Man stelle sich einmal Großbritannien ohne London, Frankreich ohne Paris oder Österreich ohne Wien vor. Auch wenn Staaten natürlich nicht auf ihre Hauptstädte reduziert werden sollten, feststeht, dass sie in vielen Ländern Europas nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum bilden. Daneben gibt es in der Regel keine weiteren Metropolen, die in puncto Prosperität und Power mit den Kapitalen mithalten könnten.
Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat in einer Studie den Wert zentralistischer Wirtschaftsstrukturen ermittelt. Die Ökonomen stellten die Frage, um wieviel Prozent das Pro-Kopf-Einkommen im jeweiligen Land sinken würde, wenn man die Hauptstadt und somit das wirtschaftliche Zentrum bei der Berechnung außen vorließe. Das Ergebnis: Österreichs Pro-Kopf-Einkommen fiele sechs Prozent niedriger aus, Großbritannien ohne die Finanzmetropole London hätte ein Minus von elf Prozent zu verzeichnen, und der Wohlstand in Frankreich würde ohne Paris, wo sich zahlreiche Großkonzerne konzentrieren, um 15 Prozent abnehmen.
Eine der wenigen Ausnahmen stellt Deutschland dar. Würde man Berlin bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner ausklammern, wäre unser BIP sogar um 0,2 Prozent höher. Das hängt zum Teil mit der Historie der Hauptstadt zusammen. Vor allem aber zeigt es, dass die wirtschaftliche Stärke unseres Landes nicht auf einer einzigen Region beruht. Denn Berlin ist nur ein Ballungsraum unter vielen – und ökonomisch betrachtet nicht einmal der bedeutendste. Dezentralisierung heißt das Zauberwort. Dass Deutschland die wichtigste Wirtschaftsmacht in der EU ist, verdanken wir nicht zuletzt seinen starken Regionen.
Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass boomende Exporte, eine im internationalen Vergleich hohe Beschäftigungsquote und insbesondere unser innovativer Mittelstand Garanten des Wohlstands sind. Doch auch die scheinbare „Zersplitterung“ trägt wesentlich zum Erfolg bei. Denn die dezentrale Wirtschaftsweise verhindert, dass es zu einem Wohlstandsgefälle innerhalb des Landes kommt.
Schaut man sich die unternehmerische Landkarte Deutschlands an, so stellt man fest, dass es in nahezu jeder Region Standorte gibt, die sich durch eine hohe wirtschaftliche Produktivität auszeichnen. So schlägt in Norddeutschland das Herz der maritimen Industrie, im Süden der Republik haben sich im Münchner „Isar Valley“ bedeutende IT- und Hightech-Unternehmen niedergelassen, und in Berlin boomt eine dynamische Startup-Szene. Auch in den neuen Bundesländern hat sich seit der Einheit ein hoch innovativer Mittelstand entwickelt.
Unser Wohlstand wird vor allem durch den Mittelstand erwirtschaftet – und dieser ist in zwei von drei Fällen nicht in den pulsierenden Metropolen beheimatet, sondern auf dem Land. Hier findet man auch die Mehrzahl der „Hidden Champions“, die mit ihren Produkten internationale Marktführer sind. Von den weltweit 2.700 dieser Topunternehmen kommt die Hälfte aus dem deutschen Mittelstand abseits der Ballungszentren. Nur zwei Beispiele: Im oberpfälzischen Weiherhammer, einer Gemeinde mit nicht einmal 4.000 Einwohnern, sitzt mit BHS Corrugated Maschinen- und Anlagenbau der weltgrößte Anbieter für Lösungen in der Wellpappenindustrie. Und die Steigtechnik Günzburg aus der gleichnamigen Kleinstadt in Schwaben ist weltweit eine der ersten Adressen in Sachen Leitern, Rollgerüste und Rettungstechnik.
In Zeiten der Digitalisierung hat der Standort nicht mehr die Bedeutung wie noch vor 20 Jahren. Voraussetzung dafür ist allerdings eine optimale Infrastruktur, angefangen bei der Verkehrsanbindung bis hin zum leistungsfähigen Breitbandanschluss. Und daran hapert es in Deutschland gewaltig. Umso mehr ist die Politik gefordert. Sie muss die mittelständischen Betriebe durch investitionsfreundliche Rahmenbedingungen fördern, damit der Erfolg weiterhin dezentral erwirtschaftet werden kann. Denn ein starker Mittelstand vor Ort ist das beste Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland zu sichern.
Mario Ohoven ist Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW) und des Mittelstandsdachverbandes European Entrepreneurs (CEA-PME), Brüssel.