Fahrermangel frisst Europa: Die unterschätzte Krise hinter den Lieferketten
Mehr als die Hälfte der Lkw-Fahrer in Europa ist älter als 50 Jahre, in zahlreichen Ländern sind sogar 40 Prozent über 55 Jahre alt. Der europäische Straßengüterverkehr, der etwa 75 Prozent aller innergemeinschaftlichen Transporte in der Europäischen Union ausmacht, leidet seit Jahren unter einem Fahrermangel. Laut Angaben der Internationalen Straßentransportunion (IRU) fehlen derzeit rund 426.000 Fahrer – fast doppelt so viele wie vor zwei Jahren.
Noch besorgniserregender sind laut IRU der Alterungstrend und der äußerst geringe Anteil junger Fahrer. Heute ist bereits mehr als die Hälfte aller Lkw-Fahrer älter als 50 Jahre. In einigen Ländern, etwa in Spanien, gehört jeder zweite Fahrer der Altersgruppe unmittelbar vor dem Ruhestand an. In vielen Staaten hat der Anteil der über 55-jährigen Fahrer bereits 40 Prozent überschritten. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden laut IRU bis zum Jahr 2029 fast 20 Prozent der heutigen Fahrer in Rente gehen – ohne dass es jemanden gibt, der sie ersetzen könnte.
Die neue Generation bzw. junge Menschen machen um diesen Beruf einen großen Bogen. Europa steuert damit auf eine strukturelle und langanhaltende Personalkrise zu, die die Zuverlässigkeit der Lieferketten, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die nachhaltige Entwicklung gefährdet, schreiben Experten von Transport Intelligence. Beide Quellen nennen als Hauptgrund für den Personalmangel die mangelnde Attraktivität des Berufs für junge Menschen. Der Anteil der Fahrer unter 25 Jahren liegt im Durchschnitt bei weniger als sieben Prozent – in Italien lediglich bei 2,2 Prozent, in Deutschland bei 2,6 Prozent, in Polen und Spanien bei rund drei Prozent. Laut IRU werden bis 2029 bei Fortsetzung des aktuellen Trends fast 20 Prozent der heutigen Fahrer in Rente gehen, und neue Kräfte werden die freien Stellen nicht besetzen.
Was Frauen vom Beruf der Lkw-Fahrerin abschreckt
Der Beruf des Lkw-Fahrers ist bei Frauen noch unbeliebter, da ihr Anteil lediglich vier Prozent beträgt. Auf 24 Männer am Steuer eines Lkw kommt also nur eine Frau. Fachleute sind überzeugt, dass eine stärkere Einbindung von Frauen den Mangel deutlich abmildern könnte.
Die Gründe für die Ablehnung dieses Berufs liegen häufig in ungeeigneten Arbeitsbedingungen, einem Mangel an geeigneter Infrastruktur (Sanitäreinrichtungen, sichere Parkplätze) und nach wie vor bestehenden Vorurteilen gegenüber diesem „Männerberuf“. Zu den wichtigsten Gründen für die Unbeliebtheit zählt auch der zu hohe Preis und die anspruchsvolle Erlangung des Führerscheins. Vor allem junge Menschen ohne Beschäftigung können sich das schlichtweg nicht leisten.
Führerscheinkosten: Das Dreifache des Mindestlohns
In einigen europäischen Ländern übersteigen die Kosten für den Erwerb eines Lkw-Führerscheins das Dreifache des Mindestlohns. Außerdem ist es in vielen Staaten nicht möglich, eine internationale Fahrerqualifikation vor dem vollendeten 21. Lebensjahr zu erwerben – was den Berufseinstieg zusätzlich hinauszögert. „Ein junger Mensch entscheidet sich nach der Schule daher lieber für einen anderen Berufsweg, der schneller und weniger riskant ist“, heißt es aus der Branche. Viele Transportunternehmen reduzieren deshalb aufgrund von Personalengpässen bereits ihren Geschäftsumfang, führen Beschränkungen bei der Annahme neuer Verträge ein oder erhöhen die Preise ihrer Dienstleistungen.
Einige Länder haben zur Unterstützung der Branche bereits damit begonnen, das Mindestalter für die Ausbildung auf 17 Jahre zu senken und ermöglichen Praktika mit einem Mentor ab 18 Jahren. Mancherorts übernehmen die Transportunternehmen selbst die Ausbildungskosten für neue Bewerber – ein notwendiger, aber nicht ausreichender Schritt. Die IRU ruft zu einer koordinierten europäischen Strategie auf, die die Mitfinanzierung von Führerscheinen, systematische Kampagnen zur Förderung des Berufsbilds unter jungen Menschen und Frauen sowie die Verbesserung der Arbeitsbedingungen – insbesondere der infrastrukturellen Ausstattung von Rastplätzen und Parkplätzen – umfassen soll.
Technologie bringt keine kurzfristige Lösung
Die Automatisierung im Straßengüterverkehr und autonome Fahrzeuge bieten langfristig eine teilweise Lösung des Problems. Doch Spediteure weisen darauf hin, dass der flächendeckende Einsatz autonomer Fahrzeuge noch in weiter Ferne liegt. Zudem wird diese Technologie vermutlich sehr teuer und wenig zugänglich sein – und daher kurzfristig nicht in der Lage, Zehntausende fehlende Berufskraftfahrer zu ersetzen. Darüber hinaus kann die Automatisierung nicht alle Aufgaben übernehmen, die ein Fahrer ausführt. Dies gilt insbesondere für die Kommunikation mit Kunden sowie das Be- und Entladen von Waren.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der Beruf des Lkw-Fahrers verliert rasant an Nachwuchs und steht vor einem massiven demografischen Umbruch. Weder junge Menschen noch Frauen strömen in ausreichendem Maße nach, und technische Lösungen wie autonome Lkw sind kurzfristig keine Alternative. Der Fahrermangel in Europa ist damit keine Randerscheinung, sondern eine strukturelle Bedrohung für Logistik, Wirtschaft und Versorgungssicherheit. Die EU muss dringend handeln – mit einer koordinierten Strategie, die Ausbildung, Arbeitsbedingungen und Image des Berufs grundlegend verbessert. Fahrermangel in Europa ist das Schlüsselthema für Politik und Wirtschaft.