Finanzen

Nullzinsen reißen Milliarden-Lücken in die deutsche Altersvorsorge

Lesezeit: 8 min
30.01.2020 15:00
Die Nullzinsen der EZB führen zu Milliardenlücken in den deutschen Vorsorgesystemen. Betroffen sind Pensionskassen, Krankenkassen sowie die Geldanlagen auf den Privatkonten der Bürger.
Nullzinsen reißen Milliarden-Lücken in die deutsche Altersvorsorge
Altersarmut: Ein immer realistischeres Szenario für viele Deutsche. (Foto: dpa)
Foto: Karl-Josef Hildenbrand

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Die seit mehr als zehn Jahren von der Europäischen Zentralbank betriebene ultralaxe Geldpolitik reißt von Jahr zu Jahr größere Lücken in die deutschen Vorsorgesysteme. Betroffen vom Leitzinsniveau von null Prozent sind nicht nur Sparer, deren Geld auf dem Konto faktisch entwertet wird, sondern auch die großen Vorsorgesysteme wie beispielsweise Betriebsrentenfonds und Krankenkassen.

Die Sparer trifft es dabei besonders hart. Sie erhalten nicht nur keine Zinsen mehr, sondern ihre Guthaben verlieren aufgrund der Inflation stetig an Kaufkraft. Zudem sind die Banken zunehmend dazu übergegangen, ihre eigenen durch die Niedrigzinsen der EZB verursachten Gewinneinbußen durch eine Erhöhung von Konto- und Überweisungsgebühren teilweise auszugleichen.

Das Problem ist schon so weit gediehen, dass ein von der CSU-Landesgruppe verabschiedetes Papier vorsieht, dass der Staat die Sparer künftig direkt unterstützen soll. „Wer für morgen vorsorgen will, braucht heute Unterstützung“, heißt es darin. Unter anderem sollen Banken verpflichtet werden, ein kostenfreies Basiskonto anzubieten. Zudem will die CSU vor allem Langfrist-Sparer steuerlich besser fördern. „Es gibt einen Unterschied zwischen Zocken und Sparen zur Altersvorsorge – und der muss sich auch im Steuerrecht abbilden“, heißt es in dem Papier weiter. Wer eine Aktie oder Anleihe über eine Spekulationsfrist von fünf Jahren halte, solle von der Steuerpflicht freigestellt werden.

Kritik übt die CSU in dem Papier an der Nullzinspolitik der EZB. Langfristige Nullzinsen erschwerten die Altersvorsorge und steigerten die Gefahr von Aktien- und Immobilienblasen. „Deshalb wird es Zeit, dass die EZB die Geldpolitik wieder vom Kopf auf die Füße stellt. Unsere klare Erwartung ist der Einstieg in den Ausstieg aus der Niedrigzinsphase.“

Die infolge der Niedrigzinsen aufgelaufenen Verluste für den Deutschen Sparer gehen in den dreistelligen Milliardenbereich. Eine Untersuchung der DZ Bank für den Zeitraum zwischen 2010 und 2019 kommt zu dem Schluss, dass den deutschen Bürgern etwa 648 Milliarden Euro an Zinseinnahmen verglichen mit dem Zinsniveau vor dem Beginn der expansiven Geldpolitik entgangen sind. Gewinner der Entwicklung gibt es allerdings auch – die Schuldner, welche verglichen mit der Zeit vor der Finanzkrise rund 290 Milliarden Euro weniger an Zinsen zahlen mussten.

Doch die Aufnahme eines Kredits ist in der Regel eine bewusste Entscheidung junger bis mittelalter Menschen – etwa zum Kauf einer Immobilie – während die Zinsverluste auf dem Konto erzwungen werden und zudem die Vorsorge für das Alter massiv erschweren.

Wie wichtig diese Vorsorge jedoch ist, zeigt sich mit Blick auf die bevorstehende Welle an Altersarmut in Deutschland. Die Angst davor ist hierzulande groß: Jeder Zweite hat einer Umfrage zufolge diese Sorge – doch für die private Vorsorge fehlen nach eigener Einschätzung fast ebenso vielen Menschen die Mittel. Das sind Ergebnisse einer Umfrage der Deutsche Bank mit Unterstützung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos.

Demnach hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung die Erkenntnis durchgesetzt, dass die gesetzliche Rente im Ruhestand eher nicht ausreichen wird: „Wir sehen ein ziemlich erschüttertes Vertrauen in die gesetzliche Rente“, sagte Thomas Hörter, Leiter Marktforschung Deutsche Bank. Nur 17 Prozent der 3200 Befragten von 20 bis 65 Jahren erwarten der Umfrage zufolge aus der gesetzlichen Rente im Alter eine ausreichende Versorgung. 70 Prozent glauben dagegen, dass aus dieser Quelle nur eine Grundversorgung kommen wird. Und immerhin die Hälfte (54 Prozent) der Befragten erwartet sogar, dass das gesetzliche Rentensystem über kurz oder lang zusammenbrechen wird.

Selbst bei weiter guter Konjunktur könnte das Armutsrisiko unter Rentnern laut einer Studie in den nächsten 20 Jahren spürbar steigen. Der Anteil davon bedrohter Ruheständler könnte bis 2039 von aktuell 16,8 Prozent auf 21,6 Prozent wachsen, wie Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ergaben. Stark im Fokus seien Menschen mit längerer Arbeitslosigkeit, Alleinstehende und Geringqualifizierte. Studienleiter Christof Schiller sagte: „Selbst bei einer positiven Arbeitsmarktentwicklung müssen wir mit einem deutlichen Anstieg der Altersarmut in den kommenden zwanzig Jahren rechnen.“ Besonders Betroffene müssten noch besser in Arbeit gebracht werden – das führt zu höheren Renten. Nötig seien auch Rentenreformen.

Bei ihrer Berechnung gehen die Forscher unter anderem davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt weiterhin gut entwickelt. Als von Armut bedroht gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat. Laut Studie sind das Menschen, deren monatliches Nettoeinkommen unter 905 Euro liegt.

In Schieflage sind inzwischen auch viele Pensionskassen geraten, welche die den in den Ruhestand entlassenen Angestellten versprochenen Leistungen kürzen müssen. „Pensionskassen sind von der anhaltenden Niedrigzinsphase noch stärker betroffen als Lebensversicherer“, sagte Deutschlands oberste Versicherungsaufseher Frank Grund kürzlich. „Wir brauchen bei einigen Kassen erhebliche Unterstützung der Arbeitgeber als Träger.“

Es gebe zwar eine ganze Zahl von Einrichtungen, bei denen die Arbeitgeber Geld nachschössen, um Kürzungen der Betriebsrenten für die Mitarbeiter zu vermeiden, „Sorgen bereiten uns aber vor allem die Pensionskassen, bei denen es den Arbeitgeber als Träger nicht mehr gibt“, sagte Grund, Chef der Versicherungsaufsicht bei der Finanzaufsicht Bafin. Bei Kassen mit sehr vielen Trägern wiederum sei eine Einigung auf eine Kapitalspritze manchmal schwierig.

Die Finanzaufsicht hat nach wie vor 31 der 135 Pensionskassen unter intensivierter Aufsicht, die von der Zinsflaute besonders betroffen sind und bei denen fraglich ist, ob Träger Geld nachschießen. „Ich gehe davon aus, dass die Zahl bei anhaltender Niedrigzinsphase steigen wird“, sagte Grund. Die Zinsflaute erschwert es den Kassen, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften.

Für Schlagzeilen hatte in der Vergangenheit vor allem die Caritas Pensionskasse gesorgt, die in Turbulenzen geraten war. Die Folge sind Leistungskürzungen für Ruheständler und künftige Pensionäre. Die Kürzungen muss der Arbeitgeber ausgleichen – sofern es ihn noch gibt.

Viele Pensionskassen sind Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. „Bei diesen gibt es zwar keine Insolvenzabsicherung, aber natürlich besteht – wie bei allen Formen der betrieblichen Altersversorgung – die subsidiäre Haftung des Arbeitgebers“, sagte Grund. Im Falle einer Insolvenz des Arbeitgebers drohten bei Leistungskürzungen der Kasse allerdings erhebliche Ausfälle für die Versorgungsberechtigten. Grund fände es positiv, wenn für solche Fälle eine Lösung gefunden würde.

Das Bundesarbeitsministerium hat vorgeschlagen, künftig solle der Pensionssicherungsverein einspringen, wenn eine Pensionskasse ihre Leistungen kürzt und der Arbeitgeber wegen Insolvenz die Differenz nicht ausgleichen kann. Ende 2017 hatten nach jüngsten Daten des Bundesarbeitsministeriums insgesamt 5,03 Millionen aktiv Versicherte Anwartschaften bei einer Pensionskasse. Hinzu kamen etwa 2,24 Millionen Versicherte, für zu dem Zeitpunkt keine

Beiträge an die jeweilige Pensionskasse gezahlt wurden.

Besser stehen aus Sicht der Bafin im Schnitt die Lebensversicherer da. „Wir gehen davon aus, dass die deutschen Lebensversicherer robust genug sind, die nächsten Jahre zu überstehen“, sagte Grund – eine Aussage, die nicht besser geeignet sein könnte, die durch die ultraexpansive Geldpolitik der EZB verursachte Schieflage in den Vorsorgesystemen zu unterstreichen. Wenn nun schon in der Kategorie „Überstehen“ gesprochen wird, muss die Situation tatsächlich ernst sein.

„Die wirtschaftliche Lage ist deutlich besser als bei den Pensionskassen.“ Allerdings halte die Bafin weiter etwa 20 der 83 deutschen Lebensversicherer unter verschärfter Beobachtung und damit etwa ein Viertel.

Grund geht davon aus, dass die Unternehmen auch die Belastungen aus dem Aufbau eines Kapitalpuffers stemmen können, zu dem sie seit 2011 wegen der Zinsflaute verpflichtet sind. Damit werden die hohen Versprechen der Altverträge abgesichert. Der Kapitalpuffer (im Fachjargon Zinszusatzreserve genannt) wird inzwischen zwar langsamer aufgebaut als zu Beginn, allerdings ist das Umfeld für die Unternehmen durch die weiter verschärften Niedrigzinsen nochmals schwieriger geworden. „Wir gehen davon aus, dass in diesem Jahr etwa 9 Milliarden Euro der Zinszusatzreserve zugeführt werden. Das ist deutlich mehr als die zunächst erwarteten 6 Milliarden Euro“, sagte Grund.

Dass die Krankenkassen verglichen mit den Pensionskassen besser dastehen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier das gesamte System aufgrund der nun seit zehn Jahren andauernden Niedrigzinsphase schwere Schläge einstecken musste.

Denn erstmals seit 2015 schließen die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) das Jahr 2019 wieder mit einem großen Verlust ab. „Das Defizit für 2019 wird über eine Milliarde Euro betragen“, sagte die Chefin des GKV-Spitzenverbands, Doris Pfeiffer. Als Grund führte sie unter anderem teure Gesetzesvorhaben der Regierung an. Die meisten Krankenkassen werden Pfeiffer zufolge ihren Zusatzbeitrag 2020 noch nicht erhöhen müssen. Erst ab 2021 werde es wohl zu höheren Beiträgen kommen, sagte sie.

Nach dem ersten Halbjahr 2019 betrug das Minus 544 Millionen Euro, nach den ersten neun Monaten waren es 741 Millionen Euro. Auf Jahressicht ist es der erste Verlust seit 2015. Im Jahr 2018 hatte der Einnahmeüberschuss der Kassen dem Bundesgesundheitsministerium zufolge noch zwei Milliarden Euro betragen.

Nach Angaben des Ministeriums lagen die Finanzrücklagen der Kassen Ende September 2019 bei rund 20,6 Milliarden Euro – etwa dem Vierfachen der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserve. Minister Jens Spahn (CDU) nannte das Minus in den Bilanzen der Kassen Anfang Dezember „ein unechtes Defizit“, das durch Rücklagen-Abbau entstehe. Auf Geheiß der Politik sind die Kassen dazu angehalten. GKV-Chefin Pfeiffer kritisierte damals die Verpflichtung, Reserven „stärker abzubauen, als für eine nachhaltige Finanzplanung geboten wäre“.

Pfeiffer nannte die Entwicklung nun „alarmierend“, weil auch Rekordeinnahmen den Verlust nicht hätten verhindern können. Der Grund dafür seien stark steigende Ausgaben. Die Entwicklung habe sich im Jahresverlauf sogar noch beschleunigt. Dies liege einerseits am medizinischen Fortschritt, andererseits an den teuren Gesetzen der Bundesregierung. „Allein durch das Termin-Servicegesetz und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz kommen auf die Krankenkassen im nächsten Jahr rund fünf Milliarden Euro an Mehrausgaben zu“, sagte Pfeiffer. Weil die meisten Kassen einen Teil ihrer Rücklagen auflösen würden, könnten sie aber ihre Zusatzbeiträge 2020 stabil halten.

„Dass die gesetzlichen Krankenkassen das Jahr mit einem Milliardendefizit abschließen, muss die Alarmglocken schrillen lassen“, erklärte FDP-Fraktionsvize Michael Theurer. Die große Koalition und allen voran Spahn hätten die Leistungen massiv ausgeweitet und die Kosten in die Zukunft verschoben. „Das rächt sich nun und wird bald zu steigenden Beiträgen und damit zusätzlichen Belastungen führen.“

Nach einer im Oktober veröffentlichten Prognose im Auftrag der Bertelsmann Stiftung droht den gesetzlichen Krankenversicherungen im Jahr 2040 ein Minus von fast 50 Milliarden Euro, wenn die Politik nicht frühzeitig gegensteuert. Der Beitragssatz müsste demnach von derzeit 14,6 Prozent bis zum Jahr 2040 schrittweise auf 16,9 Prozent erhöht werden, um erwartete Ausgabensteigerungen abzudecken.

Wie die Autoren vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (Iges) weiterschrieben, ist ein wesentlicher Treiber die demografische Entwicklung – mit einem steigenden Anteil älterer Menschen, die eher Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Vor allem aber sinke mit dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter deren Beitrag zu den GKV-Einnahmen.


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