Nach einer Inflationsrate von 57 Prozent im Jahr 2014, 112 Prozent im Jahr 2015, 255 Prozent im Jahr 2016 und 494 Prozent im Jahr 2017, veröffentlichten die Behörden in Venezuela im vergangenem Jahr keine offiziellen Daten über die Inflationsrate mehr; inoffiziell betrug diese laut einer Schätzung 64.000 Prozent und laut einer anderen sogar 929.790 Prozent. Die Türkei steht derzeit noch am Anfang dieses Wegs, der sich jedoch schon öfters als Einbahnstraße herausstellte.
Das politische und wirtschaftliche Durcheinander in der Türkei sorgte in den vergangenen Wochen für Schlagzeilen. Im vergangenen August, als die Medien auf die steigende Inflation und den Wertverlust der Landeswährung Lira aufmerksam wurden, versuchte ich aufzuschlüsseln, dass diese beiden Entwicklungen die Lage zwar kurzfristig verschärften, die makroökonomischen Probleme der Türkei sich jedoch bereits seit einem Jahrzehnt zusammenbrauten – seit nämlich die Regierung versuchte, Haushaltslücken mit Gelddrucken zu stopfen, was die Abwertung der Lira und eine zweistellige Inflationsrate erst zur Folge hatte.
Auch für diese Inflations- und Abwertungswelle fanden die Medien praktische kurzfristige „Erklärungen“, welche die Krise auch diesmal durchaus zusätzlich steigern, ihre Ursachen bleiben jedoch langfristig(er) und sind vor allem makroökonomischer Natur.
Beginnen wir dennoch mit den neuen kurzfristigen Faktoren. In der Türkei fanden am letzten Märztag Kommunalwahlen statt, bei denen die Bürger in 30 Städten Oberbürgermeister und in 1.318 Bezirken Bezirksbürgermeister sowie 1.251 Stadt- und 20.500 Bezirksräte wählten. Als zwei Tage später die Wahlergebnisse verkündet wurden, war klargeworden, dass Erdoğans regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Oberbürgermeisterwahlen in den drei größten Städten, Istanbul, Ankara und Izmir, sowie in zusätzlichen 12 von insgesamt 30 Großstädten, verloren hatte. Der Partei gelang es bei Bezirksbürgermeistern sowie Stadt- und Bezirksräten vorne zu bleiben, jedoch verbuchte sie vielerorts niedrigere Unterstützung im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren.
Da Präsident Erdoğan, der seine Karriere als Bürgermeister von Istanbul begonnen hatte, bereits mehrmals sagte, der „Verlust Istanbuls bedeute den Verlust der Türkei“, war klar, dass diese Niederlage für ihn schmerzhaft war. Was allerdings nicht klar war, ist, wie weit er gehen würde, um diese Niederlage in einen Sieg umzuwandeln. Dies wurde deutlicher, als er eine Woche nach den Wahlen eine Neuauszählung verlangte, noch deutlicher, als er nach dieser Neuauszählung, die den Sieg der Opposition bestätigte, eine „außerordentliche“ Annullierung der Ergebnisse und Neuwahlen verlangte, und vollkommen klar, als die höchste türkische Wahlbehörde (YSK) – nach einigem anonymen Wehklagen ihrer Mitglieder über „extremen Druck“ – nach zwei Wochen diesem „außerordentlichen“ Antrag stattgab, obwohl die Satzung der YSK ein solches Instrument überhaupt nicht vorsieht.
Da eine Veröffentlichung der inhaltlichen Begründung weiterhin aussteht, bleibt der Grund unbekannt, doch Erdoğan und seine AKP betonten in ihren Medienauftritten zwei Vorwürfe: Erstens sollen einige Mitglieder der Wahlkommissionen in Istanbul ohne gültige Qualifikationen und Vollmachten fungiert haben und zweitens sollen in Istanbul auch rechtskräftig verurteilte und geistig behinderte Personen gewählt haben, obwohl ihnen in der Türkei kein Wahlrecht zusteht.
Besonders bemerkenswert ist der Umstand, dass die AKP in ihrem Annullierungsantrag für die Oberbürgermeisterwahlen in Istanbul darauf verwies, dass rechtskräftig verurteilte und geistig behinderte Personen gewählt hätten. Sie untermauerte diese Behauptung mit konkreten Vor- und Nachnamen; sollten diese nicht frei erfunden sein, steht fest, dass die regierende Partei Einsicht in Verzeichnisse der Wahlteilnehmer und zugleich von Häftlingen und geistig behinderten Personen hatte, obwohl all diese Daten vertraulich sein müssten. Die Tatsache, dass die AKP eine solche Einsicht hat, wird von den Partei gar nicht verheimlicht, denn sie kündigte als „Erfolgsrezept“ für die vorstehenden Neuwahlen bereits Hausbesuche der eigenen Aktivisten bei jenen 1,7 Millionen Bürgern von Istanbul an, die Ende März nicht gewählt hatten und unter denen sich laut Angaben der AKP mehr als 70 Prozent ihrer Anhänger befinden. Davon bliebe auch Orwell wohl kaum ungerührt ...
...Ungerührt blieben auch die Finanzmärkte nicht. Nach der Bekanntgabe der YSK, dem „außerordentlichen“ Antrag der AKP sei stattgegeben und die Oberbürgermeisterwahlen für Istanbul annulliert worden, verlor die türkische Lira innerhalb von drei Handelstagen rund 5 Prozent an Wert. Für einen Euro musste man plötzlich rund 30 Prozent mehr Lira bezahlen als ein Jahr zuvor und sogar rund 70 Prozent mehr als vor zwei Jahren.
Schenkt man dem türkischen Statistikamt und ihren Berechnungen der Jahresinflationsrate Glauben, ist dieser Wertverlust der Lira übertrieben. Wie die rote Kurve im heutigen Grafen zeigt, bewegte sich die offizielle Inflationsrate zwischen dem Jahr 2017 und dem ersten Drittel des vergangenen Jahres zwischen 9,2 und 13,1 Prozent, stieg danach auf 25 Prozent, ging in diesem Jahr wieder nach unten und befindet sich jetzt unter 20 Prozent. Folglich sollte langfristig der Wechselkurs Lira zu Euro und Dollar ebenso schnell absinken (eigentlich etwas langsamer, da es im Euroraum und in den USA noch etwas Inflation gibt, doch ist diese so niedrig, dass sie bei solchen “ Schätzungen über den Daumen“ ausgelassen werden kann). Doch wie die blaue Kurve im Grafen zeigt, ist solch eine alternative, aus dem sinkenden Wechselkurs ermittelte Inflationsschätzung erheblich höher; für die Ermittlung habe ich den Durchschnitt der Kursschätzungen zu Euro und Dollar herangezogen und diese durch Durchschnittsbildung eines gleitenden Sechstmonatsfensters abgeglättet (hätte ich die ein oder zwei Prozent Inflation im Euroraum und in den USA berücksichtigt, müsste ich die blaue Kurve noch um ein oder zwei Prozent „anheben“).
Natürlich stellt eine solche alternative Inflationsschätzung kein „pures Gold“ dar. Märkte können auch irrational sein und im Sinne der bekannten Redewendung können sie so lange dabei bleiben, bis sie alle rationalen Investoren zur Kapitulation zwingen; prinzipiell sind auch gezielte „Angriffe“ auf Währungen über Leerverkäufe („Shorting“) möglich, wie sie zum Beispiel von George Soros auf das britischen Pfund im Jahr 1992 und auf den malaysischen Ringgit im Jahr 1997 verübt wurden. Dabei sollen gerade das die Ursachen für den stark sinkenden Lirakurs sein, wie von Erdoğan und seinen Mitarbeiter, welche die Finanzmärkte und ausländische Fonds oft mit „Terroristen“ beschimpfen, fortwährend behauptet wird.
Doch bei solchen Erklärungen gibt es großen Anlass zur Skepsis.
Beginnen wir mit der These, dass die „Märkte“ schon seit über zwei Jahren übermäßig Lira verkaufen und damit den Wechselkurs drücken. Versteht man unter „Märkte“ große finanzielle Fonds, ist der Vorrat an Lira, die sie besitzen, begrenzt, denn diese mussten in der Vergangenheit erworben werden, und der Vorrat ginge früher oder später zu Ende.
Zudem würden sich diese Fonds durch den systematischen Verkauf unter dem Marktwert gezielt zusätzliche und unnötige Verluste schaffen. Andererseits erhalten türkische Staatsbürger Gehälter und Renten in Lira, weshalb der langfristige Wertverlust der Lira eher mit jener Gewohnheit zu erklären ist, die aus dem ehemaligen Jugoslawien bekannt ist – die Türken heben die Lira nach Erhalt von ihrem Konto ab und bringen sie in die Wechselstube, um sie zu verkaufen, wodurch sie schrittweise den Kurs absenken; zwar verkauft jeder nur wenige Lira, doch gibt es mehrere Millionen solcher Verkäufer, was mehrere Milliarden verkaufte Lira pro Monat bedeutet. Und das jeden Monat.
Die Kurven im Grafen verlaufen recht einheitlich, nur vertikal versetzt; eine solche Korrelation kann weder mit Panikausbrüchen am Markt, noch mit „Angriffen“ auf die Währung erklärt werden; mit etwas Fantasie könnte man annehmen, dass es die Türken gerade bei „irrational“ sinkendem Lirakurs mit der Angst zu tun bekommen, hektisch einkaufen und damit die Inflation stärken, jedoch werden Lebensmittel, ein integraler Bestandteil des Warenkorbs zur Inflationsermittlung, das ganze Jahr lang gekauft.
Gerade Obst und Gemüse werden von den türkischen Behörden in den letzten Monaten auf staatlichen Marktständen zu stark subventionierten Preisen verkauft, welche Erdoğan im Kampf gegen den „Terrorismus“ helfen sollen – in dem Fall gegen jenen, der angeblich von privaten Obst- und Gemüsehändlern ausgeht. Berücksichtigt man diese stark subventionierten Preise im Warenkorb, sinkt dessen Preis, und somit auch die offizielle Schätzung der Inflationsrate.
Letztendlich existieren auch einige ernsthafte makroökonomische Studien, die sowohl theoretisch als auch empirisch aufzeigen, dass in Situationen mit einer über 20-prozentigen Jahresinflationsrate die Schätzung dieser Inflation auf Grundlage der langfristigen Währungskursentwicklung (ein Jahr oder länger) der lokalen Währung im Verhältnis zu globalen Währungen vergleichend objektiver ist als offizielle Daten, und auch absolut gesehen recht objektiv bleibt.
Die erste solche Studie wurde 1976 von Jacob Frenkel von der Universität Chicago (A monetary approach to the exchange rate: doctrinal aspects and empirical evidence) veröffentlicht, der seine Schlussfolgerungen vor allem auf der Studie der Hyperinflation in Deutschland in den Jahren 1921–1923 aufbaute; spätere Studien kamen auch im Fall von Zimbabwe sowie im Fall von Venezuela zu ähnlichen Ergebnissen (Hanke und Bushnell, On measuring hyperinflation).
Nach einer Inflationsrate von 57 Prozent Inflation im Jahr 2014, 112 Prozent im Jahr 2015, 255 Prozent im Jahr 2016 und 494 Prozent im Jahr 2017, veröffentlichten die Behörden in Venezuela im vergangenem Jahr keine offiziellen Daten über die Inflationsrate mehr; inoffiziell soll diese im vergangenem Jahr, stützt man die Schätzung auf den Absturz des Wechselkurses des Bolivar zum US-Dollar, 64.000 Prozent und nach einer standardisierter berechneten Schätzung des Internationalen Währungsfonds sogar 929.790 Prozent betragen haben.
Die Türkei steht derzeit noch am Anfang dieses Wegs, welcher sich jedoch schon öfters als Einbahnstraße herausstellte.