnlogistiker schlagen Alarm: Wegen des Absackens der Bahntrasse bei Tunnelbauarbeiten bei Rastatt können die Güterbahnen nur ein Viertel der Transporte bewältigen. Die Rheintalbahn ist eine der wichtigsten Achsen im Schienengüterverkehr mit täglich bis zu 200 Güterzügen. Die Verbände verlangen eine Task Force der EU - wohl auch, weil die Bundesregierung den Einruck erweckt, das Thema nicht mit der gebotenen Priorität zu behandeln. Der SWR berichtet, der nun von den Logistikern veröffentlichte Brief sei bereits das dritte Schreiben an Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt. Es geht um konkrete Finanzhilfen und Sofortmaßnahmen: So fordert der Dienstleister Kombiverkehr AG, ein Gemeinschaftsunternehmen von 230 Spediteuren und der Deutschen Bahn, laut SWR 250 Millionen Euro staatliche Soforthilfe, um eine Pleitewelle zu vermeiden.
Der Offen Briefe der Spediteure macht klar, dass es sich um ein Desaster von erheblichem Ausmaß handelt, welches sich nach dem Ende der Ferien zu einem Problem für die gesamte europäische Wirtschaft auswachsen könnte.
Der Brief im Wortlaut:
Offener Brief an:
Bundesminister Alexander Dobrindt – Berlin
EU Kommissarin Violeta Bulc - Brüssel
Knapp zwei Monate ist die Rheintalbahn wegen des Baustellenunfalls in Rastatt unterbrochen. Wenn die Strecke zum angekündigten Termin am 7. Oktober 2017 den Verkehr wieder aufnimmt, wird die Bahnlogistik immensen Schaden erlitten haben.
Wie ist die Situation heute?
Für die 200 Güterzüge, die im September üblicherweise täglich auf der Rheintalbahn unterwegs sind, gibt es theoretisch Umleitungskapazitäten für 150 Güterzüge über Stuttgart-Singen, Brenner und das Elsass.
Die Rheintalbahn ist die Hauptstrecke für den Kombinierten Verkehr in Europa. Rund 50% des Warenaustauschs zwischen Nordeuropa und Italien via Schweiz erfolgt normalerweise im Kombinierten Verkehr über diese Achse.
Gegenwärtig können die Güterbahnen auf den Umfahrungsstrecken via Deutschland, Frankreich und Österreich nur 25% des Normalvolumens bewältigen.
Der Kombinierte Verkehr ist besonders benachteiligt; für dieses mengenmässig stärkste Segment erreicht der Umleitungsverkehr weniger als 15% des Normalvolumens.
Die fehlende Verfügbarkeit von Lokomotivführern am Brenner und im Elsass ist der Hauptgrund dafür, dass der Grossteil der Trassenkapazitäten auf den Umleitungsstrecken auch drei Wochen nach dem Unterbruch nicht genutzt werden kann.
Wegen der erschwerten Bedingungen des Umleitungsbetriebs via Stuttgart-Singen fallen die Mehrheit der Züge aus oder verkehren mit extremen Verspätungen von mehreren Tagen.
Was sind die Folgen?
Das System der europäischen Bahnlogistik steht vor dem Kollaps.
Die Umschlagterminals des Kombinierten Verkehrs entlang des Korridors Rhein-Alpen sind mit Containern überfüllt und haben Annahmestopps für Ladebehälter verhängt.
Betrieben nördlich und südlich der Alpen sind bereits in bedrohlichem Ausmass von Lieferausfällen und Produktionsstopps betroffen – sehr viele Werksstillstände stehen kurz bevor.
Es entstehen Schäden in Milliardenhöhe in der Wirtschaft, der Industrie, bei Bahnen, Operateuren und Transportunternehmen.
Ein Teil der Bahnverkehre wird auf die Strasse umsteigen und ist dann für Jahre nicht mehr für die Schiene zu gewinnen. Die von der EU politisch definierten Verlagerungsziele sind gefährdet.
Jahrzehntelange Investitionen in das System Schiene werden geschädigt bzw. zunichte gemacht.
Wie konnte es dazu kommen?
Der Streckenunterbruch Rastatt und das gegenwärtige Krisenmanagement zeigen beispielhaft, was schief läuft im Schienengüterverkehr in Europa:
Auf wichtigen Güterverkehrskorridoren gibt es nicht genügend Umleitungsstrecken, die bereits als Redundanz geplant sind und bei Verkehrsunterbrüchen sofort benutzt werden können.
Eine länderübergreifende Korridorsicht bei der Infrastrukturplanung und -bewirtschaftung ist weiterhin nur in Ansätzen erkennbar.
Es gibt keine internationale Koordination von Baumassnahmen bei der Bahninfrastruktur. Ausweich- und Umfahrungsstrecken waren während der bekanntermassen riskanten Untertunnelung in Rastatt ebenfalls wegen Baumassnahmen ganz oder teilweise geschlossen.
Nationale bahntechnische Besonderheiten erschweren ein Ausweichen auf Strecken in anderen Ländern. Deutschsprachige Lokführer beispielsweise können nicht auf den Umfahrungsstrecken in Frankreich eingesetzt werden.
Es gibt keine Struktur für ein internationales Krisenmanagement im Schienengüterverkehr. Die tagesaktuell erforderliche Koordination zwischen den nationalen Infrastrukturbetreibern, Bahnen, Terminals und Operateuren verläuft äusserst langsam und ineffizient.
Was muss nun kurzfristig passieren?
Es ist für viele Experten des Bahnverkehrs auch weiterhin nicht nachvollziehbar, warum die Vollsperrung nicht durch den Bau einer behelfsmässigen, einspurigen Ersatzstrecke unmittelbar nach der baubedingten Beschädigung der Rheintalbahn vermieden bzw. deutlich verkürzt werden konnte.
Um das Blackout des Systems und einen dauernden Vertrauensverlust des Markts zu vermeiden, sind folgende Massnahmen erforderlich:
Einsetzung einer Task Force auf Minister- bzw. EU-Ebene mit Krisenkompetenz, unter Einbezug der Netzbetreiber.
Kollegiale Unterstützung der staatlichen Bahnunternehmen bei der kurzfristigen Verstärkung des Lokführerpools auf den Umleitungsstrecken via Brenner, Frankreich, Raum Stuttgart/Singen/Schaffhausen durch Freistellungen für den Güterverkehr – damit kann innerhalb von 2-3 Tagen die Umfahrungskapazität von heute 25% auf 50-60% erhöht werden.
Vereinfachte Betriebsverfahren auf den Umleitungsstrecken unter Einbezug der ERA EU Agency for Railways.
Prüfung von ausserordentlichen, temporären Massnahmen zur Unterstützung der Güterverkehrsunternehmen, die durch das Rastatt-Desaster direkt betroffen sind und finanziell vor dem Aus stehen.
Einsetzen einer Sonderkommission zur zeitnahen Aufarbeitung dieser mit Abstand grössten und folgenreichsten Vollsperre des Schienengüterverkehrs der letzten Jahrzehnte, inklusive Notfallpläne, Baustellenmanagement, Priorisierung der Verkehre usw. Rastatt darf nie wieder passieren!
Europa setzt auf die Schiene als umweltfreundlichen Verkehrsträger der Zukunft. Um unsere Chance einer wettbewerbsfähigen Bahnlogistik nicht zu verspielen, setzen wir auf Ihre volle Unterstützung.
Wir danken allen Bürgerinnen und Bürgern, die im Bahnverkehr Einschränkungen zugunsten des Güterverkehrs hinnehmen müssen, für ihr Verständnis. Gemeinsam arbeiten wir daran, dass die Bahnlogistik auch in dieser Notsituation funktionieren kann.
Die Vertreter der europäischen Bahnlogistik
Deutschland
- Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
- Deutsche Umwelthilfe
- IBS Interessengemeinschaft der Bahnspediteure
- NEE Netzwerk Europäischer Eisenbahnen e. V.
- SGKV Intermodal Competence
- VCD Verkehrsclub Deutschland
- VPI Verband der Güterwagenhalter
EU und Brüssel
- CLECAT European Association for forwarding, transport, logistics and customs services
- ECTA European Chemical Transport Association
- ERFA European Rail Freight Association
- ESC European Shippers’ Council
- UIP International Union of Wagon Keepers
- UIRR International Union for Road-Rail combined Transport
Niederlande
- KNV Koninklijk Nederlands Vervoer
- NVPGNederlandse Vereniging Particuliere Goederenwagens
Schweiz
- auto-schweiz - Vereinigung Schweizer Automobil-Importeure
- Cargo Forum Schweiz
- VAP Cargorail
Italien
- ANITA Associazione Nazionale Imprese Trasporti Automobilistici
- Assologistica
- ASSOFERR Associazione Operatori Ferroviari e Intermodali
- Fercargo
Frankreich
- AFWP Association Française des Détenteurs de Wagons
Österreich
- VIP Verband der Privatgüterwagen – Interessenten Österreichs