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MICHAEL BERNEGGER: Erst Abwiegelung, dann Panikmache - Reportage aus einem Corona-Notstandsgebiet

Lesezeit: 7 min
18.03.2020 14:00  Aktualisiert: 18.03.2020 14:00
Erst wiegelt sie ab, dann versetzt sie ein ganzes Land in Panik: Die Schweizer Regierung versagt in der Corona-Krise völlig, schreibt Michael Bernegger. Der in Zürich lebende DWN-Korrespondent liefert eine anschauliche und eindrückliche Beschreibung dessen, was sich in seinem Heimatland derzeit abspielt.
MICHAEL BERNEGGER: Erst Abwiegelung, dann Panikmache - Reportage aus einem Corona-Notstandsgebiet
Fast wie ausgestorben: Der Flughafen Zürich. (dpa)
Foto: Ennio Leanza

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Nach Italien ist die Schweiz gegenwärtig das Land auf der Welt mit der im Verhältnis zur Einwohnerzahl höchsten Zahl von Personen, die mit dem Corona-Virus infiziert sind. Mit Stand 17. März haben sich 2.650 Menschen angesteckt. Auf die Bevölkerung Deutschlands hochgerechnet, wären das rund 27.000. Auf die Bevölkerung Chinas hochgerechnet, wären es 300.000, also viermal mehr, als die offizielle, von den Behörden angegebene Zahl im Reich der Mitte.

Das ist kein Zufall: Die Schweiz grenzt direkt an die vom Virus äußerst stark betroffene Lombardei. Mailand ist 50 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt. Bis vor kurzem pendelten noch rund 70.000 Menschen aus dem Großraum Mailand in den Kanton Tessin zur Arbeit. Viele Italiener sind in anderen Schweizer Kantonen beschäftigt (Kantone entsprechen den deutschen Bundesländern). In den letzten zehn Jahren hat es eine neue Zuwanderungswelle aus dem krisengeplagten Italien gegeben: Ärzte, Krankenschwestern, Studenten. Ingenieure. Bauarbeiter, Staplerfahrer. Das volle Spektrum.

Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden Ländern verzichtete der Bundesrat (die Schweizer Regierung) auf Einreisebeschränkungen, als vor einem Monat die Fallzahlen in Norditalien in die Höhe zu schnellen begannen. Die Schweiz sei ein weltoffenes Land, die Personenfreizügigkeit ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik, war die offizielle Position, vertreten vom zuständigen Chefbeamten für übertragbare Krankheiten. Am Fernsehen traten altgediente Experten auf, welche auf die Harmlosigkeit des neuen Virus verwiesen („Ist wie ein Grippevirus“), und die sich auch gegen Einreise-Beschränkungen für Chinesen aussprachen. Wir dürfen jetzt die Chinesen nicht hängen lassen, so die Begründung. Nur keine Panik: Das war die offizielle Losung des zuständigen sozialdemokratischen Bundesrates Alain Berset, der dem „Eidgenössischen Departement des Inneren“ (EDI/ entspricht dem deutschen Innenministerium) vorsteht.

Die Medienkampagne des Bundesrates und des zuständigen Chefbeamten ist ein Schulbeispiel dafür, wie man es nicht macht. Man beginnt mit einer stupiden Verharmlosung, mit vorgeschickten Experten, die schlichtweg Käse erzählen, und begründet alles mit übergeordneten Zielsetzungen sowie vermeintlichen Sachzwängen. Anschließend macht man eine 180-Grad-Drehung und beschließt innerhalb kürzester Zeit drakonische Maßnahmen (dazu mehr im weiteren Verlauf dieses Textes).

In der Wirtschaft war es zum gleichen Zeitpunkt (als die Politik die Situation noch verharmloste) allerdings schon ganz anders. Die Schweizer Wirtschaft ist sehr eng mit China verflochten. Es gibt viele erfolgreiche Exporteure in der Schweiz und vor allem viele Unternehmen, die Produktions-Niederlassungen in China haben. Unter anderem auch in Wuhan. Bei diesen Unternehmen wurde die Sache ganz anders angepackt: Mitarbeiter oder deren Angehörige, die von dort in die Schweiz zurückkehrten, wurden schon vor einem Monat sofort in eine mehrwöchige Quarantäne versetzt. Dieses Verhalten war äußerst professionell.

Schließlich begannen die Fallzahlen in der Schweiz – den Aussagen der „Experten“ zum Trotz – langsam aber stetig zu steigen. Aus Norditalien kamen immer schlechtere Nachrichten, die sich von Tag zu Tag schleichend zum Horrorszenario auswuchsen. Im Fernsehen und in Zeitungsinterviews waren vermehrt die Stimmen jüngerer Professoren der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) zu hören, welche die Strategie des Bundesrates scharf kritisierten und apokalyptische Extrem-Szenarien als Möglichkeit skizzierten.

Aus meiner Beobachtung begannen zwei Personengruppen mit Verhaltensänderungen. Klassische bürgerliche Frauen begannen unauffällig die Vorräte aufzustocken und weitere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, besonders Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel in großen Mengen zu kaufen. Und ganz besonders Immigranten, vor allem Italiener und Spanier, wurden sehr vorsichtig. In der Toilette beobachte ich einen italienischen Arbeiter, der die Hände und die Unterarme bis zu den Ellbogen einseifte und kunstgerecht die Hände samt Fingernägeln mit warmem Wasser und viel Seife reinigte. Das Ganze, bevor in den Medien die Kampagne für das Händereinigen einsetzte. Diese Leute bilden noch heute eine spezifische Gruppe mit engen Verbindungen zur Heimat. Sie hatten aus der Kommunikation mit Verwandten und Freunden in der Heimat begriffen, was wirklich los war.

In den Medien wurde Covid-19 zwar zum Thema, aber immer noch äußerst kontrovers und häufig wenig sachlich diskutiert. Neben den Alarmisten – vor allem jüngere Virologie- und Epidemiologie-Professoren, die sich scheinbar einen Namen machen wollten - traten Philosophen und Psychologen auf, die das Ganze als virales Phänomen in den Köpfen interpretierten. Die Zeitungen begannen die Berichterstattung zu ändern: Beschrieben die Schrecken in Wuhan. Veröffentlichten schreckenerregende Fotos aus Bergamo und Mailand. Wann reagiert der Bundesrat, fragten sie. Fragte schließlich sogar die „Alte Tante“, die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).

Nun wurde die Unruhe in der Bevölkerung und in der Politik breiter. Politiker aus dem Tessin forderten entschiedene Maßnahmen bis hin zu Grenzsperrungen. Corona wurde zum täglichen Gesprächsthema. Vor allem ältere Leute begannen, darüber zu sprechen und Ängste und Sorgen auszudrücken. In meiner Verwandtschaft sagten viele über 80-Jährige, dass sie wohl sterben müssten, wenn es sie treffen sollte. Viele Personen outeten sich im Gespräch plötzlich als Risikopersonen. Ein Arzt aus meinem Bekanntenkreis teilte mir mit, er habe erhöhten Blutdruck und nähme Blutdrucksenker und sei ganz klar risikoexponiert. Wie im Übrigen rund die Hälfte der über 60-Jährigen. Und das mit der Grippe sei auch gar nicht so harmlos. Es gäbe viele Grippetote, die in der Statistik gar nicht erfasst wären. Im Unterschied zu anderen Krankheiten müssten Mediziner beim Grippetod von Patienten keine Meldung erstatten. Seiner Beobachtung nach würden so etwas nur wenige Ärzte melden.

Die Coronavirus-Fallzahlen begannen zu steigen und erreichten 200, dann 300 und schließlich 500. Die ersten Toten wurden gemeldet. Der zuständige Chefbeamte und sein ihm vorgesetzter Bundesrat waren jetzt fast täglich in Fernsehen und Radio zu hören. Immer noch war Beschwichtigung die Stoßrichtung – ruhig bleiben, nur keine Panik. Hingegen kam die Aufforderung, den öffentlichen Verkehr zu Stoßzeiten zu meiden. Die Presse fing an, sich zu auf das Virus zu fokussieren. Die Aktienmärkte – in der Schweiz wegen der obligatorischen Pensionskassen sehr wichtig für die Altersvorsorge – begannen einzubrechen, genau wie 2008. Da wurde auch die wirtschaftsnahe NZZ plötzlich sehr bestimmt. Sie verlangte vom Bundesrat Führung. Einzelne Kantone begannen, auf eigene Faust Maßnahmen zu ergreifen.

Am Freitag, den 13. März, dann der erste Hammer. Die Bundespräsidentin und weitere Bundesräte traten vor die Presse. Ihre Botschaft: Die Schweiz wird teilweise stillgelegt. Der Schulbetrieb wird auf allen Ausbildungsstufen eingestellt. Betriebe werden teilweise geschlossen. Soziale Kontakte sollen möglichst eingestellt werden. Der Bund legt zehn Milliarden Franken für die Unterstützung der Wirtschaft auf. Die Parteien, Verbände und Medien erklären, geschlossen hinter dem Vorgehen des Bundesrates zu stehen.

Die Anordnungen des Bundesrates sind allerdings überstürzt und teilweise nicht zu Ende gedacht. Auf den Pausenplätzen der Schulen bricht Jubel aus: Jetzt lange Ferien. Mütter hingegen sind in heller Aufregung oder sogar verzweifelt. Viele verheirate oder unverheiratete Paare mit Kindern sind Doppelverdiener. Sonst lässt sich der Lebensstandard nicht halten. Wie sich jetzt organisieren? Ohne Kinderbetreuung wird es unmöglich. Am Wochenende wird in einigen Kantonen Ski gefahren - in anderen wird der Ski-Betrieb eingestellt. In Restaurants und Bars dürfen gemäß Anordnung des Bundesrates bis zu 50 Personen anwesend sein, müssen aber Abstand zueinander halten. Die Partyszene läuft weiter wie bisher: YOLO (You Only Live Once). Am Sonntag ist in Zürich alles wie normal, die Cafés sind geöffnet und stark frequentiert.

Am Montag, den 16. März, dann der zweite Hammer: Der Notstand wird ausgerufen. Das öffentliche Leben wird drastisch eingeschränkt, die Armee teilmobilisiert. Die Grenzen werden dichtgemacht. Alle Geschäfte außer Lebensmittel-Läden, Apotheken, Banken und Tankstellen werden geschlossen. Restaurants, Bars, das ganze Gastgewerbe: alles zu. Die über 65-Jährigen müssen zu Hause bleiben, werden quasi unter Quarantäne gestellt. Der Innenminister, der vorher wieder und wieder beschwichtigt hatte, tritt jetzt als Scharfmacher auf. Spricht von Illegalität und Strafmaßnahmen, wenn gegen Anordnungen verstoßen wird.

Die Medien überschlagen sich: Jetzt ist jeder Einzelne für das Ganze gefordert. Töne wie bei der nationalen Mobilisierung für einen Krieg. Die Medien berichten jetzt pausenlos über grässliche Aussichten im Gesundheitssektor. Ohne drastische Maßnahmen könnten Patienten nicht mehr versorgt werden. Ärzte müssten sofort bei Einlieferung über Leben und Tod entscheiden. Schauerliche Einspielungen aus Norditalien untermauern das Ganze.

Die Panik, die man vorher unbedingt vermeiden wollte, bricht jetzt auf breiter Basis aus. Schock und Panik sind das Ergebnis der Verharmlosung und des Nichtstuns vorher und der überstürzten Kehrtwende nachher. Der Innenminister fordert Solidarität und einen Verzicht auf Hamsterkäufe. Es gebe für alle genug. Basierend auf der Erfahrung rennen Krethi und Plethi in die Supermärkte und stürmen die Regale, die als Folge innerhalb kurzer Zeit gähnend leer sind.

Neben den Hamsterkäufen tritt ein zweites Phänomen auf: Nackte Todesangst macht sich breit. Vor allem bei den Älteren. Beim sonntäglichen Spaziergang am Sonntag in der Sonne sagt niemand mehr Grüezi. Alle, vor allem Ältere. laufen stumm aneinander vorbei, um einen möglichen Speicheltröpfchen-Austausch zu vermeiden. Der Andere, der Fremde ist der mögliche Todesbringer. Verwandte rufen sich gegenseitig an, mahnen zur größten Vorsicht und raten Onkel und Eltern zur kompletten Abschottung. Angst und völlige Isolation sind allerdings schlechte Ratgeber gegen Viren. Tägliche Spaziergänge an der Sonne und frischen Luft ohne sozialen Kontakt sind besser. Die Luft ist ohnehin so gut wie schon lange nicht mehr, kein Wunder – Autos sieht man kaum noch.

Die Panik ist nicht offen und lärmig, sondern unterdrückt oder ganz leise. Am Sonntag hat meine Tochter aus dem Nichts einen Panikanfall, hyperventiliert und muss notfallmäßig ins Spital. Sie kann nach kurzer Zeit entlassen werden.

Die zweite spezifische Panik nach dem ersten allgemeinen Schock kommt beim Gewerbe. Bei Selbständigen und deren Angestellten, bei Teilzeit-Beschäftigten und Stundenlöhnern. Wie sollen die Rechnungen Ende März oder Ende April bezahlt werden, wenn keine Einnahmen mehr da sind? Bei vielen, effektiv den meisten, geht es um die nackte Existenz. Die zehn Milliarden werden da niemals ausreichen.

Zwei andere Gruppen haben ebenso Panik. Zum einen die Ausländer – viele haben mit harter Arbeit ein Kleinunternehmen aufgebaut. Zum anderen die Angestellten und die Führungskräfte in der Finanzindustrie. Alle wissen, was jetzt kommen könnte: Massenentlassungen und Personalabbau. Der Absturz vom komfortablen Oberschichts-Leben in die Arbeitslosigkeit, ins wirtschaftliche und gesellschaftliche Nichts droht. Noch mal zu den Ausländern: Sie befürchten die Abschiebung – 35 Prozent der Beschäftigten in der Schweiz sind Ausländer.

Kurzer Besuch in einer Werkstatt, die jetzt bis auf Weiteres geschlossen bleiben muss. Drei Angestellte, alle Ausländer, alle perfekt Zürichdeutsch sprechend, reden vom möglichen Konkurs.

Tenor: Sie, die Europäische Union und die Schweizer Regierung, haben es vergeigt. Sie hätten die Einreise aus China und aus Italien schon bei der ersten Welle in Wuhan, in Mailand/Bergamo unterbinden müssen. Stattdessen jetzt diese katastrophale Zuspitzung und diese ruinösen Maßnahmen. Statt temporärer Maßnahmen, die das große Unglück hätten aufhalten können, jetzt das permanente, wohl endgültige Ende der Personenfreizügigkeit, mit drohenden Abschiebungen.

Nicht alle haben Angst und sind paralysiert. Zahlreiche Unternehmen haben schon in den vergangenen Wochen die Beschäftigten zur Arbeit im Home Office aufgefordert. Plötzlich sind Anbindung ans interne System des Unternehmens und Sicherheitslösungen möglich und werden zur Verfügung gestellt. Zoom. Teams und andere Software-Lösungen werden eifrig ausprobiert, auch von den nach Hause geschickten Mittelschülern. Eine Konsequenz der Ausnahmesituation wird das Fortschreiten der Digitalisierung und die Zunahme der Arbeit im Home Office sein.

Auf den Spielplätzen herrscht unterdes gewaltiger Ramba-Zamba. Dutzende von Kindern befinden sich auf dem gleichen Platz. Fahren Velo, spielen Hasch mich, balgen sich. Pure Vitalität und Lebenslust. Die Schulschließungen hatten das Ziel, die Ansteckung der Kinder untereinander zu verhindern, bewirkt haben sie eher das Gegenteil. Ein Dreikäsehoch klärt mich unaufgefordert auf, dass alle jetzt das Coronavirus haben müssten, um geimpft zu werden. Er hat da wohl etwas durcheinander bekommen. Ich lobe ihn trotzdem für seine Aufgewecktheit.

Es ist schon komisch: Ein ganzes Land ergibt sich der Panik: Aber junge Mütter lassen ihre Kinder noch auf dem Spielplatz toben.

Ich sage dem kleinen Jungen Adé, gehe nach Hause und fange an, diesen Artikel zu schreiben.


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