Finanzen

Wohneigentum wird ausgeblendet: Warum die Inflation in Europa viel zu niedrig ausgewiesen wird

Lesezeit: 11 min
05.01.2020 10:10
Etwa drei Viertel aller Erdenbürger leben in Eigentumswohnungen oder Häusern. Doch die Kosten für Wohneigentum werden fast nirgendwo zur Berechnung der Inflation hinzugezogen, obwohl sie in den vergangenen Jahren besonders stark gestiegen sind.
Wohneigentum wird ausgeblendet: Warum die Inflation in Europa viel zu niedrig ausgewiesen wird
Häuserbau in Hessen. (Foto: dpa)

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Die Wohnkosten sind in vielen Industrieländern zur größten Position der Lebenshaltungskosten geworden. Auch in Schwellenländern nimmt ihre Bedeutung im Zuge der Verstädterung in Großstädten und Agglomerationen rapide zu. Doch in den Verbraucherpreis-Indizes reflektiert sich dies nur abgeschwächt oder sogar gar nicht. Ein wichtiger Grund betrifft die massive Zunahme von Wohneigentum. Die laufenden Kosten von Wohneigentum werden in vielen Ländern gar nicht im Index der Verbraucherpreise erfasst. Der folgende Artikel demonstriert dies anhand ausgewählter Beispiele.

Wohneigentum als Standardfall, Deutschland und vor allem die Schweiz als Spezialfälle

Global gesehen ist der durchschnittliche Weltbürger heute Eigentümer seiner Wohnung, sei dies ein Luxus-Apartment in New York, eine einfache 4-Zimmer Wohnung in China, ein kleines Reihenhäuschen in den Midlands oder in den Niederlanden, eine Favela-Hütte in Rio, eine Lehm-Hütte in Bangladesh oder eine Datscha oder eine kleine Eigentumswohnung in den Türmen rund um Moskau. Das Bild vom Mietverhältnis und vom Mieter einer Wohnung als der dominanten Wohnform entstammt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es hat in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg bereits stark abgenommen. In den letzten drei Jahrzehnten ist global gesehen Wohneigentum zur dominanten Wohnform geworden.

Die folgenden Graphiken zeigen den Anteil des Wohneigentums am Wohnungsbestand in den wichtigsten und bevölkerungsreichsten Ländern der Welt. Detailliert aufgeführt sind vor allem die Länder Europas, auch die kleineren und kleinsten Länder. Dies aus dem Grund, dass wir in unserer Serie die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank genauer analysieren wollen. Dabei sind jeweils die letzten verfügbaren Daten aus zwei Quellen aufgeführt. Die eine ist eine Übersicht in Wikipedia, wobei die Quellen dort angeführt sind. Die andere betrifft eine spezialisierte Website über nationale Wohnungs- und Immobilienmärkte für alle Kontinente, wo die Quellen ebenfalls detailliert aufgeführt sind. In beiden Fällen sind die meisten Quellen staatliche statistische Ämter und basieren auf dem Zensus, d.h. der Bevölkerungs- und Wohnungszählung, mit Fortschreibungen in den Zwischenperioden. Die Daten der Erhebung der Eigentumsquoten sind jeweils neben dem Kürzel für den Namen des Landes angeführt. Aus Platzgründen nicht auch noch aufgeführt sind die verschiedenen Länder Afrikas und des Mittleren Ostens. Für einige Länder wie Indonesien, Vietnam, Äthiopien oder der Demokratischen Republik Kongo habe ich im Übrigen keine Angaben gefunden.

Graphiken Wohneigentumsquoten im Querschnitt für die wichtigsten Länder der Welt: Letzte Daten aus Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Pazifik

Quellen: ‘Housing ownership rates’ in Wikipedia, HOFINET.ORG, eigene Berechnung

Die Daten zeigen eines unmissverständlich. Die große Mehrheit der Weltbevölkerung ist heute Eigentümer seiner Wohnung, Wellblechhütte oder seines Hauses, was auch immer die Qualität derselben sein mag. Die statistischen Befunde lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:

In China und Indien, den mit Abstand größten Ländern der Welt mit je rund 1.4 Milliarden Einwohnern, ist das Wohneigentum mit heute 90 Prozent (China) und fast 90 Prozent (Indien) die absolut dominante Wohnform. Auch in zwei weiteren bevölkerungsreichen Ländern Asiens wie Pakistan (73.6 %) oder Bangladesh (82.1 %) liegen die Eigentumsquoten recht hoch bzw. hoch. Nur im Stadtstaat Hongkong und in den Philippinen liegen diese deutlich niedriger, nämlich knapp über 50 %. Generell sind aber die Eigentumsquoten sonst in Asien hoch, nur noch in Südkorea (56.8 %) und in Japan (61.6 %) liegen sie deutlich unter 80 Prozent.

Extrem hoch sind die Wohneigentums-Quoten darüber hinaus in den Ländern des ehemaligen Sowjet-Blocks und der von der Sowjetunion kontrollierten osteuropäischen Länder. Sie liegen typischerweise bei über 80 und teilweise über 90 Prozent. Etwas niedriger sind sie nur in der Tschechischen Republik (78 %) und in Slowenien (76.1 %) mit knapp unter 80 Prozent. Das ist insbesondere deshalb auch wichtig, weil durch das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU und durch die Beitritte vieler osteuropäischer Länder das Schwergewicht der EU und erst recht der Eurozone sich nach Ostmitteleuropa verlagert hat und weiter verlagern wird. Auch neue Kandidatenländer wie Serbien oder Nord-Mazedonien haben extrem hohe Eigentumsquoten.

Auch sonst sind die Eigentumsquoten in der Eurozone recht hoch. Besonders in den Mittelmeerländern wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern und Malta liegen sie teilweise deutlich über 70 Prozent, aber auch in Finnland und in Belgien. In Frankreich und in den Niederlanden, wo es einen erheblichen Anteil des sozialen Wohnungsbaues mit stark verbilligten Mieten gibt, liegt der Anteil bei rund zwei Dritteln. Ausreißer nach unten sind lediglich Deutschland und Österreich mit knapp über 50 Prozent, und - Symbol der gescheiterten Immigrations- und Geldpolitik - die Schweiz. Das Land ist aber stolz darauf, einen gut funktionierenden Mietsektor zu haben, was einigermaßen zutrifft.

In den angelsächsischen Ländern - UK, USA, Irland, Australien, Neuseeland, Kanada - liegen die Eigentümerquoten typischerweise bei rund zwei Dritteln. Sie sind aber in den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Auch in Lateinamerika sind in den großen Ländern die Eigentumsquoten bei rund 70 Prozent und darüber. In Ländern wie Brasilien, Mexiko, Venezuela und in Chile sogar sehr deutlich. Mit Kolumbien gibt es einen Ausreißer nach unten mit nur rund 36 Prozent.

Sehr unterschiedlich liegen die Eigentümerquoten in Afrika und im Mittleren Osten. In Nigeria, dem größten Land Afrikas, liegt die Eigentümerquoten bei über 70 Prozent. In Mozambique liegen sie bei über 90 Prozent, umgekehrt im bevölkerungsreichen, aber sonst bettelarmen Ägypten nur bei rund 33 Prozent, und in Kenia nur bei 17.7 Prozent.

Auch im Mittleren Osten divergieren die Wohneigentumsquoten ganz erheblich. Sie liegen bei rund 70 Prozent im Iran, aber bei nur 40 Prozent in Saudi-Arabien mit seinen vielen ausländischen Arbeitskräften, die wenig oder keine Rechte haben.

Als Konsequenz aus diesem statistischen Überblick ergibt sich: Wohneigentum ist heute weltweit die dominante Wohnform. Für rund die Hälfte der Weltbevölkerung dürfte die Eigentumsquote bei über 80 Prozent liegen, für einen weiteren Viertel bei über 70 Prozent. Nur in ganz wenigen Ländern liegt die Eigentümerquote unter 50 Prozent. Das sagt wenig bis gar nichts über die Qualität der Wohnung oder des Hauses aus. Eine durchschnittliche Mietwohnung in der Schweiz oder in Deutschland hat eine ganz andere Qualität als eine im Eigentum befindliche Hütte oder ein kleiner Wohnungsteil in Bangladesh oder Brasilien. Unser Überblick soll nur motivieren bzw. Grundlagen liefern für zwei Gesichtspunkte: Wie steht es um die Messung der Wohnungskosten im Verbraucherpreis-Index, und wie steht es um das System der Altersvorsorge.

Wohneigentumsquoten im Längsschnitt: Die Entwicklung über die letzten Jahrzehnte

Nach diesem Querschnittvergleich soll die Entwicklung über die Zeit hinweg kurz diskutiert werden. Dabei kann unmöglich auf dieselbe Breite wie beim Querschnitt Bezug genommen werden. Eines ist klar: Die dominante Eigentümerquote ist das Ergebnis der letzten 30 Jahre.

Der Zusammenbruch des Sowjetsystems hat in Russland wie in praktisch allen ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion und den Satellitenstaaten mit der Privatisierung des existierenden Wohnungsbestandes geendet. Die vorher staatlichen, betrieblichen oder allenfalls genossenschaftlichen Wohnungen wurden dabei den bisherigen Bewohnern zu einem äußerst günstigen Preis übergeben. Hintergrund war der wirtschaftliche Zusammenbruch mit der Finanzschwäche des Staates, welche die bisherigen Modelle obsolet machte und praktisch keine Alternative zur Privatisierung übrigließ. Genau gleiches geschah in China in den Jahren 1998-2003. Die Privatisierung des Wohnungsbestandes und des Wohnungsmarktes waren dort Teil einer umfassenden Privatisierung der vorher allesamt staatlichen Unternehmen, vor allem auch des Bau- und Immobiliensektors. Eine wichtige Motivation war dabei, die Qualität der Neubauten gegenüber dem bisherigen Bestand massiv verbessern zu können. Der Neubau nachher erfolgte hier wie dort hauptsächlich von privaten Unternehmen und Investoren getragen für einen privaten Wohnungsmarkt. Deshalb die extrem hohen Eigentumsquoten in dieser Ländergruppen.

In den klassischen Industrieländern des Westens erfolgte dieser Umstieg vom früher dominanten Miet- auf den Eigenheim-Sektor ungleichmäßig, aber generell viel weniger abrupt und über einen längeren Zeitraum verteilt. Stellvertretend sollen hier nur ganz wenige Länder gezeigt werden, dies auch vor dem Hintergrund der Fragestellung, wie denn die Wohnkosten bei Wohneigentum zu messen wären.

In den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten Land der Weltwirtschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erfolgte dieser Umstieg im und gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Der steile Anstieg der Eigentümerquote erfolgte bis Mitte der 1960er Jahre. Seither liegt diese knapp unter zwei Dritteln.

Graphik Wohneigentümerquote USA 1900 - 2018

Quelle: Census, Fredgraph

Die Periodisierung ist hier sehr einfach vorzunehmen. Bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus wurden praktisch nur die Mieten vermieteter Wohnungen gemessen. Sie wurden für die Berechnung der Wohnungskosten auch von Wohnungen und Häusern im Wohneigentum herangezogen. Von 1948 bis in den Herbst 1982 wurde ein Modell verwendet, das die Wohnkosten selbst bewohnten Eigentums direkt zu quantifizieren versuchte. Wir werden auf dieses in der Serie zurückkommen. Seit Herbst 1982 bis und mit heute verwendet das Bureau of Labor Statistics (BLS) ein Modell der Eigentümer-Miete (engl. Owner Equivalent Rent, kurz OER). In der Konsequenz wird versucht, die Wohnkosten selbst bewohnten Wohneigentums über Marktmieten für vergleichbare Objekte zu ermitteln. Auch auf dieses Modell werden wir ausführlich zurückkommen.

Eine zweite Entwicklung, die typisch für Westeuropa und in einem Punkt speziell ist, kann für das Vereinigte Königreich (VK) aufgezeigt werden. Mietverhältnisse waren bis und mit Zweitem Weltkrieg dominant. Von Kriegsende bis zur Großen Finanzkrise von 2008/09 stieg die Eigentümerquote dann steil an, unter anderem Folge einer Politik der Eigentums-Förderung und der Expansion des Kredits zum Erwerb - genau gleich wie in vielen westeuropäischen Ländern. In den letzten Jahren ist die Eigentümerquote wieder leicht gesunken. In der Nachkriegszeit wurde aber nicht nur das Wohneigentums, sondern auch der soziale Wohnungsbau für sozial Schwächere gefördert. Das ist ebenfalls typisch für viele westeuropäische Länder. Beim Vereinigten Königreich ist hingegen speziell, dass der soziale Wohnungsbau im Mietsegment früh dominant wurde. Der private Mietmarkt verschwand praktisch, weil die Mietgesetzgebung vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre sehr restriktiv war. Für Eigentümer war der Verkauf die attraktivere Option. Erst mit der Deregulierung des Wohnungsmarktes in der Thatcher-Ära wurde die Mietgesetzgebung liberalisiert. Der Anteil der privaten Vermietung hat sich seither wieder etwas erholt. Was aber völlig misslang: Wohnungen wurden im Vereinigten Königreich deshalb trotzdem nur sehr wenige gebaut.

Graphik: Wohneigentümer- und Mieterquote im Vereinigten Königreich 1939 - 2018

Quelle: Office of National Statistics (ONS)

Weil Mietverhältnisse mit Marktmieten praktisch verschwanden, sah sich das ONS veranlasst, die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums mit einem eigens entwickelten Modell abzubilden. Dieses Modell ist seit 1973 Teil des Retail Price Index (RPI), des offiziellen Verbraucherpreis-Indexes im Vereinigten Königreich. Wir werden auch auf dieses Modell detailliert zurückkommen. Es spielt eine bedeutende Rolle für die sektorale, für die makroökonomische und selbst für die politische Entwicklung des Vereinigten Königreichs.

In den Mittelmeerländern entwickelte sich die Eigentümerquote lange ganz ähnlich wie im Vereinigten Königreich. Von leicht höherem Ausgangsniveau nach dem Zweiten Weltkrieg an bis in die 1960er Jahre leicht, aber dann steil aufwärts. Das gilt für Italien, für Spanien, für Griechenland, Portugal usw. Diesen Ländern ist gemeinsam, dass sie während zweier Jahrzehnte, von Anfang der 1970er bis in die frühen 1990er Jahre, hohe Inflationsraten und gleichzeitig eine äußerst restriktive Mietgesetzgebung und Mietpreis-Regulation hatten, ein Erbe faschistischer Diktaturen. Weil die Mietpreise der Inflation nicht folgen durften, wurde das Vermietungsgeschäft völlig unattraktiv. Typisch waren in den 1970er Jahren verlotternde Wohnungen mit teils sehr prekären sanitären Bedingungen. Durch die Gesetzgebung wurde darauf der Erwerb von Wohneigentum erleichtert. Für die Vermieter eine Gelegenheit, noch etwas aus dem entwerteten Kapitalstock herauszuschlagen, für die Mieter, günstig an Wohneigentum heranzukommen. Die Eigentumsquote stieg darauf hin stark an, bis hin zum Höchststand in oder kurz nach der Großen Finanzkrise von 2008 / 09.

In diesen Ländern war und sind bis heute die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums überhaupt nicht in den nationalen Verbraucherpreis-Indizes abgebildet. Wohneigentum, die dominante Form von Wohnen mit teils Quoten von gegen 80 Prozent oder darüber, ist zwar in den regelmäßig erhobenen Haushalts-Budgets von repräsentativen Haushalten zur größten Position geworden. Sie kommt aber im Verbraucherpreis-Index aus zwei Gründen nicht vor: Früher waren die Mieten so stark reguliert, dass ein Ansatz analog zu den Vereinigten Staaten oder zu Deutschland über äquivalente Marktmieten unmöglich und verfälschend erschien. Und heute gibt es kein genügend breites Marktsegment an vermieteten Wohnobjekten mehr, dass eine Messung über Marktmieten erlauben würde. Als Beispiel sei hier Italien angeführt.

Graphik: Wohneigentümer und Mieterquoten in Italien

Quelle: ISTAT

In Italien hat es keinen bedeutenden sozialen Wohnungsbau gegeben. Was vorkam, war ein genossenschaftlicher Wohnungsbau. Wie die Nutzung von Wohnungen als Teil der Entlohnung, etwa für einen Abwart, ist diese Form in der Statistik unter ‚Andere Formen‘ subsumiert. Im Gegenzug war aber der ganze private Mietmarkt sehr strikt reguliert. Wie im Vereinigten Königreich wurde so der Verkauf die einzige attraktive Option für Vermieter. In den 1990er und frühen 2000er Jahren wurde der private Mietmarkt auch in Italien dereguliert. Mit der unvermeidlichen Konsequenz extrem starker Mietsteigerungen, wiederum ohne bedeutende Neubautätigkeit im Mietsektor.

Viele Länder in der Eurozone führen somit nur die quantitativ relativ unbedeutenden effektiven Mieten unter den Wohnkosten in ihren nationalen Verbraucherpreis-Indizes auf. Es trifft dies nicht nur für die vielen ost-/mitteleuropäischen Länder zu, sondern eben auch für die erwähnten sechs Mittelmeer-Länder. Aber auch andere zusätzliche Länder sind mit der gleichen Struktur konfrontiert. Frankreich, Belgien und Österreich etwa haben ebenfalls praktisch nur die Mieten als Wohnungskosten im Verbraucherpreis-Index. Österreich hat zwar einen relativ großen Mietmarkt, aber er ist, etwa in der Hauptstadt Wien, vom sozialen Wohnungsbau mit einer ganz eigenen Preissetzung dominiert. Irland hat an sich die gleiche Struktur, führt aber als Konzession an die Wohnungskosten selbst bewohnten Wohneigentums zusätzlich die Hypothekenzinsen respektive deren Sätze im Verbraucherpreis-Index auf. Finnland schließlich ist ein sehr interessanter Fall. Dort werden die Kosten selbst bewohnten Eigentums im Verbraucherpreis-Index erfasst, die angewandte Methodologie hat aber über die letzten Jahrzehnte mehrmals gewechselt. Gegenwärtig operiert das Statistik-Amt mit einem den USA von 1948 bis 1982 ähnlichen Ansatz. (einem ‚net acquisition approach’). Auch auf diesen werden wir kurz eingehen.

Zum Schluss soll Deutschland als Beispiel für eine Gruppe von Ländern angeführt werden, welche wie seit 1982 die Vereinigten Staaten Marktmieten vergleichbarer Objekte als Wohnungskosten selbst bewohnten Wohneigentums im Verbraucherpreis-Index aufführt. Zu diesen Ländern gehören auch die Niederlande. Spezifisch an Deutschland ist natürlich, dass die Eigentümerquote im internationalen Vergleich bis heute sehr niedrig und nur wenig angestiegen ist. In Deutschland hat sich überdies das Gegenteil der britischen Entwicklung abgespielt: Zunächst ein Zuwachs der Eigentümerquote und des sozialen Wohnungsbaues bis in die 1970er Jahre. Seither ein zunächst allmählicher, dann seit den frühen 2000er Jahren ein massiver Bedeutungsverlust des sozialen Wohnungsbaues.

Gemeinsam ist diesen beiden Ländern, dass sie bis heute einen relativ bedeutenden Mietsektor aufweisen, der auf den ersten Blick einigermaßen repräsentative Marktmieten zulässt. In diesen Ländern haben die Wohnungskosten somit ein Gewicht im Verbraucherpreis-Index, wie es auch in den Haushalts-Budgets repräsentativer privater Haushalte erscheint.

Graphik: Wohneigentums- und Mieterquoten in Deutschland 1950 - 2018

Quelle: Destatis

Im Deutschland der Nachkriegszeit waren die Kosten selbst bewohnten Wohneigentums über Marktmieten immer Teil der Wohnungskosten im nationalen Verbraucherpreis-Index. Dies war jedenfalls der Fall für den Index der Lebenshaltungskosten, wie er früher in der Bundesrepublik und zu Beginn des vereinigten Deutschland hieß. Das zeichnet Deutschland im internationalen Kontext aus und entspricht der deutschen Tradition der Statistik. Wie wir noch sehen werden, bedeutet das noch nicht, dass die Wohnungskosten damit adäquat oder korrekt abgebildet sind, genauso wenig wie in Frankreich oder in den Niederlanden.

Summa summarum haben wir heute eine globale Situation, bei der zwischen zwei Drittel und 80 Prozent aller Haushalte in selbst bewohntem Eigentum leben. Die Quantifizierung der Kosten selbst bewohnten Eigentums ist eine der größten Baustellen in der monetären Makroökonomie. In vielen Ländern gibt es praktisch keinen Mietsektor, der irgendwie als repräsentativ angesehen werden kann. Und selbst wo es ihn gibt, nur in wenigen Ländern gibt es Modelle und Versuche, diese Kosten selbst bewohnten Wohneigentums im Verbraucherpreis quantitativ abzubilden. In den meisten Ländern sind diese Kosten im nationalen Verbraucherpreis-Index überhaupt nicht erfasst.

Dies trifft insbesondere auf die meisten Mitgliedsländer der Eurozone zu. Das Pikante ist, dass ausgerechnet diese Kosten über die letzten 50 Jahre am meisten gestiegen sind, und zwar weltweit, aber insbesondere in den fortgeschrittenen Industrieländern, und gerade auch in Europa und vor allem in der Eurozone seit Einführung des Euro. Angesichts dieser nationalen Praktiken überrascht es nicht, dass die EZB ihren harmonisierten Index der Verbraucherpreise (engl. Harmonized Index of Consumer Prices, kurz hicp) ebenfalls nur mit den effektiven Mieten als Wohnkosten berechnet. Die Verbraucherpreis-Indizes der meisten Länder wie auch der hicp unterschätzen daher die effektive Teuerung, und dies zum Teil ganz massiv. Was dies für die Länder der Eurozone, für die Reallöhne und Renten und für die Geldpolitik bedeutet, werden wir im nächsten Artikel dieser Serie behandeln.


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