Finanzen

Die Ära des Monetarismus ist vorbei, das Pendel schwingt wieder zur Fiskalpolitik

Die Zentralbanken seien sich inzwischen bewusst, dass sie das Wirtschaftswachstum nicht mehr stimulieren können, schreibt der Ökonom Anatole Kaletsky. Das Pendel der Geschichte schwinge wieder zur keynesiansichen Fiskalpolitik zurück.
08.11.2019 15:00
Lesezeit: 3 min

Bei den Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in diesem Monat in Washington, D.C. herrschte eine düstere Stimmung. Doch war die wahre Ursache dafür nicht die Furcht vor einer weltweiten Rezession. Auch wenn die jüngste Aktualisierung des World Economic Outlook des IWF zeigt, dass sich die Wirtschaftsaktivität in diesem Jahr auf ihr schwächstes Niveau seit 2009 verlangsamt hat, liegt die prognostizierte globale Wachstumsrate von 3% noch immer deutlich über dem Niveau früherer Rezessionen und würde der annehmbaren Wirtschaftslage in den meisten Teilen der Welt entsprechen – kein schlechtes Ergebnis im elften Jahr nachhaltiger globaler Expansion. Und für nächstes Jahr sagt der IWF eine Wachstumszunahme auf 3,4% vorher, was dem Schätzwert von 3,6% für den langfristigen Trend sehr nahe kommt.

Man könnte argumentieren, dass die IWF-Prognose einer Konjunkturerholung im kommenden Jahr nur bedingt glaubwürdig ist, und zwar schlicht, weil alle Wirtschaftsmodelle so konzipiert sind, dass sie sich tendenziell wieder den langfristigen Durchschnittstrends annähern. Doch die Zahlen für 2019 sind anders geartet und deutlich glaubwürdiger. Um diese Jahreszeit spiegeln die „Projektionen“ für 2019 überwiegend bereits erhobene Daten wider. Die Zahlen sind daher weitgehend Ausdruck der Faktenlage, z. B. des Handelskriegs zwischen den USA und China, des Einbruch in der deutschen Autoindustrie und der Ängste über einen harten Brexit.

Die Projektionen für 2019 bestätigen das relativ freundliche Bild der Weltwirtschaft, das ich nach der letzten Iteration der IWF-Daten beschrieben hatte. Trotz ihres Handelskriegs haben weder die USA noch China einen echten Abschwung erlebt: Das Wachstum in beiden Ländern wurde seit dem vergangenen Oktober nur um statistisch nicht signifikante 0,1% nach unten korrigiert. Auch die Wirtschaftsentwicklung Japans ist unverändert, und im übrigen Asien hat sich die Konjunktur nur marginal abgeschwächt. Hauptsächliche Problemzone innerhalb der Weltwirtschaft war in diesem Jahr Europa: Die Wachstumsprognose für die Eurozone wurde um mehr als ein Drittel von 1,9 % auf 1,2% nach unten korrigiert, und die für Deutschland von 1,9% auf fast schon rezessionäre 0,5%.

Die schlechte Nachricht ist, dass die noch immer vorherrschenden relativ freundlichen Bedingungen in der Weltwirtschaft sich irgendwann wirklich verschlechtern werden, selbst wenn es 2020 oder sogar 2021 noch nicht so weit sein sollte. An diesem Punkt dann werden die Notenbanker eingestehen müssen, dass die nicht mehr in der Lage sind, die Konjunkturzyklen zu steuern und wirtschaftliche Abschwünge abzumildern. Die weniger schlechte Nachricht ist, dass den meisten dieser Entscheidungsträger inzwischen bewusst ist, dass es noch andere, wirksamere Instrumente gibt und dass lediglich eine nicht mehr zeitgemäße politische Ideologie und wirtschaftliches Dogma deren Einsatz verhindern.

Vierzig Jahre nach der Wahl Margaret Thatchers 1979, die den Aufstieg verschiedener Formen des Monetarismus bestätigte, schwingt das intellektuelle Pendel zurück in Richtung der keynesianischen Idee, dass die Fiskalpolitik – Entscheidungen über Staatsausgaben, Besteuerung und Kreditaufnahme – das wirksamste Instrument zur Steuerung der Nachfrage und zur Stabilisierung von Konjunkturzyklen darstellen. Die Notenbanker waren die Ersten, die erkannten, dass die Geldpolitik an ihre Grenzen gestoßen ist, während viele Politiker und Wirtschaftswissenschaftler den derzeit ablaufenden Paradigmenwechsel weiterhin ableugnen.

Milton Friedmans berühmtes Diktum „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen“ wurde schon vor langer Zeit durch empirische Studien widerlegt. Die deutlich radikalere Herausforderung jedoch geht von der Vorstellung aus, dass zwischen Geldmengenwachstum und Inflation womöglich gar keine Beziehung besteht. Dies ist noch immer ein intellektuelles Tabu, obwohl Notenbanken überall auf der Welt neues Geld in früher unvorstellbaren Mengen gedruckt haben, ohne dass das irgendwelche Auswirkungen auf die Inflation gehabt hätte.

Noch hartnäckiger hält sich der wichtigste negative Einwurf des Monetarismus: dass sich das Wirtschaftswachstum durch die Fiskalpolitik nicht ankurbeln ließe, weil höhere Staatsausgaben private Investitionen verdrängen würden und eine erhöhte Kreditaufnahme der öffentlichen Hand auf höhere Steuern hinausliefe. Die verschiedenen Theorien, wonach die Fiskalpolitik „unwirksam“ sei, weil die staatliche Kreditaufnahme Zinsen, Inflationserwartungen oder die künftigen Steuern in die Höhe treibe, haben sich allesamt als falsch erwiesen.

In den letzten 10-15 Jahren haben sich die Kreditaufnahme der öffentlichen Hand und die Staatsverschuldung in allen hochentwickelten Volkswirtschaften enorm erhöht. Doch statt in Inflationspanik zu verfallen oder diese angebliche Verschwendungssucht durch Einforderung höherer Risikoaufschläge zu bestrafen, leihen Anleger den Regierungen Geld zu historisch niedrigen Zinssätzen. In vielen Ländern akzeptieren sie sogar garantierte Verluste aufgrund negativer Zinsen. Doch hält sich insbesondere in Europa weiterhin die Vorstellung, dass eine fiskalische Expansion unverantwortlich oder unwirksam sei und dass die Geldpolitik daher weiterhin das hauptsächliche Hilfsmittel der gesamtwirtschaftlichen Steuerung bleiben müsse.

Die zentrale Botschaft der diesjährigen IWF-Jahrestagung ist, dass diese antikeynesianische Voreingenommenheit bei den Notenbankern inzwischen völlig verschwunden ist. Im Kern des Grundsatzreferats von Kristalina Georgieva, der neuen geschäftsführenden Direktorin des IWF, stand der Appell, der Fiskalpolitik eine „zentralere Rolle“ einzuräumen. Auch die Diskussionen im Hintergrund drehten sich fast alle um dieses Thema. Selbst in Europa verlagert sich der Konsens möglicherweise. Die neuen, für die Durchsetzung der veralteten, auf dem Höhepunkt des Monetarismus im späten 20. Jahrhundert verfassten EU-Haushaltsregeln verantwortlichen Mitglieder der Europäischen Kommission haben begonnen, öffentlich die Notwendigkeit einer weniger restriktiven Haushaltspolitik einzugestehen. Und der ständige Leiter der für die Bewertung der nationalen Haushalte zuständigen EU-Generaldirektion hat sich für einen „ausgewogeneren Policy-Mix“ ausgesprochen, der „hier und jetzt“ eine stärker expansive Fiskalpolitik beinhalten müsse.

Kurz gesagt: Notenbanker und mit Wirtschaftsfragen befasste leitende Behördenvertreter sind inzwischen beinah durch die Bank der Ansicht, dass die Geldpolitik an ihre Grenzen gestoßen ist und die Fiskalpolitik wieder als hauptsächliches Instrument zur Steuerung der Konjunkturzyklen und zur Stützung des Wirtschaftswachstums etabliert werden sollte. Viele Politiker insbesondere in Europa jedoch verweigern sich nach wie vor der Erkenntnis, dass die monetaristische Ära vorbei und eine keynesianische Steuerung der Nachfrage die einzige Alternative ist. Wir wollen hoffen, dass sich das noch vor Ankunft der nächsten Rezession ändert.

Anatole Kaletsky ist Chefökonom und Co-Chairman von Gavekal Dragonomics und der Verfasser von Capitalism 4.0: The Birth of a New Economy in the Aftermath of Crisis.

Copyright: Project Syndicate, 2019.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Der deutsche Markt konzentriert sich auf neue Optionen für XRP- und DOGE-Inhaber: Erzielen Sie stabile Renditen aus Krypto-Assets durch Quid Miner!

Für deutsche Anleger mit Ripple (XRP) oder Dogecoin (DOGE) hat die jüngste Volatilität am Kryptowährungsmarkt die Herausforderungen der...

DWN
Unternehmen
Unternehmen KI-Schäden: Wenn der Algorithmus Schaden anrichtet – wer zahlt dann?
05.07.2025

Künstliche Intelligenz entscheidet längst über Kreditvergaben, Bewerbungen oder Investitionen. Doch was passiert, wenn dabei Schäden...

DWN
Panorama
Panorama Was Autofahrer über Lastwagen wissen sollten – und selten wissen
05.07.2025

Viele Autofahrer kennen das Gefühl: Lkw auf der Autobahn nerven, blockieren oder bremsen aus. Doch wie sieht die Verkehrswelt eigentlich...

DWN
Finanzen
Finanzen Steuererklärung 2024: Mit diesen 8 Steuertipps können Sie richtig viel Geld rausholen
05.07.2025

Viele Menschen drücken sich vor der Steuererklärung, weil diese manchmal etwas kompliziert ist. Doch es kann sich lohnen, die...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wirtschaftskriminalität: Insider-Betrug kostet Millionen - Geschäftsführer haften privat
05.07.2025

Jede zweite Tat geschieht im eigenen Büro - jeder fünfte Schaden sprengt die fünf Millionen Euro Marke. Wer die Kontrollen schleifen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Microsoft kippt den Bluescreen, doch das wahre Problem bleibt
05.07.2025

Microsoft schafft den berühmten „Blauen Bildschirm“ ab – doch Experten warnen: Kosmetische Änderungen lösen keine...

DWN
Panorama
Panorama So bleiben Medikamente bei Sommerhitze wirksam
05.07.2025

Im Sommer leiden nicht nur wir unter der Hitze – auch Medikamente reagieren empfindlich auf hohe Temperaturen. Doch wie schützt man...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Bahn: Sanierung des Schienennetzes dauert länger – die Folgen
05.07.2025

Die Pläne waren ehrgeizig – bis 2030 wollte die Bahn mit einer Dauerbaustelle das Schienennetz fit machen. Das Timing für die...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt H&K-Aktie: Rüstungsboom lässt Aufträge bei Heckler & Koch explodieren
04.07.2025

Heckler & Koch blickt auf eine Vergangenheit voller Skandale – und auf eine glänzende Gegenwart und Zukunft. Der Traditionshersteller...