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Anatomie einer Jahrhundert-Blase, Teil 3: Eine Dunkelziffer namens Inflation – das gesamte Finanzsystem basiert auf morschem Zahlenwerk

Lesezeit: 16 min
08.12.2019 10:41  Aktualisiert: 08.12.2019 10:41
Die Entwicklung der Teuerung stellt einen der Ankerpunkte des gesamten weltweiten Finanzsystems dar. Schaut man sich ihre Berechnung an wird klar: die tatsächliche Inflation muss viel höher sein, die Löhne vieler hart arbeitender Menschen dürften von Jahr zu Jahr real sinken.
Anatomie einer Jahrhundert-Blase, Teil 3: Eine Dunkelziffer namens Inflation – das gesamte Finanzsystem basiert auf morschem Zahlenwerk
Schmelzende Eiszapfen. (Foto: dpa)

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Liebe DWN-Leser, heute erhalten Sie den dritten Teil unserer großen Serie „Anatomie einer globalen Jahrhundert-Blase“. Lesen Sie über die brennendsten Probleme der Weltwirtschaft – globale Konjunktur-Schwäche, irrationale Überbewertungen von Vermögensmärkten, Geldpolitik, Absinken der Mittelklasse, Vermögenskonzentration, desolat werdende Situation der Rentenkassen, Altersarmut und globale Umweltverschmutzung. Unser Autor Michael Bernegger verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung im Zentralbankwesen und der Finanzindustrie, unter anderem als Analyst, Konjunktur-Experte und Chef des Asses-Managements eines großen europaweit tätigen Lebensversicherers. Jeder Artikel baut auf den vorhergehenden auf – ist jedoch komplett eigenständig und daher für sich allein absolut verständlich.

In unserer Serie haben wir im zweiten Teil gezeigt: Die offiziell ausgewiesenen Reallöhne stagnieren in den wichtigen Industrieländern seit Jahrzehnten – dies mit leichten Unterschieden zwischen den verschiedenen Ländern. Doch die offiziellen Reallohn-Indizes leiden unter einer gemeinsamen Schwäche: Während die Löhne aufgrund der Sozialversicherungsdaten relativ zuverlässig ausgewiesen sind, gibt es große Unterschiede bei der Messung der Preisentwicklung durch die Verbraucherpreis-Indizes – beides im Zeitablauf und zwischen verschiedenen Ländern und Währungsräumen. Sie können das Bild der Reallöhne völlig verzerren.

Der Verbraucherpreis-Index: Eine zentrale Größe der Volkswirtschaft – gerade für die Geldpolitik

Der Verbraucherpreisindex (VPI) ist eine zentrale Wirtschaftszahl in einer Volkswirtschaft. Er ist eine Bezugsgröße für die Lohnbildung, auch wenn heute vielenorts formale Indexklauseln nicht mehr gegeben sind. Er ist wichtig für die Festlegung der Renten. Je nach Land gibt es jährlich oder nach einer Formel eine Anpassung der Renten aus der Sozialversicherung an die aufgelaufene Inflationsrate. Der VPI ist auch wichtig für die Festlegung von Mieten von Wohnungen und Geschäftsräumlichkeiten und für viele Geschäftsfälle wie auch für die Besteuerung. Der Verbraucherpreis-Index ist auch wichtig für die Staatsausgaben. Viele Ausgabengruppen sind gesetzlich praktisch indexiert.

Mit dem Verbraucherpreis-Index werden üblicherweise die nominellen ausbezahlten Nettolöhne deflationiert, man erhält so die Reallöhne als einen Maßstab für den Lebensstandard. Diese bilden die Entwicklung der realen Einkommen von Lohnempfängern ab. In den meisten Volkswirtschaften sind dies 70-90 Prozent der Erwerbsbevölkerung.

Der Verbraucherpreis-Index geht darüber hinaus indirekt in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts ein. Seine Komponenten werden für den Deflator der privaten Konsumausgaben benutzt. Er kommt somit zum Einsatz, um den privaten Konsum als üblicherweise quantitativ gewichtigste Nachfrage-Komponente zu deflationieren, d.h. auf reale Größen zu bringen. Der Verbraucherpreis-Index spielt also für die Berechnung von Wachstumsraten des realen BIP eine gewichtige Rolle.

Die Inflation ist die zentrale Zielgröße der Geldpolitik. Sie ist den meisten Ländern und Währungsräumen den Notenbanken über ein formales Mandat vorgegeben. Fast überall wird sie über die Jahresveränderungsrate des Verbraucherpreisindex gemessen. In den USA ist es seit 2000 der verwandte Deflator der privaten Konsumausgaben der Haushalte. Dieser ist etwas breiter definiert. Er umfasst etwa auch die Ausgaben der oberen 10‘000 und vor allem diejenigen der Rentner.

In den 2000er Jahren sind die wichtigen Zentralbanken der Welt zu einer Politik der Inflationsziele übergegangen. Sie legen eine Inflationsrate fest, bei der sie die Preisstabilität als gewährleistet sehen. In den meisten Fällen liegt diese heute bei einer Inflationsrate gemessen am Verbraucherpreis-Index (VPI) von 2% oder knapp darunter.

Die Politik der Inflationsziele war ex-post seit der Jahrtausendwende von einem scharfen Rückgang der Zinsen über die gesamte Zinskurve begleitet, d.h. von den kurzfristigen Tagesgeldsätzen bis zu ultralangen Sätzen am ganz langen Ende - 10-, 30-. 50-, 100-jährige Staatsanleihen. Weite Teile der Zinskurve sind negativ geworden. Parallel dazu sind auch die Kreditrisiko-Aufschläge enorm zurückgegangen.

Jedem durchschnittlich intelligenten Menschen muss sich die Frage aufdrängen, ob dieser Zinsrückgang etwas mit der Politik der Inflationsziele oder auch mit der Messung der Inflation durch den Verbraucherpreis-Index zu tun hat. Im vorangegangenen Artikel unserer Serie haben wir gezeigt, dass die Festlegung des Inflationsziels durch die Notenbank arbiträr und singulär ist. Die am Verbraucherpreis gemessene zweiprozentige Inflation wird plötzlich in ‚Preisstabilität‘ umgedeutet. Nur und exklusiv von Zentralbanken, von keiner statistischen Autorität und keinem ernsthaften Ökonomen sonst. Diese Umdeutung erfolgt mit luftigen Begründungen: Der Preisindex erfasse Qualitäts-Verbesserungen nicht. Diese würden ungefähr ein Prozent pro Jahr betragen. Und man benötige zusätzlich einen Risikopuffer von einem Prozent. Dieser sogenannte Puffer solle erlauben, frühzeitig die Zinsen zu senken, um ein Szenario wie in Japan zu vermeiden, also eine verfestigte deflationäre Entwicklung.

Akzeptiert man diese Logik, so würde dies korrekt zu Ende gedacht bedeuten, dass die wirkliche Preisstabilität bei ungefähr einem Prozentpunkt gemessener Inflationsrate liegen würde. Ein Prozentpunkt ist Risikopuffer, und sollte so bezeichnet und streng von der wirklichen Teuerung getrennt werden. Indem die Zentralbanken beide völlig verschiedenen Phänomene ohne deutliche, explizite Warnhinweise vermischen, schaffen sie die Bedingungen für das Zinschaos oder, noch besser zutreffend, die Zinsperversion, die wir heute an den Märkten haben.

Doch was hat es mit der Verfälschung der Inflationsrate um rund ein Prozent auf sich, welche seit zwei Jahrzehnten von den Zentralbankiers behauptet wird? Diese Verzerrung wird übrigens von den meisten oder sogar fast allen Ökonomen akzeptiert und insofern geteilt. Genau diese Zustimmung der Profession über das Phänomen und die von den Zentralbanken gewollte Unschärfe zwischen 1 und 2 Prozent schufen die Voraussetzung, dass niemand oder wenige sich wirklich über das Zwei-Prozent Inflationsziel der Zentralbanken erregten oder erregt haben.

Niemand? Nicht ganz. Selbst im innersten Kreis der Zentralbankiers, etwa der Group of Thirty, beginnen Zweifel zu keimen. So hat Jacques de la Rosière, der frühere Direktor des Internationalen Währungsfonds, in einem kürzlich veröffentlichten Bericht auf der Website der Group of Thirty nicht nur Zweifel angemeldet. Er hat in absolut glasklaren Worten die Sackgasse beschrieben, in welche sich die Zentralbanken manövriert haben. Der Artikel ist auf jeden Fall lesenswert. Vor einigen Wochen haben frühere hohe Offizielle der EZB in taktvollen, inhaltlich aber klaren Worten die Entscheidung von Mario Draghi und der Führungsspitze der EZB für eine weitere Zinssenkung, die Aussicht auf Negativzinsen auf lange Zeiträume hinaus sowie ein neues Kaufprogramm für Anleihen in einem öffentlichen Brief kritisiert.

In einem Punkt möchte ich mich aber ganz entschieden von der Version von de la Rosière oder anderer Kritiker abgrenzen. Die wirkliche Inflation ist keineswegs so harmlos wie oft behauptet. Das hat mit Methodenfragen in Bezug auf den Verbraucherpreis-Index zu tun. Nun tönt das für viele Leser wohl wenig erbaulich. Das soll im Folgenden möglichst intuitiv dargestellt werden. Es ist aber wichtig, um die Konsequenzen zu begreifen.

Eigenschaften des Verbraucherpreis-Index

Angesichts dieser Bedeutung des Verbraucherpreis-Index stellt sich die Frage nach der Qualität des verwendeten Verbraucherpreis-Index in verschiedenen Ländern.

Dies beginnt mit der Umschreibung des Zwecks eines Verbraucherpreis-Index. Für Gegenwart und Vergangenheit können wir zwei verschiedene Definitionen erkennen. Bis in die 1990er Jahre galt die Ansicht, dass ein Verbraucherpreis-Index einen konstanten Warenkorb des durchschnittlichen Haushalts (Lohnempfängers) abbilden soll. Dieser Ansatz basiert auf einem Ausgaben-Konzept.

In der Praxis wurde deshalb ein Gewichtungs-Schema der Haushalt-Ausgaben festgelegt, das während längeren Zeitperioden von zumeist 5-10 Jahren unverändert blieb. Dieses Gewichtungs-Schema beruht auf Haushaltbüchern einer repräsentativen Stichprobe von Haushalten. Dabei werden deren Ausgaben detailliert aufgelistet und in ein Ausgabenschema nach Gütergruppen aufgeteilt. Für die Index-Berechnung werden die einzelnen, meist aus Stichproben erhobenen Preisreihen mit ihrem Anteil am Gewichtungsschema hochgerechnet. Die einzelnen Preisreihen wurden statistisch nicht wesentlich modifiziert.

Seit den 1990er Jahren hat sich der Fokus leicht, aber folgewirksam verändert. Das Augenmerk liegt, mindestens dem Anspruch nach, nun mehr auf einem konstanten Konsumenten-Nutzen.

In der Praxis bedeutet dies, dass das Gewichtungs-Schema häufiger angepasst wird, um den Effekt neuer Produkte besser erfassen zu können. Die neuen Produkte oder Dienstleistungen bilden neue Konsumenten-Bedürfnisse ab. Üblich geworden sind die jährliche oder zwei-jährliche Festlegung der Gewichtungsschema. Verschiedene Länder, darunter Deutschland, halten aber nach wie vor an längeren Intervallen fest.

Zudem werden die Preisreihen modifiziert durch verschiedene statistische Methoden, um für den Konsumenten fühlbare Qualitätsänderungen einzufangen. Anders als in der Vergangenheit werden also die erhobenen Preise nicht mehr unbearbeitet in die Index-Berechnung integriert. Es gibt für verschiedene Gütergruppen den Zwischenschritt der durch statistische Methoden modifizierte Preise. Ein Preisanstieg kann sich dann aufgrund der Qualitätsverbesserung unter Umständen in einen Preisrückgang verwandeln. Damit sollen insbesondere Qualitäts-Verbesserungen abgebildet werden.

Das Gewichtungsschema hat heute eine international standardisierte Form, sie beruht auf dem sogenannten COICOP-Schema. Die Ausgabenstruktur ist für die meisten fortgeschrittenen Industrieländer recht ähnlich, deshalb sei sie stellvertretend durch die heute gültige Form des VPI-Gewichtungs-Schemas Deutschlands repräsentiert.

Graphik: Die Ausgaben-Gruppen und -Anteile im Wägungsschema des VPI Deutschlands für 2015

Quelle: Destatis

Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass die Wohnungskosten die mit Abstand größte und gewichtigste Ausgabengruppe darstellen. Das ist in den meisten Industrieländern der Fall, wo die Ausgaben einigermaßen korrekt ermittelt werden. In Deutschland haben die Wohnungskosten für 2015 ein Gewicht von 32 Prozent im Index. In den meisten Industrieländern liegt dieses Gewicht noch höher, zum Teil bis zu 40 Prozent. Deutschland ist insofern ein Spezialfall, als seit der deutschen Einheit die niedrigeren Anteile der Wohnungskosten und Mieten in den neuen Bundesländern das Gewicht drücken. In den alten Bundesländern werden diese Anteile heute nicht mehr separat ausgewiesen, sie lägen aber wohl um einige Prozentpunkte höher.

Die Wohnungskosten setzen sich aus Untergruppen zusammen. Die wichtigsten sind die bezahlten Mieten und die unterstellten (imputierten) Mieten. Das sind die Wohnungskosten für Haus- oder Wohneigentümer, welche ihr Eigentum selber bewohnen. Sie werden im Falle Deutschlands nicht direkt, sondern analog durch bezahlte Mieten vergleichbarer Liegenschaften erfasst.

Dazu gibt es zwei Feststellungen: Deutschland hat eine relativ niedrige Wohneigentümer-Quote von knapp über 45 Prozent. In den meisten fortgeschrittenen Industrieländern liegt sie wesentlich höher, üblicherweise zwischen 60 und 90 Prozent. Die viel höheren Eigentümerquoten erschweren die Erfassung über einen solchen Ansatz mit unterstellten Mieten, wie wir noch sehen werden. Es gibt nicht genügend repräsentative oder analoge Mietverhältnisse, um die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums abzubilden.

Neben den effektiven und den unterstellten Mieten sind die Nebenkosten für Heizung, Beleuchtung, Strom, Wasser sowie die Auslagen für kleinere Reparaturen zusätzliche, aber weniger gewichtige Positionen oder Ausgaben für die Wohnkosten.

Die anderen großen Ausgabengruppen sind in Deutschland wie im internationalen Vergleich für den Verkehr (rund 14 Prozent) und für Nahrungsmittel (rund 12 Prozent) sowie für Freizeit, Bildung und Kultur (rund 11 Prozent). In anderen Ländern liegen die Anteile für Nahrungsmittel eher zwischen 15 und 20 Prozent und für den Verkehr ebenfalls höher, bei 15 Prozent und darüber.

Betrachten wir die Entwicklung des Wägungs-Schemas im Langzeit-Vergleich, ergibt sich für Deutschland folgendes Bild:

Graphik: Anteile großer Ausgabengruppen im Wägungsschema 1950 bis 2015 in Deutschland

Quelle: Destatis, eigene Berechnung

Das Bild ist dominiert von wenigen Trends:

  • dem Rückgang des früher dominanten Anteils der Nahrungsmittel sowie der Ausgaben für Bekleidung und Schuhe
  • dem entgegengesetzten Anstieg der Wohnungskosten
  • dem Anstieg der Verkehrskosten bis Mitte der 1980er Jahre, deren Anteil seither stagniert

Im internationalen Vergleich ist diese Entwicklung repräsentativ, dies mit einer erklärungsbedürftigen Ausnahme. In den Vereinigten Staaten waren die Ausgabenanteile für die Wohnungskosten im CPI-U schon in der ganzen Nachkriegszeit sehr hoch, bei fast 40 % oder teilweise sogar darüber.

Für die Gesamtdynamik der Inflationsentwicklung spielen aufgrund dieser Ausgangspunkte zwei Punkte eine wichtige Rolle:

  • Die relative Preisentwicklung vor allem der großen bzw. der stark wachsenden Ausgaben-Positionen im Index, also konkret der Wohnungskosten.
  • Die zyklische Volatilität von Preisen. Dabei stechen vor allem drei Gruppen hervor:
  1. Die Energiepreise, die über mehrere Ausgabengruppen verteilt sind: Wohnungskosten (Heizung, Elektrizität), Verkehr (Kraftstoff, Benzin), Reisen, Freizeit. Total machen sie im Index 5-8 Prozent aus. Die Energiepreise haben seit dem Ersten Erdölschock von 1973 / 74 aufgrund ihrer immensen Volatilität direkt eine bedeutende Rolle für die zyklische Inflation gespielt, indirekt auch über Produktionskosten und Lohnsteigerungen.
  2. Die Nahrungsmittelpreise sind ebenfalls volatil, wenn auch weniger als die Energiepreise. Aufgrund ihres höheren Gewichts im Index sind sie ebenfalls recht bedeutend.
  3. Zinsen und Häuserpreise für die Wohnungskosten.

Theoretisch tönt dies einfach und verständlich. Doch in der statistischen Praxis kann sich dies ganz unterschiedlich niederschlagen.

Die Rolle von Konzeptänderungen im Verbraucherpreis-Index: Das Beispiel der Vereinigten Staaten

Hat man eine lange Reihe der Verbraucherpreise, so gibt dies den Eindruck einer Homogenität über die lange Frist. Doch dem ist nicht so. Das Gesamtbild wird wesentlich auch durch Veränderungen der Messmethodik geprägt.

Die Konzeptänderungen und Korrekturen an der Berechnungsweise des Verbraucherpreis-Index übten und üben einen ganz erheblichen, teilweise fast dominanten Einfluss aus. Die drei folgenden Graphiken sollen dies für den offiziellen Verbraucherpreisindex (CPI-U) der Vereinigten Staaten illustrieren. Die erste Graphik zeigt das ganz langfristige Bild des CPI. Das hervorstechende Merkmal ist die singuläre Inflations-Beschleunigung der 1970er und frühen 1980er Jahre, gefolgt von einer raschen Disinflations-Phase in den 1980er Jahren. Seit den 2000er Jahren verharrt der CPI mit geringer Abweichung um rund 2 Prozent.

Graphik: Inflationsrate in den Vereinigten Staaten gemessen am CPI-U

Quelle: BLS. Fredgraph

Nun vergleichen wir den offiziellen Verbraucherpreis-Index CPI-U mit zwei Simulationen, die es in sich haben. Sie stammen von shadowstats.com, und sind seit Jahren entwickelt und aufdatiert auf deren Website.

Die untere, dritte Graphik vergleicht den genau gleichen CPI-U mit einer Simulation des CPI für die Zeit nach 1982, wobei die zwischen 1948 und 1982 gültige Methodologie der Berechnung des Verbraucherpreis-Index einfach unverändert weitergeführt wird. Bei der Methodologie-Revision von 1982 wurden hauptsächlich die Wohnungskosten als wichtigste Komponente des CPI-U völlig neugestaltet. Das Konzept der Wohneigentümer-Miete oder der unterstellten (imputierten) Miete für die Wohnungskosten von Eigentümern, welche die Wohnung oder das Haus selbst bewohnen (engl. ‚Owner-Equivalent Rent‘, kurz OER), wurde damals eingeführt. Mit der von 1948 bis 1982 gültigen Methodologie wurde versucht, die Kosten von Wohneigentümern für das Wohnen selbst und direkt zu erfassen. Durch den Wechsel von 1982 wurden die Wohnungskosten von Wohneigentümern neu indirekt über Marktmieten von vermieteten Wohnungen erfasst. Diese konzeptionelle und messtechnische Änderung betraf die damals größte einzelne Position im CPI-U mit einem Gewicht von rund 24 Prozent. Sie hatte darüber hinaus auch Auswirkungen auf die Erhebungsweise der Mieten und damit auf eine Gesamtposition von deutlich über 35 Prozent im Verbraucherpreis-Index, also mehr als einen Drittel.

In den 1980er Jahren ist die Differenz beider Berechnungsweisen noch gering. Sie nimmt vor allem nach 1995 sprunghaft zu. Auffällig ist vor allem die riesige Divergenz in den 2000er und 2010er Jahren. Nach der alten, von 1948 bis 1982 gültigen Methodologie wäre die Inflation in den letzten beiden Jahrzehnten fast so hoch wie in den 1970er Jahren gelegen, teilweise bei rund 10% und 2007 deutlich darüber.

Die mittlere Graphik vergleicht den offiziellen CPI-U mit einer Simulation für die Jahre ab 2000, welche die offizielle Methodologie in den Jahren von 1982 bis 1990 einfach übernimmt. In Gelb ist hier eingezeichnet, wie die Rekapitulation des CPI aufgrund der Basisdaten aussehen würde. Dieser ‚experimental CPI‘ folgt dem offiziellen CPI praktisch in identischer Weise, es gibt nur kleinste Abweichungen. Mit der Methodologie von 1990 liegt die simulierte Kurve in den 2000er und 2010er Jahren systematisch rund dreieinhalb Prozent höher als der offizielle CPI-U. Die Methodologie-Veränderungen der 1990er und frühen 2000er Jahre betreffen vor allem die Erfassung von Qualitätsänderungen. Sie gründen auf Empfehlungen der Stigler-Kommission von 1961, sowie die Empfehlungen der Boskin-Kommission 1996.

Das waren zwei Berater-Kommissionen, welche sich mit der Preismessung in verschiedenen Indizes (Stigler-Kommission) bzw. nur im CPI (Boskin-Kommission) befassten. Dabei ging es vor allem um den Effekt von Qualitätsveränderungen durch technischen Fortschritt und neue Produkte. Die Grundidee war, dass vor allem die Durchsetzung der Elektronik in rascher Abfolge neue Produkte ermöglichte, und dass dies auch einen breit basierten technischen Fortschritt und damit Qualitätsverbesserungen bei zahlreichen existierenden Produkten herbeiführte. Die Modifikation betraf somit ein breites Spektrum von Produkten. Sie drückte sich essentiell in zwei methodischen Neuerungen aus.

Einmal wurden die Gewichte des Verbraucherpreis-Index viel häufiger geändert, vorher alle 10 Jahre, dann neu alle zwei Jahre. Dies ermöglichte essentiell die frühe Erfassung neuer Produkte.

Zusätzlich wurden die Preisserien, die aus Basiserhebungen gewonnen wurden, durch verschiedene Methoden statistisch modifiziert, um den Effekt der Qualitätsverbesserungen einzufangen.

Die Empfehlungen der Baskin-Kommission waren maßgeblich vom damaligen Notenbank-Chef Greenspan angemahnt sowie vom republikanischen Mehrheitsführer Newt Gingrich politisch durchgesetzt worden.

Dieser elementare Vergleich der drei Kurven ist somit mit Vorsicht zu interpretieren. Aber: Alle drei Kurven basieren auf einer Methodologie, die effektiv vom zuständigen amerikanischen Statistik-Amt (‚Bureau of Labor Statistics‘, kurz BLS) gegenwärtig bzw. für vorangegangene Jahrzehnte für die Berechnung des Verbraucherpreis-Index angewendet wird bzw. worden ist. Der Vergleich zeigt somit auf, dass die Konzept- und Methodologie-Änderungen von 1982 und der 1990er Jahre dauerhaft eine erhebliche und teilweise ganz massive Reduktion der ausgewiesenen offiziellen Inflationsrate zur Folge hatten. Die Methodologie-Änderungen dominieren in der langen Frist die Entwicklung der Inflationsrate gemessen am CPI-U weitgehend.

Nur dank dieser Methodologie-Änderungen konnten die Zinsen langfristig in solch außerordentlicher Weise auf historisch fast einmalig niedrige Niveaus sinken. Diese Methodologie-Änderungen sind also eine absolut zentrale Voraussetzung für den generalisierten Boom der Finanzmärkte in den beiden letzten Jahrzehnten oder besser in den vergangenen 25 Jahren. Vielen Ökonomen und Marktbeobachtern ist dies nicht bewusst, oder es wird gerne verdrängt.

Was daraus nicht gefolgert werden kann, ist dass die offizielle Inflationsrate bewusst verfälscht oder manipuliert worden wäre oder dass sie überhaupt falsch gemessen ist. In kritischen Blogs wird vielfach so argumentiert. Im Rahmen dieses Artikels wollen wir zum Gesamtpaket vorerst nicht Stellung nehmen. Was aber klar ist: Die Inflationsmessung ist in den Vereinigten Staaten absolut nicht zeitkonsistent. Das langfristige Bild der Inflationsrate ist durch die Methoden-Wechsel stark geprägt oder sogar effektiv dominiert. Mit früheren Messmethoden läge sie heute deutlich höher, was noch nicht heißt, dass sie effektiv oder in der Realität höher liegt.

Warum ist der heute gültige Index nicht rückwärts korrigiert um den Effekt dieser Methoden-Wechsel? Verbraucherpreis-Indizes bleiben immer unverändert, auch wenn die Methodologie ihrer Erhebung wesentlich geändert worden ist, aus vertraglichen und analytischen Gründen:

In vielen oder den meisten Ländern hängen sehr viele Verträge aller Art am Verbraucherpreis-Index. Das beginnt bei den Löhnen. In der Nachkriegszeit waren Formen von Teuerungsausgleichs-Klauseln in der Industrie und generell in der Wirtschaft weit verbreitet. Es gab also und gibt mancherorts noch immer eine direkte formale Anbindung der Lohn- an die aufgelaufene Preisentwicklung. In vielen Ländern sind formale Indexklauseln gänzlich oder teilweise abgeschafft worden. Doch selbst wo sie abgeschafft worden sind, wirkt die Zunahme des Verbraucherpreis-Index immer noch als eine Bezugs- oder Referenzgröße für die Lohnzuwächse. Die Abhängigkeit ist nicht mehr mechanisch oder quantitativ fix, sie kann bei sehr schlechter allgemeiner oder Branchenkonjunktur ausfallen genauso wie bei Unternehmens-spezifischen Problemen. Oder (seltener) bei guter Konjunktur und höheren Gewinnen. Ein weiterer Grund für die Abhängigkeit der Löhne von der vergangenen Preisentwicklung kann die Indexierung der Mindestlöhne sein. Die Mindestlöhne haben einen erheblichen Einfluss auf das Lohngefüge oberhalb der Mindestlöhne.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Reallöhne in vielen großen Industrieländern, gemessen an den offiziellen Verbraucherpreis-Indizes über lange Jahre oder sogar Jahrzehnte ungefähr konstant geblieben sind. Das ist das Ergebnis dieser Referenz-Funktion der Verbraucherpreise für die Lohnbestimmung.

Doch die Rolle der Verbraucherpreis-Index geht weit über die Lohnindex-Klauseln und informelle Effekte auf die Lohnbestimmung hinaus: Vertraglich sind oft Mieten für Geschäftsliegenschaften oder für Wohnungen an den Verbraucherpreis-Index gebunden.

Herausragende Bedeutung hat der Verbraucherpreis-Index, weil typischerweise auch die Renten in den staatlichen umlagefinanzierten Rentenversicherungen mit dem Verbraucherpreis-Index je nach Land jährlich oder nach einer Formel angepasst werden. Selbst bei Pensionskassen gibt es Länder mit Inflationsindexierung, d.h. die Rentenansprüche werden an die aufgelaufene Teuerung angepasst. Auch Geschäftsfälle aller Art sehen eine Bindung an den Verbraucherpreis-Index vor - Versicherungsverträge, Steuerwerte von Immobilien usw.

Als Konklusion bleibt, dass der zeitliche Verlauf des Verbraucherpreis-Index in den USA in den letzten 50 Jahren von zwei grundlegenden methodischen Modifikationen geprägt ist, die beide bis heute eine gewichtige, ja teilweise dominante Wirkung ausüben. Diese beiden Modifikationen werden wir detailliert analysieren:

Einmal in ihrem historischen Kontext: Warum wurde die Indexkonstruktion geändert, was war die konkrete historische Entwicklung oder Situation, die das veranlasst oder ausgelöst hat? Was ist inhaltlich davon zu halten, welches sind die kritischen Punkte und Annahmen, aus damaliger und aus heutiger Sicht?

Schließlich ein dritter Gesichtspunkt: Wurde seither etwas Grundlegendes vergessen oder unterlassen? Hat es Neuerungen im Verbraucher-Verhalten oder auf der Angebotsseite gegeben, welche bei der seither angewandten Index-Methodologie nicht berücksichtigt sind?

Die Vereinigten Staaten bieten den Vorteil, dass dazu ein breites Grundlagenmaterial vorhanden ist, welches eine einigermaßen befriedigende oder mindestens erhellende Analyse erlaubt. Die Ergebnisse für die USA werden hervorheben, was es in Europa, spezifisch auch in der Eurozone und was es in Deutschland mit der Entwicklung der Reallöhne auf sich hat. Es sind die im Wesentlichen gleichen beiden Punkte, welche wir hervorgehoben haben: Erfassung der Wohnungskosten und Qualitätsänderungen.

Die Erfassung der Wohnungskosten in den Verbraucherpreis-Indizes in der Eurozone

In Europa liegen die Wohneigentümer-Quoten teilweise noch wesentlich höher als in den Vereinigten Staaten. Die höchsten Werte erreichen sie in den ostmitteleuropäischen Ländern des früheren Sowjetblocks. Dort wurden die Wohnungen fast vollständig privatisiert und zu sehr günstigen Konditionen an die bisherigen Mieter abgegeben. Die Wohn-Eigentümerquote liegt dort teilweise zwischen 90 und 100 Prozent. Ebenfalls sehr hoch liegt die Wohneigentümer-Quote in den südlichen Peripherieländern der Eurozone: Italien, Spanien, Griechenland, Portugal. Dort erreichen sie 80 Prozent und mehr. In Frankreich liegt sie bei rund 68 Prozent, im Vereinigten Königreich bei rund 65 Prozent.

Wichtig ist nun, dass in diesen Ländern die Wohnungskosten eine noch wesentlich drastischere Entwicklung als in Deutschland durchgemacht haben. Ihr Anteil an den gesamten Haushalt-Ausgaben ist deutlich stärker als in Deutschland gestiegen.

Graphiken: Anteile der großen Ausgaben-Gruppen im Verbraucherpreis-Index in Italien

Quelle: ISTAT, INE

Aus den Graphiken geht wunderschön hervor, wie explosiv die Wohnungskosten in den Wägungsschemas der beiden großen südlichen Peripherieländern der Eurozone zugelegt haben und dominant für die Lebenshaltungskosten geworden sind. Der Prozess hat sich dabei in viel kürzerer Frist als in Deutschland abgespielt, genauso wie umgekehrt der Bedeutungsverlust der Nahrungsmittel.

Das Pikante an der ganzen Sache: Im nationalen Verbraucherpreis-Index dieser Länder waren und sind die Wohnungskosten als Preise praktisch nicht enthalten. Die in den jeweiligen Verbraucherpreis-Indizes enthaltenen Wohnungskosten umfassen nur die effektiven Mieten (1-3 Prozent des Gesamtindex) sowie die Nebenkosten, also die Ausgaben für Heizung, Beleuchtung, Elektrizität, Wasser (8-10 Prozent) sowie für kleinere Reparaturen (2 Prozent). Die völlig dominanten Wohnkosten selbst bewohnten Eigentums (Eigentümerquote in Italien und Spanien liegt bei über 80 Prozent) sind schlicht nicht enthalten. Warum ist das so? Auf einen kurzen Nenner wegen einesteils des sehr spezifischen Regimes des Wohneigentums in den südlichen Peripherieländern. Andernteils wegen des geringen Anteils der Mieterverhältnisse sowie aufgrund spezifischer Mietregulierungen, welche die Mieten wertlos als Maßstab für die Messung der Wohnkosten von Eigentümern machten. Beide Faktoren machten offenbar die Statistik-Behörden ratlos, so dass die Position einfach weggelassen wurde.

Was heißt das für die Reallöhne? Die offiziellen Reallöhne haben in diesen beiden Ländern seit Beginn der 1990er Jahre stagniert. In Wirklichkeit dürften sie seit über zwei Jahrzehnten gefallen sein. Diejenige Position mit der mit Abstand größten Preissteigerung ist aus dem nationalen VPI ausgeschlossen. In diesen Ländern hat es immer formelle Index-Klauseln für die Anbindung der Löhne an die Preise gegeben. Die Stagnation der offiziell gemessenen Reallöhne (Italien, Spanien, Portugal) respektive die drastische Reallohnsenkung (Griechenland) sind effektiv ein drastischer Reallohnverlust (Italien, Spanien, Portugal) bzw. eine in der Geschichte noch die dagewesene Katastrophe (Griechenland).

Was für den VPI dieser Länder gilt, trifft ebenso für den hicp-Index der Europäischen Union zu. Die Wohnkosten selbst bewohnten Wohneigentums sind schlicht nicht enthalten, nicht nur diejenigen in den genannten Peripherieländern, sondern auch in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden, wo sie in den nationalen Indizes enthalten sind. Kommt noch hinzu, wie die Wohnkosten in den nationalen Preisindizes enthalten sind. Das kann hier nicht gezeigt werden, ist aber einem späteren Artikel vorbehalten.

Dieser hicp-Index wird von der EZB als offizieller Inflations-Maßstab verwendet, für den sie ein Inflationsziel von 2 Prozent bzw. leicht darunter verkündet und damit als Preisstabilität ansieht und verkauft. Wir werden die Qualität dieses Inflations-Ziels im nächsten Artikel noch detaillierter analysieren.

Hier nur soviel: Selbstverständlich lag und liegt die effektive Inflationsrate in der Eurozone weit über 2%, und zwar abgesehen von 2009 praktisch permanent. Effektiv inflationiert die EZB seit dem Beginn ihrer Existenz permanent und tut dies unter dem Deckmantel eines komplett missratenen Preisindex und Inflationsziels. Sie begründet dies noch mit Deflationsrisiken, weil ihr Index die Inflation definitorisch ausschließt. Kein Wunder, sind Italien, Spanien, Griechenland und Portugal verarmt, andere Länder (Frankreich, Deutschland) akut von der Verarmung bedroht, und die Eurozone kann kein Bein mehr vor das andere kriegen.

Kurz zusammengefasst: Die Wohnungskosten in Verbraucherpreis-Indizes haben es in sich: Modifikationen an ihrer Messmethodik haben gravierende Konsequenzen für Jahrzehnte (USA). Und in der Eurozone fehlt die wichtigste Komponente – die Kosten selbst bewohnten Eigentums – gänzlich. Sie ist nicht nur die quantitativ größte Komponente. Sie hat darüber hinaus eine Reihe von Charakteristiken, die sie für die gesamte Inflation noch gewichtiger machen. Das ist Thema des nächsten Artikels dieser Serie.

Hier finden Sie Teil 1 der Serie.

Hier finden Sie Teil 2 der Serie.


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