Politik

Richtungswahl in Großbritannien: Fundamentale Weichenstellung zwischen hartem Brexit und zweitem Referendum

Lesezeit: 7 min
10.12.2019 17:00
Die anstehende Parlamentswahl in Großbritannien ist eine Richtungswahl für die Zukunft des Landes. Auf der einen Seite steht der harte Austritt aus der EU, auf der anderen Seite ein mögliches zweites Referendum. Die Gegner beider Alternativen sind stark.
Richtungswahl in Großbritannien: Fundamentale Weichenstellung zwischen hartem Brexit und zweitem Referendum
Wahlkampf von Boris Johnson in einem Hubschrauber. (Foto: dpa)
Foto: Andrew Parsons

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Die Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich finden morgen Donnerstag, den 12. Dezember statt. Es sind die wichtigsten seit Jahrzehnten. Nicht nur geht es um die Frage des Brexit, sondern um den Zusammenhalt der Union und schließlich um eine Richtungswahl. Gemäß den Wahlumfragen durfte Premier Boris Johnson mit einer soliden Mehrheit rechnen. Doch die Ausgangslage ist knapper, als es die Umfrage-Ergebnisse lange suggerierten. Die letzte, detaillierte und breit basierte Umfrage von YouGov sagt ein Rennen auf des Messers Schneide voraus.

Der britische Premier Boris Johnson geht mit einer komfortablen Ausgangslage in die Wahl, trotz eines chaotischen und turbulenten Auftakts seit seiner Regierungsübernahme im Juli. Seine Botschaft ist einfach und eingängig ‚Get Brexit done‘ - den Brexit vollziehen. Er will, so seine Botschaft, den Wählerwillen von 2016 endlich implementieren. Der Plan tönt einfach:

  • Bis Ende Januar 2020 das mit der Europäischen Union ausgehandelte Übergangsabkommen im Parlament durchbringen und damit per 31. Januar aus der EU ausscheiden.

  • Bis Ende 2020 ein neues umfassendes Handelsabkommen mit der EU aushandeln und implementieren. Nachher ist man endgültig geschieden.

  • Eine Zwischenstation ist der 30. Juni 2020: Bis dann kann die britische Regierung eine Verlängerung der Übergangsfrist bis 2022 beantragen. Nachher ist das mindestens nicht mehr vorgesehen, wenn nicht unmöglich. Johnson hat ausgeschlossen, dass er als Premier diese Option ziehen würde. Sein Programm ist also, den Brexit zeitlich in sehr kurzer Frist durchzuziehen.

Das bisherige entschlossene Vorgehen von Premier Johnson und diese ambitiöse Planung haben Nigel Farage, den Vorsitzenden der Brexit-Partei, veranlasst, Kandidaten seiner Partei aus allen 317 (von 650) Wahlbezirken zurückzuziehen, welche bisher von Tories vertreten wurden. Das ist auch ein Tribut an das Wahlsystem, das auf Majorzwahlen beruht. Der Sieger eines Wahlbezirks wird gewählt, alle anderen gehen leer aus. Der Rückzug der Brexit-Partei, die noch bei den EU-Parlamentswahlen im Mai / Juni obenaus geschwungen hatte, wiederum hat zu einem Kollaps ihrer Wahlaussichten geführt. Die potentiellen Wähler, welche den Brexit wollen, sind infolgedessen in Scharen zu den Tories übergelaufen. Darauf basiert der phänomenale Anstieg von Johnson’s Tory-Partei in den Umfragen seit Juli 2019:

Graphik: Wahlumfragen (‚poll of polls’) 2019

Quelle: Wikipedia

Die Tories haben außerdem die Kandidatenauswahl komplett verändert. Nach ihrem Ausschluss aus der Unterhaus-Fraktion wurden fast alle ‚Remainers‘ nicht mehr als Kandidaten nominiert. Die vorher tief gespaltenen Tories sind in der kurzen Amtszeit von Premier Johnson somit zur Brexit-Partei mutiert. Gewinnen die Tories die Wahlen mit einer absoluten Mehrheit, dürfte Johnson längere Zeit keine Probleme mehr mit einem widerspenstigen Unterhaus haben.

Ein Problem stellt sich allerdings für Johnson. Mit seinem Modell der Zollgrenze zwischen England/Schottland/Wales und Nordirland hat er sich den Zorn der nordirischen DUP zugezogen. Er kann, wenn er keine absolute Mehrheit gewinnen sollte, nicht mit deren Unterstützung rechnen, weil die kleine Partei ihn persönlich als Verräter und Lügner wahrnimmt.

Über die Brexit-Frage hinaus ist das Programm der Konservativen weniger ambitiös und vor allem weniger konkret. Es sieht im Wesentlichen ein Budget in den nächsten hundert Tagen vor. Erhöhte Ausgaben für den staatlichen Nationalen Gesundheitsdienst NHS und für das Bildungswesen stehen im Vordergrund vor, daneben auch für die Infrastruktur, den Transport und für die Polizei. Versprochen wurde, die Steuern nicht zu erhöhen, gewisse Steuern zu senken, was den Ausgaben-Spielraum einschränkt.

Über die wirklich wichtigen Fragen enthalten das Programm und die Stellungnahmen des Premiers mehrheitlich Gemeinplätze. Wie sollen die britische Wirtschaft und Gesellschaft in einer Post-Brexit-Welt längerfristig organisiert sein, was sind die Zielsetzungen und Prinzipien? Bei einem vollzogenen Austritt haben Regierung und Parlament enormen Gestaltungsspielraum wie kaum je in der Vergangenheit.

In einer zentralen Frage ist die Regierung naiv und/oder verlogen. Bei einem Austritt verliert das Vereinigte Königreich automatisch alle Vorteile der bisherigen EU-Handelsabkommen mit Drittparteien. Die britische Wirtschaft wird gegenüber anderen Ländern auf den Status von WTO-Abkommen zurückfallen. Die Aushandlung neuer bilateraler Abkommen mit Drittstaaten wird aller Erfahrung nach Jahre brauchen. Zudem ist unklar, ob die jeweiligen Handelspartner die bisherigen vorteilhaften Bedingungen einräumen werden.

Johnson und die die Brexit-Hardliners haben solche Bedenken immer beiseite gewischt und von entzückenden neuen Perspektiven gesprochen. Effektiv stecken die USA unter Präsident Trump und die britische Regierung bereits in Vorverhandlungen. Doch die Sache ist auch dort nicht gegessen. Die Forderungen der USA zielen auf eine Öffnung des NHS für amerikanische Anbieter, was Johnson im Wahlkampf ausgeschlossen hat. Zudem müsste ein solches Abkommen auch im amerikanischen Senat und Repräsentantenhaus abgesegnet werden, was wegen der Nordirland-Frage unsicher erscheint.

Der Kurs von Johnson ist auf die Machteroberung ausgelegt und nur von diesem inspiriert. Um die Unterstützung von Farage zu sichern, wird ein zeitlich hoch konzentrierter, in der Praxis nicht zu schaffender Zeitablauf für den Brexit versprochen. Entweder Johnson macht, einmal gewählt, wieder eine Pirouette (Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern), oder er muss sich effektiv nach dem Auslaufen des Übergangsabkommens Ende 2020 mit dem WTO-Status nicht nur gegenüber Drittländern, sondern auch gegenüber der EU abfinden.

Außerdem riskiert Johnson den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Bei einem Brexit wollen die Schottischen Nationalisten (SNP) ein zweites Referendum über den Austritt aus dem Königreich anstreben, damit Schottland in der Europäischen Union bleiben kann. Auch in der Irland-Frage riskiert Johnson eine Eskalation in alle möglichen Richtungen. Es ist ein Programm des englischen Nationalismus und nicht mehr für das Vereinigte Königreich.

Spagat bei Jeremy Corbyn's Labour Partei

Die Labour-Partei unter der Führung von Jeremy Corbyn ist nach dem Absturz in den Wahl-Umfragen bis in den Sommer viel später als die Konservativen zu einer Aufholjagd gestartet. Sie liegt je nach Institut ungefähr 7-10 Prozent hinter den Konservativen. Das Muster ist aber doch recht ähnlich wie bei den Wahlen 2017. Auch dort startete Labour mit einem riesigen Rückstand und holte innert weniger Wochen enorm auf, was zum ‚hung parliament‘ in der Brexit-Frage führte. Eine Unsicherheit besteht von daher.

Graphik: Wahlumfragen 2017

Quelle: Wikipedia

Der nicht unbeträchtliche Anstieg der Labour-Partei in den Umfragen 2019 ist ebenfalls zu einem wesentlichen Teil der Wahlarithmetik zuzuschreiben. Für Wähler, die den Brexit verhindern wollen, stellt die Labour-Partei in vielen Gebieten die einzige Alternative zu den Brexit-Tories von Boris Johnson dar. Eine absolute Mehrheit der Labour-Partei im Parlament mit einem Premier Jeremy Corbyn erscheint unwahrscheinlich, auch wenn die Umfragen aus der jüngeren Erfahrung mit einer Prise Vorsicht zu nehmen sind. Da die Gefahr einer Corbyn-Mehrheitsregierung gebannt scheint, Corbyn und Labour als zentrale Botschaft aber ein zweites Brexit-Referendum (‚final say’) in Aussicht gestellt haben, können oder müssen viele Wähler (manche naserümpfend) taktisch wählen, um ein Referendum zu ermöglichen. Das Majorz-Wahlrecht sorgt für diese Logik. Die Wahl 2019 ist also eine taktische Wahl primär um den Brexit: ‚Get Brexit Done’ gegen ‚Final Say‘.

Corbyn selber hat explizit eine eigene Position zum Brexit ausgeschlossen. Das liegt zum einen daran, dass er selber immer gegen die Europäische Union eingestellt war. Sein persönliches Ziel wäre wohl ein EU-Austritt, aber verbunden mit einer Zollunion. Zum andern hat er das objektive Problem, dass viele Labour-Stammwähler in traditionellen Labour-Hochburgen effektiv für den Brexit sind, teilweise gegen ihre eigenen Interessen. Bei einer klaren und unmissverständlichen ‚Remain‘-Position der Partei bestünde noch verstärkt das Risiko, dass diese Stammwähler - wohl ebenfalls teilweise naserümpfend - die Tories wählen würden.

Die zweite Riege der Labour-Partei hat dagegen eine glasklare Position. Sie befürwortet wie Corbyn ebenfalls ein Referendum, wobei eine Alternative der Brexit wohl verbunden mit einer Zollunion und die andere der Verbleib in der Europäischen Union wären. Das ist das, was McDonnell, Starmer und Abbott anstreben.

Labour hat im Wahlkampf den Brexit, d.h. die wichtigste Frage des Landes, tunlichst gemieden. Stattdessen hat Corbyn den Akzent auf den Gesundheitsdienst NHS, soziale Fragen sowie auf ein ambitiöses Infrastrukturprogramm, verbunden auch mit Verstaatlichungen gelegt. Dieses soll durch Steuern für die reichsten 5 Prozent der Bevölkerung finanziert werden. Diese Finanz-Arithmetik dürfte einer Überprüfung nicht unbedingt standhalten. Außerdem macht Labour eine Angst-Kampagne gegen Johnson, dass dieser den Austeritätskurs der vergangenen 10 Jahre fortsetzten würde. Dass Labour den Schwerpunkt so legt, ist genau wie bei den Konservativen wahltaktisch bedingt. Um den Durchmarsch der Brexit-Tories in den Labour-Hochburgen zu verhindern, muss Corbyn dort mit dringend erwünschten sozialen Errungenschaften bzw. mit Abstiegsängsten punkten.

Dass Labour so zittern muss, ist dem Vorsitzenden Jeremy Corbyn primär mit seinem Kurs in der Brexit-Frage zu verdanken. Die Konservativen haben seit 2015 ein unsägliches Spektakel aufgeführt. Normalerweise müssten sie hochkant die Wahl verlieren, vor allem weil Boris Johnson außerhalb der Brexit-Stammwählerschaft nach wenigen Monaten bereits der unpopulärste Regierungschef aller Zeiten ist. Doch Corbyn hat, teilweise aus einer objektiven Schwierigkeit, teilweise durch die eigene Befangenheit, eine unglaubliche Position für einen potentiellen Regierungschef eingenommen: Er hat in der Öffentlichkeit keine eigene Position in der wichtigsten Frage des Landes. Was allerdings für ihn spricht: Corbyn ist ein exzellenter ‚campaigner’, der es schon mehrfach aus aussichtslos scheinenden Positionen zu respektablen Ergebnissen gebracht hat. In den Fernseh-Debatten mit Boris Johnson hat er sich erstaunlich gut gehalten.

Die Liberalen - Die stürmische Jo Swinson mit dem harten Kurs ins Aus

Das Erstarken Labours trotz eines zutiefst unpopulären Oppositionsführers hat auch mit einer Schwäche der Liberalen zu tun. In der zentralen Brexit-Frage hat sich die neue Vorsitzende Jo Swinson früh auf eine Extremposition festgelegt. Nämlich den Rückzug von Artikel 50 zu ziehen und den Brexit abzublasen, ohne weitere Abstimmung. Dass eine Volksabstimmung einfach ignoriert und von der Regierung in Eigenregie beerdigt wird, erscheint auch vielen Wählern, die gegen den Brexit sind, als unvorstellbar. Damit würde die Institution eines Referendums ad absurdum geführt. Zudem hat sich die Vorsitzende mit einer zunächst primär gegen Corbyn statt gegen Johnson gerichteten Rhetorik ins Abseits manövriert. Es gäbe keine Perspektive für eine Koalitions-Regierung mit Labour unter Corbyn. Einmal in Gang gekommen, ist die Abkehr von den Liberalen zu Labour ein wahlarithmetischer Selbstläufer. Das sind die Gründe für das Abtauchen der Liberalen in den Umfragen seit dem Sommer.

In der Summe ist eine Prognose schwierig. Die Umfrage-Ergebnisse sind bis zur Woche vor den Wahlen deutlicher als 2017 für die Konservativen. Doch effektiv sind vor allem regionale Ergebnisse von erheblicher Bedeutung. Die Konservativen dürften in Schottland zahlreiche Mandate verlieren, ebenso im Großraum London. Sie sind darauf angewiesen, in den Labour-Hochburgen in den ehemaligen Industrieregionen des Nordens breitflächig zu punkten und zahlreiche neue Mandate zu gewinnen. Die schottischen Nationalisten dürften Zugewinne erzielen, während Labour mit deutlichen Verlusten zu rechnen hat. Die Liberalen werden mit wenigen Mandaten Vorlieb nehmen müssen. Die realistischen möglichen Ergebnisse sind also erstens eine konservative Mehrheitsregierung, zweitens eine konservative Minderheitsregierung ohne Mehrheit in der Brexit-Frage, d.h. erneut ein ‚hung parliament‘, oder allenfalls, aber sehr unwahrscheinlich, drittens eine Labour-Minderheitsregierung.


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